Ich erinnere mich nicht, meinem Vater mit Fragen nach „seiner Rolle“ im 3. Reich gelöchert zu haben. Viele der 68er sollen das ja anders gehandhabt haben. Ich glaube, ich habe schon als Junge verstanden, dass er nach 10 jähriger Zwangsabwesenheit weit weg von zu Hause ungern an diese Zeit erinnert werden wollte.
Die 10 Jahre teilten sich auf in 5 Jahre als Soldat und nochmal 5 Jahre als russischer Kriegsgefangener. 1939 war er eingezogen worden, 1949 kehrte er nach Hause zurück. Mein Vater war ein lebenslustiger Mann – trotz seiner zahlreichen Verletzungen, von denen längst nicht alle sichtbar waren. Trotz der Parkinsonerkrankung, die ihn ab Mitte seiner 70er Jahre quälte, hat er sein Leben gemeistert. Er war beliebt und hatte viele Freunde. Auch als Chef haben ihn seine Kollegen gemocht – jedenfalls, soweit ich das beurteilen konnte. Für uns Kinder war er Autorität und Vorbild in einem.
Alice Greschkow aus Berlin hat vor ein paar Tagen einen sehr schönen und klugen Artikel geschrieben, den ich euch zur Lektüre ans Herz legen möchte. LINK
Er erzählte selten über den Krieg und die Gefangenschaft. Manchmal, wenn Alkohol im Spiel war, kam es vor, dass wir kurze Geschichten hörten. Manchmal waren sie lustig, manchmal aber auch so, dass ich nicht recht wusste, ob ich weinen oder lachen sollte. Es kam vor, dass er unvermittelt zu weinen anfing. Es war seltene Gefühlsausbrüche, die ich wohl auch deshalb nie vergessen habe.
Wir fanden Kinder fanden manches komisch: Da war von einer toten Katze die Rede, die ein deutscher Gefangener, der früher einmal Koch gelernt hatte, in eine köstliche Mahlzeit verwandelt hat. Wir konnten nicht verstehen, was es bedeutete, dass die Männer sich die meiste Zeit von Brennnesselsuppe ernährten – ohne auch nur einen Hauch von Fleisch oder Fett.
Heute verstehe ich, weshalb mein Vater sauer wurde, wenn wir Kinder samstags unsere Bohnen- oder Gemüsesuppen wieder mal partout nicht essen mochten. Er sagte dann: „Dafür wären wir zu Fuß bis nach Köln gelaufen“. Viele werden ähnliche Sprüche von ihren Vätern wohl auch gehört haben. Er konnte überhaupt nicht leiden, wenn wir unser Essen mal wieder nicht zu schätzen wussten.
Dann gab es die bedrückenden Geschichten. Solche, in den er erzählte, wie neben ihm Freunde fielen, wenn sie russische Stellungen angegriffen haben. Oder, wenn er davon sprach, wie groß seine Angst gewesen ist, wenn sie am Abend das Gerücht hörten, dass am nächsten Morgen ein Angriff auf die russischen Stellungen stattfinden sollte, aus dem Schützengraben heraus zu müssen, um ohne irgendeine Deckung auf die feindlichen Stellungen zuzulaufen.
Ich habe meinen Vater gefragt, ob er (der MG-Schütze bei der Infanterie und als einfacher Dienstrang EK1- und EK2-Träger war) Menschen erschossen habe. Darauf hat er mir geantwortet, dass er über die Köpfe hinweg geschossen habe. Natürlich! Was sonst? Ich war mit seiner Antwort jedenfalls zufrieden. Damals war ich vielleicht so zehn Jahre alt.
Meine Mutter ist 1932 geboren. 1949 lernten meine Eltern sich kennen. Meine Mutter war 13 Jahre alt, als der Krieg endlich zu Ende war, mein Vater wurde 23. Als er nach Hause zurückkehrte war er fast 29 Jahre alt. Ich habe mir manchmal Gedanken darüber gemacht, wie es für ihn gewesen sein muss, diese Lebensjahre unwiederbringlich verloren zu haben. Für wen zählt dieses Alter nicht zu den schönsten Lebenserinnerungen? Diese Generation musste auf sie verzichten und kaum jemand wird davon erfahren haben, was all diese Männer in den vielen Ländern, die in diesen verdammten Krieg geschickt wurden, erlebt haben, wie sehr ihre Seelen Schaden genommen haben.
Ich war noch klein, aber ich habe trotzdem Erinnerungen an manche Phasen der Kuba-Krise. Meine Vater machte sich so große Sorgen, dass ein Krieg ausbrechen könnte. Er war viel ruhiger als normalerweise, es war die pure Angst.
Das Verhalten meines Vaters, nicht nur in dieser Situation, die mir so gut in Erinnerung geblieben ist, sondern auch seine zwar wenigen aber sehr intensiven Erzählungen über den Krieg haben mich in dieser Hinsicht geprägt. Je näher einem Personen stehen, die einen Krieg und die „Begleitumstände“ selbst miterleben mussten, desto sicherer wird man davon ausgehen können, dass eine entschlossene Gegnerschaft zu allem, was damit und mit dem 3. Reich zu tun hat, ausgeprägt wurde. In meinem Fall ist das so. Aber ich weiß, dass es auch unter denen, die nach meiner kleinen Theorie ähnlich wie ich denken sollten, Leute gibt, die ganz anders dazu stehen.
Ich unterhalte mich gern mit alten Menschen über alte Zeiten, nicht erst, seit ich selbst etwas älter bin. Die Zeitzeugen fallen langsam aber sicher aus. Insofern sind die Gespräche für mich umso wertvoller. Das chinesische Sprichwort: „Eine gut erzählte Geschichte macht aus den Ohren Augen“ bringt es auf den Punkt.
Menschen, die gut erzählen können, lassen Bilder in unseren Köpfen entstehen, die vielleicht noch etwas stärkere Wirkung entfalten, als es ein Buch vermag. Mein Vater konnte das wie kaum jemand, den ich in meinem Leben kennengelernt habe.
Ich habe meinen Vater danach gefragt, ob er als Jugendlicher (er war im Jahr der Machtergreifung Hitlers 11 Jahre alt) mitbekommen hätte, wie der Staat gegen Juden vorgegangen sei. Er und sein Zwillingsbruder, der in Stalingrad gefallen ist, waren – wie seine beiden anderen Brüder – begeisterte Mitglieder der Hitlerjugend. Ich habe noch alte Fotografien, die beide in den üblichen Uniformen zeigte.
Es gibt (alte) Menschen, die diese Zeit verklären. Es kann schwer sein, bei ihnen auch nur einen Hauch kritischer Reflexion zu finden. Das finde ich anstrengend. Zum Glück gibt es auch andere.
Mein Vater hat nie gesagt, er habe von alledem nichts gewusst. Andererseits sind mir nur zwei Geschichten in Erinnerung, die mein Vater mir zu diesem Thema erzählt hat. Beide enthalten nur verschwommene, unklare Bilder, die wenig darüber aussagen, wie mein Vater als Jugendlicher und junger Mann über die Verfolgung und Ermordung der Juden während des Nazi-Regimes gedacht hat.
In Bedburg lebten vor dem Krieg etwa 50 Juden. Ob sie, wie erzählt wurde, tatsächlich Geschäftsleute waren, kann ich nicht beurteilen.
Jüdische Bewohner in Bedburg hat es nachweislich seit dem 18.Jahrhundert gegeben, doch erst im 19.Jahrhundert kann von einer nennenswerten Anzahl ausgegangen werden. Dabei handelte es sich bei den jüdischen Zuwanderern auch um solche Familien, die für die ökonomische Entwicklung des Ortes eine sehr große Rolle spielten: Eine der einflussreichsten und wohlhabendsten Familien des Rheinlandes war die in Bedburg ansässige Familie Silverberg, die eines der größten Bergbauunternehmen besaß.Quelle: Bedburg (Nordrhein-Westfalen) | LINK
Quelle: Bedburg (Nordrhein-Westfalen) | LINK
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Zu Beginn der NS-Zeit lebten in Bedburg etwa 50 Bürger jüdischen Glaubens. In den Novembertragen des Jahres 1938 mussten die Juden Demütigungen, Misshandlungen und die Zerstörung ihrer Wohnungen über sich ergehen lassen. Besonders heftig traf es das Haus der Kaufmanns Franken; hier hatte der Mob die Fensterscheiben eingeschlagen, die Eingangstür aus den Angeln gehoben und auf die Straße geworfen, anschließend wütete die Menge im Haus. Auch die Inneneinrichtung des Synagogenraumes wurde von NS-Anhängern vernichtet. Aus einem Bericht des Bürgermeisters vom 16.11.1938:„ … Antijüdische Aktionen fanden in Bedburg am Donnerstag, den 10.11.1938 abends zwischen 18 u. 18.30 Uhr statt. Die Demonstranten drangen zunächst in die in der Salmstraße gelegene Synagoge ein und zertrümmerten dort die Inneneinrichtung vollständig. Die jüdischen Kultgegenstände wurden zum Adolf-Hitler-Platz gebracht und dort verbrannt.”Quelle: Bedburg (Nordrhein-Westfalen) | LINK
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Mein Vater erzählte mir von einem jüdischen Mann, der zwischen dem Möbelhaus Jacobs und dem Hörgerätegeschäft einen kleinen Laden besaß. Auf der Ladentheke befanden sich mehrere große Gläser mit Bonbons. Ein paar davon kauften mein Vater und seine Freude sich ab und zu. Mehr wusste er über den Mann nicht zu berichten. Das waren Kindheitserinnerungen. Eines Tages war das Geschäft geschlossen. Den wahren Grund hat mein Vater später erfahren. Der Mann hatte sich in seinem Haus erhängt. Dass es mit den staatlichen Repressalien zu tun hatte, war für meinen Vater klar. Ob die Bedburger Gesellschaft eine Rolle gespielt hat, war für ihn kein Thema.
Der heute noch existierende jüdische Friedhof wurde von 1832 bis 1939 benutzt. Mit anderen Worten: Das über 100jährige Zusammenleben von Christen und Juden wurde von der rassistischen Nazi-Ideologie übergangen und am Ende jüdische Menschen von ihren deutschen Landsleuten ermordet.
Nur, weil es jemand befohlen hat?
Ich mag nicht, wenn wir heute immer von Nazi-Deutschland oder der Nazi-Gewaltherrschaft reden. Die, von denen diese Gewalt ausgegangen ist, waren wir Deutsche. Eine andere Generation aber es waren unsere Verwandten, unsere Väter und Großväter. Darunter befanden sich zu viele, die nach dem Krieg von alledem nichts gewusst haben wollen.
Nazis waren sie, deutsche Nazis. Nur wollen sie nach dem Ende der Schreckensherrschaft so nicht mehr gesehen und schon gar nicht bezeichnet werden.
Mein Vater erzählte mir, dass er anlässlich eines Fronturlaubs auf seinem Weg nach Hause im Zug ein Gespräch zwischen SS-Leuten mitbekommen hat. Darin war von Konzentrationslagern die Rede. Er erzählte, er hätte diesen Begriff vorher noch nie gehört. Das Ganze soll 1942 stattgefunden haben. Ich habe ihm das nicht geglaubt! Aber diskutieren wollte ich das auch nicht.
Alle älteren Menschen mit denen ich gesprochen habe und von denen ich annahm, dass sie ein Bewusstsein für die Zeit haben müssen, äußerten sich unverbindlich, nebulös. Alle verurteilen, was geschehen ist. Aber es wirkt, als habe es weder Nazis gegeben noch die Leute, die ein schlechtes Gewissen hatten, weil sie (vielleicht) inaktiv daneben standen.
Der Kölner Stadt-Anzeiger hat heute einige interessante Daten veröffentlicht, die belegen, wie systematisch die Nazis, die im Januar 1933 an die Macht kamen, den Holocaust mit zahllosen Gesetzen vorbereitet haben.
Ich will diese Fakten hier nicht detailliert aufführen. Aber einige Stichpunkte aus der Schreckensliste möchte ich als Beweis dafür verstehen, dass es schlechterdings unmöglich ist, dass (auch ohne freie Presse oder Internet) die Leute von diesen Maßnahmen ihrer gewählten Regierung nichts mitbekommen haben – zumal die Presse damals auf Weisung der Partei diese „Informationen“ ganz bestimmt auch veröffentlicht hat:
15.03.1933 | Zuwanderung von Ostjuden abwehren |
22.03.1933 | Sachsen verbietet das Schächten von Schlachttieren |
27.03.1933 | Köln untersagt die Berücksichtigung jüdischer Firmen bei öffentlichen Ausschreibungen |
31.03.1933 | Köln untersagt jüdischen Sportlern die Benutzung öffentlicher Sportplätze |
01.04.1933 | NSDAP ruft zum eintätigen Boykott jüdischer Geschäfte auf. |
[…] | |
11.04.1933 | Die Stadtverwaltung von Köln ordnet an, dass Rechnungen jüdischer Ärzte nicht mehr bezahlt werden |
08.05.1933 | In Zweibrücken dürfen Juden keine Stände mehr auf Jahrmärkten aufbauen |
10.1933 | Juden werden mit Hilfe des „Schriftleitergesetzes“ aus den Presseberufen entfernt. |
[symple_spacing size=“20″]Bis 1945 wurden fast 2000 Gesetze, Verfügungen und Verordnungen gegen Juden erlassen.
Hier kann man mehr über das Vorgehen der Nazis finden:
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1 Gedanke zu „Die Erinnerungen jeder Generation sind wertvoll“