Die Erinnerungen jeder Generation sind wertvoll

HS230625

Horst Schulte

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Ich erin­ne­re mich nicht, mei­nem Vater mit Fra­gen nach „sei­ner Rol­le“ im 3. Reich gelö­chert zu haben. Vie­le der 68er sol­len das ja anders gehand­habt haben. Ich glau­be, ich habe schon als Jun­ge ver­stan­den, dass er nach 10 jäh­ri­ger Zwangs­ab­we­sen­heit weit weg von zu Hau­se ungern an die­se Zeit erin­nert wer­den wollte.

Die 10 Jah­re teil­ten sich auf in 5 Jah­re als Sol­dat und noch­mal 5 Jah­re als rus­si­scher Kriegs­ge­fan­ge­ner. 1939 war er ein­ge­zo­gen wor­den, 1949 kehr­te er nach Hau­se zurück. Mein Vater war ein lebens­lus­ti­ger Mann – trotz sei­ner zahl­rei­chen Ver­let­zun­gen, von denen längst nicht alle sicht­bar waren. Trotz der Par­kin­son­er­kran­kung, die ihn ab Mit­te sei­ner 70er Jah­re quäl­te, hat er sein Leben gemeis­tert. Er war beliebt und hat­te vie­le Freun­de. Auch als Chef haben ihn sei­ne Kol­le­gen gemocht – jeden­falls, soweit ich das beur­tei­len konn­te. Für uns Kin­der war er Auto­ri­tät und Vor­bild in einem.

Ali­ce Gresch­kow aus Ber­lin hat vor ein paar Tagen einen sehr schö­nen und klu­gen Arti­kel geschrie­ben, den ich euch zur Lek­tü­re ans Herz legen möch­te. LINK

Er erzähl­te sel­ten über den Krieg und die Gefan­gen­schaft. Manch­mal, wenn Alko­hol im Spiel war, kam es vor, dass wir kur­ze Geschich­ten hör­ten. Manch­mal waren sie lus­tig, manch­mal aber auch so, dass ich nicht recht wuss­te, ob ich wei­nen oder lachen soll­te. Es kam vor, dass er unver­mit­telt zu wei­nen anfing. Es war sel­te­ne Gefühls­aus­brü­che, die ich wohl auch des­halb nie ver­ges­sen habe.

Wir fan­den Kin­der fan­den man­ches komisch: Da war von einer toten Kat­ze die Rede, die ein deut­scher Gefan­ge­ner, der frü­her ein­mal Koch gelernt hat­te, in eine köst­li­che Mahl­zeit ver­wan­delt hat. Wir konn­ten nicht ver­ste­hen, was es bedeu­te­te, dass die Män­ner sich die meis­te Zeit von Brenn­nes­sel­sup­pe ernähr­ten – ohne auch nur einen Hauch von Fleisch oder Fett.

Heu­te ver­ste­he ich, wes­halb mein Vater sau­er wur­de, wenn wir Kin­der sams­tags unse­re Boh­nen- oder Gemü­se­sup­pen wie­der mal par­tout nicht essen moch­ten. Er sag­te dann: „Dafür wären wir zu Fuß bis nach Köln gelau­fen“. Vie­le wer­den ähn­li­che Sprü­che von ihren Vätern wohl auch gehört haben. Er konn­te über­haupt nicht lei­den, wenn wir unser Essen mal wie­der nicht zu schät­zen wussten.

Dann gab es die bedrü­cken­den Geschich­ten. Sol­che, in den er erzähl­te, wie neben ihm Freun­de fie­len, wenn sie rus­si­sche Stel­lun­gen ange­grif­fen haben. Oder, wenn er davon sprach, wie groß sei­ne Angst gewe­sen ist, wenn sie am Abend das Gerücht hör­ten, dass am nächs­ten Mor­gen ein Angriff auf die rus­si­schen Stel­lun­gen statt­fin­den soll­te, aus dem Schüt­zen­gra­ben her­aus zu müs­sen, um ohne irgend­ei­ne Deckung auf die feind­li­chen Stel­lun­gen zuzulaufen.

Ich habe mei­nen Vater gefragt, ob er (der MG-Schüt­ze bei der Infan­te­rie und als ein­fa­cher Dienst­rang EK1- und EK2-Trä­ger war) Men­schen erschos­sen habe. Dar­auf hat er mir geant­wor­tet, dass er über die Köp­fe hin­weg geschos­sen habe. Natür­lich! Was sonst? Ich war mit sei­ner Ant­wort jeden­falls zufrie­den. Damals war ich viel­leicht so zehn Jah­re alt.

Mei­ne Mut­ter ist 1932 gebo­ren. 1949 lern­ten mei­ne Eltern sich ken­nen. Mei­ne Mut­ter war 13 Jah­re alt, als der Krieg end­lich zu Ende war, mein Vater wur­de 23. Als er nach Hau­se zurück­kehr­te war er fast 29 Jah­re alt. Ich habe mir manch­mal Gedan­ken dar­über gemacht, wie es für ihn gewe­sen sein muss, die­se Lebens­jah­re unwie­der­bring­lich ver­lo­ren zu haben. Für wen zählt die­ses Alter nicht zu den schöns­ten Lebens­er­in­ne­run­gen? Die­se Gene­ra­ti­on muss­te auf sie ver­zich­ten und kaum jemand wird davon erfah­ren haben, was all die­se Män­ner in den vie­len Län­dern, die in die­sen ver­damm­ten Krieg geschickt wur­den, erlebt haben, wie sehr ihre See­len Scha­den genom­men haben.


Ich war noch klein, aber ich habe trotz­dem Erin­ne­run­gen an man­che Pha­sen der Kuba-Kri­se. Mei­ne Vater mach­te sich so gro­ße Sor­gen, dass ein Krieg aus­bre­chen könn­te. Er war viel ruhi­ger als nor­ma­ler­wei­se, es war die pure Angst.

Das Ver­hal­ten mei­nes Vaters, nicht nur in die­ser Situa­ti­on, die mir so gut in Erin­ne­rung geblie­ben ist, son­dern auch sei­ne zwar weni­gen aber sehr inten­si­ven Erzäh­lun­gen über den Krieg haben mich in die­ser Hin­sicht geprägt. Je näher einem Per­so­nen ste­hen, die einen Krieg und die „Begleit­um­stän­de“ selbst mit­er­le­ben muss­ten, des­to siche­rer wird man davon aus­ge­hen kön­nen, dass eine ent­schlos­se­ne Geg­ner­schaft zu allem, was damit und mit dem 3. Reich zu tun hat, aus­ge­prägt wur­de. In mei­nem Fall ist das so. Aber ich weiß, dass es auch unter denen, die nach mei­ner klei­nen Theo­rie ähn­lich wie ich den­ken soll­ten, Leu­te gibt, die ganz anders dazu stehen.

Ich unter­hal­te mich gern mit alten Men­schen über alte Zei­ten, nicht erst, seit ich selbst etwas älter bin. Die Zeit­zeu­gen fal­len lang­sam aber sicher aus. Inso­fern sind die Gesprä­che für mich umso wert­vol­ler. Das chi­ne­si­sche Sprich­wort: „Eine gut erzähl­te Geschich­te macht aus den Ohren Augen“ bringt es auf den Punkt.

Men­schen, die gut erzäh­len kön­nen, las­sen Bil­der in unse­ren Köp­fen ent­ste­hen, die viel­leicht noch etwas stär­ke­re Wir­kung ent­fal­ten, als es ein Buch ver­mag. Mein Vater konn­te das wie kaum jemand, den ich in mei­nem Leben ken­nen­ge­lernt habe.


Ich habe mei­nen Vater danach gefragt, ob er als Jugend­li­cher (er war im Jahr der Macht­er­grei­fung Hit­lers 11 Jah­re alt) mit­be­kom­men hät­te, wie der Staat gegen Juden vor­ge­gan­gen sei. Er und sein Zwil­lings­bru­der, der in Sta­lin­grad gefal­len ist, waren – wie sei­ne bei­den ande­ren Brü­der – begeis­ter­te Mit­glie­der der Hit­ler­ju­gend. Ich habe noch alte Foto­gra­fien, die bei­de in den übli­chen Uni­for­men zeigte.

Es gibt (alte) Men­schen, die die­se Zeit ver­klä­ren. Es kann schwer sein, bei ihnen auch nur einen Hauch kri­ti­scher Refle­xi­on zu fin­den. Das fin­de ich anstren­gend. Zum Glück gibt es auch andere.

Mein Vater hat nie gesagt, er habe von alle­dem nichts gewusst. Ande­rer­seits sind mir nur zwei Geschich­ten in Erin­ne­rung, die mein Vater mir zu die­sem The­ma erzählt hat. Bei­de ent­hal­ten nur ver­schwom­me­ne, unkla­re Bil­der, die wenig dar­über aus­sa­gen, wie mein Vater als Jugend­li­cher und jun­ger Mann über die Ver­fol­gung und Ermor­dung der Juden wäh­rend des Nazi-Regimes gedacht hat.

In Bedburg leb­ten vor dem Krieg etwa 50 Juden. Ob sie, wie erzählt wur­de, tat­säch­lich Geschäfts­leu­te waren, kann ich nicht beurteilen.

Jüdi­sche Bewoh­ner in Bedburg hat es nach­weis­lich seit dem 18.Jahrhundert gege­ben, doch erst im 19.Jahrhundert kann von einer nen­nens­wer­ten Anzahl aus­ge­gan­gen wer­den. Dabei han­del­te es sich bei den jüdi­schen Zuwan­de­rern auch um sol­che Fami­li­en, die für die öko­no­mi­sche Ent­wick­lung des Ortes eine sehr gro­ße Rol­le spiel­ten: Eine der ein­fluss­reichs­ten und wohl­ha­bends­ten Fami­li­en des Rhein­lan­des war die in Bedburg ansäs­si­ge Fami­lie Sil­ver­berg, die eines der größ­ten Berg­bau­un­ter­neh­men besaß.Quel­le: Bedburg (Nord­rhein-West­fa­len) | LINK

Quel­le: Bedburg (Nord­rhein-West­fa­len) | LINK

[…]

Zu Beginn der NS-Zeit leb­ten in Bedburg etwa 50 Bür­ger jüdi­schen Glau­bens. In den Novem­ber­tra­gen des Jah­res 1938 muss­ten die Juden Demü­ti­gun­gen, Miss­hand­lun­gen und die Zer­stö­rung ihrer Woh­nun­gen über sich erge­hen las­sen. Beson­ders hef­tig traf es das Haus der Kauf­manns Fran­ken; hier hat­te der Mob die Fens­ter­schei­ben ein­ge­schla­gen, die Ein­gangs­tür aus den Angeln geho­ben und auf die Stra­ße gewor­fen, anschlie­ßend wüte­te die Men­ge im Haus. Auch die Innen­ein­rich­tung des Syn­ago­gen­rau­mes wur­de von NS-Anhän­gern ver­nich­tet. Aus einem Bericht des Bür­ger­meis­ters vom 16.11.1938:„ … Anti­jü­di­sche Aktio­nen fan­den in Bedburg am Don­ners­tag, den 10.11.1938 abends zwi­schen 18 u. 18.30 Uhr statt. Die Demons­tran­ten dran­gen zunächst in die in der Salm­stra­ße gele­ge­ne Syn­ago­ge ein und zer­trüm­mer­ten dort die Innen­ein­rich­tung voll­stän­dig. Die jüdi­schen Kult­ge­gen­stän­de wur­den zum Adolf-Hit­ler-Platz gebracht und dort ver­brannt.”Quel­le: Bedburg (Nord­rhein-West­fa­len) | LINK

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Mein Vater erzähl­te mir von einem jüdi­schen Mann, der zwi­schen dem Möbel­haus Jacobs und dem Hör­ge­rä­te­ge­schäft einen klei­nen Laden besaß. Auf der Laden­the­ke befan­den sich meh­re­re gro­ße Glä­ser mit Bon­bons. Ein paar davon kauf­ten mein Vater und sei­ne Freu­de sich ab und zu. Mehr wuss­te er über den Mann nicht zu berich­ten. Das waren Kind­heits­er­in­ne­run­gen. Eines Tages war das Geschäft geschlos­sen. Den wah­ren Grund hat mein Vater spä­ter erfah­ren. Der Mann hat­te sich in sei­nem Haus erhängt. Dass es mit den staat­li­chen Repres­sa­li­en zu tun hat­te, war für mei­nen Vater klar. Ob die Bedbur­ger Gesell­schaft eine Rol­le gespielt hat, war für ihn kein Thema.

Der heu­te noch exis­tie­ren­de jüdi­sche Fried­hof wur­de von 1832 bis 1939 benutzt. Mit ande­ren Wor­ten: Das über 100jährige Zusam­men­le­ben von Chris­ten und Juden wur­de von der ras­sis­ti­schen Nazi-Ideo­lo­gie über­gan­gen und am Ende jüdi­sche Men­schen von ihren deut­schen Lands­leu­ten ermordet.

Nur, weil es jemand befoh­len hat?

Ich mag nicht, wenn wir heu­te immer von Nazi-Deutsch­land oder der Nazi-Gewalt­herr­schaft reden. Die, von denen die­se Gewalt aus­ge­gan­gen ist, waren wir Deut­sche. Eine ande­re Gene­ra­ti­on aber es waren unse­re Ver­wand­ten, unse­re Väter und Groß­vä­ter. Dar­un­ter befan­den sich zu vie­le, die nach dem Krieg von alle­dem nichts gewusst haben wollen.

Nazis waren sie, deut­sche Nazis. Nur wol­len sie nach dem Ende der Schre­ckens­herr­schaft so nicht mehr gese­hen und schon gar nicht bezeich­net werden.

Mein Vater erzähl­te mir, dass er anläss­lich eines Front­ur­laubs auf sei­nem Weg nach Hau­se im Zug ein Gespräch zwi­schen SS-Leu­ten mit­be­kom­men hat. Dar­in war von Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern die Rede. Er erzähl­te, er hät­te die­sen Begriff vor­her noch nie gehört. Das Gan­ze soll 1942 statt­ge­fun­den haben. Ich habe ihm das nicht geglaubt! Aber dis­ku­tie­ren woll­te ich das auch nicht.

Alle älte­ren Men­schen mit denen ich gespro­chen habe und von denen ich annahm, dass sie ein Bewusst­sein für die Zeit haben müs­sen, äußer­ten sich unver­bind­lich, nebu­lös. Alle ver­ur­tei­len, was gesche­hen ist. Aber es wirkt, als habe es weder Nazis gege­ben noch die Leu­te, die ein schlech­tes Gewis­sen hat­ten, weil sie (viel­leicht) inak­tiv dane­ben standen.

Der Köl­ner Stadt-Anzei­ger hat heu­te eini­ge inter­es­san­te Daten ver­öf­fent­licht, die bele­gen, wie sys­te­ma­tisch die Nazis, die im Janu­ar 1933 an die Macht kamen, den Holo­caust mit zahl­lo­sen Geset­zen vor­be­rei­tet haben.

Ich will die­se Fak­ten hier nicht detail­liert auf­füh­ren. Aber eini­ge Stich­punk­te aus der Schre­ckens­lis­te möch­te ich als Beweis dafür ver­ste­hen, dass es schlech­ter­dings unmög­lich ist, dass (auch ohne freie Pres­se oder Inter­net) die Leu­te von die­sen Maß­nah­men ihrer gewähl­ten Regie­rung nichts mit­be­kom­men haben – zumal die Pres­se damals auf Wei­sung der Par­tei die­se „Infor­ma­tio­nen“ ganz bestimmt auch ver­öf­fent­licht hat:

15.03.1933Zuwan­de­rung von Ost­ju­den abwehren
22.03.1933Sach­sen ver­bie­tet das Schäch­ten von Schlachttieren
27.03.1933Köln unter­sagt die Berück­sich­ti­gung jüdi­scher Fir­men bei öffent­li­chen Ausschreibungen
31.03.1933Köln unter­sagt jüdi­schen Sport­lern die Benut­zung öffent­li­cher Sportplätze
01.04.1933NSDAP ruft zum ein­tä­ti­gen Boy­kott jüdi­scher Geschäf­te auf.
[…]
11.04.1933Die Stadt­ver­wal­tung von Köln ord­net an, dass Rech­nun­gen jüdi­scher Ärz­te nicht mehr bezahlt werden
08.05.1933In Zwei­brü­cken dür­fen Juden kei­ne Stän­de mehr auf Jahr­märk­ten aufbauen
10.1933Juden wer­den mit Hil­fe des „Schrift­lei­ter­ge­set­zes“ aus den Pres­se­be­ru­fen entfernt.

[symple_​spacing size=„20“]Bis 1945 wur­den fast 2000 Geset­ze, Ver­fü­gun­gen und Ver­ord­nun­gen gegen Juden erlassen.

Hier kann man mehr über das Vor­ge­hen der Nazis finden:

  • Die Reichs­zen­tra­le für jüdi­sche Aus­wan­de­rung | ZbE | Quel­le
  • Zeit­ta­fel – Juden im Drit­ten Reich | Quel­le
  • Hachs­cha­ra in Bran­den­burg-Gestzte gegen Juden | Quel­le
  • Bau­stei­ne: Die Nacht als die Syn­ago­gen brann­ten – Pogrom – Reichs­kris­tall­nacht | Quel­le
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Horst Schulte
Rentner, Blogger & Hobbyfotograf
Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe seit meiner Geburt (auch aus Überzeugung) auf dem Land.

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