Erinnerung an 1933: Die Normalisierung des Unvorstellbaren

Der Aufstieg der AfD zeigt: Vertrauen schwindet, Polarisierung nimmt zu – und die Demokratie steht an einem Scheideweg.

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Wie soll man das, was sich da abzeichnet, interpretieren? Die AfD hat in der neuen Umfrage von Yougov noch einen Rückstand zur Union von nur mehr 2 %.

Union AfD
Union AfD

Union und AfD im Vergleich

Hat jemand registriert, wie und was Brandner von der AfD geredet, und wie er einen Ordnungsruf von Sitzungspräsident Gregor Gysi ignoriert hat? Aber nicht nur dieser ungehobelte Typ der Rechtsextremen setzt damit den Ton für die neue Legislatur (Brandner hatte in der letzten Legislatur die meisten Ordnungsrufe!).

Den Wählern dieser lausigen Antidemokraten kann es vermutlich gar nicht ruppig genug zugehen. Die verstehen Trump-Wähler und sehen im Bundestag eine »Schwatzbude«.

Ramelow warnt – schon 2017

Der Bundestag sollte sich auf eine ungute Entwicklung einstellen, warnte jüngst Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow. Im Landtag von Erfurt nutze die AfD die Geschäftsordnung, um das Parlament als »Schwatzbude« vorzuführen — so, wie einst die Rechts- und Linksextremen in der Weimarer Republik.

Quelle

Dieser Ausschnitt stammt aus einem Spiegel-Bericht aus dem Jahr 2017!

Medienfokus verfehlt die eigentliche Gefahr

Diese Verhältnisse haben wir längst auch im Bund bzw. im Bundestag. Ich empfinde es als seltsam, dass die Journalisten im Land sich hauptsächlich mit dem befassen, was die sich anschickende neue Regierung so alles falsch macht. Dabei ist klar, dass ebendiese Regierung tatsächlich so etwas wie die letzte Patrone unserer Demokratie sein könnte.

Der neue Ton im Parlament

Da wird zwar der neue Ton im Parlament, den die AfD setzt, angesprochen und kritisch kommentiert. Aber doch längst nicht in der Art, wie es aus meiner Sicht sein sollte. Es ist nötig, eine neue Strategie für den Umgang mit den Rechtsextremen zu etablieren. Wir haben hoffentlich doch gelernt, dass die Ausgrenzungsmethode erfolglos war.

Parallelen zu Trump-Wählern

Trump ist bei seinen US-amerikanischen Wählern unbeliebt. Viele seiner Wähler empfinden ihn als schreckliche Person. Dass sie ihn mehrheitlich gewählt haben, scheint einen unerklärlichen Anflug von Schizophrenie nahezulegen.

Dabei dürfte der Hauptgrund für ihre Wahlentscheidung die massive Unzufriedenheit mit den Verhältnissen im Land gewesen sein. Ich will erst gar nicht versuchen, eine detaillierte Zusammenstellung der Gründe zu erstellen. Aber ich sehe Parallelen zu Deutschland.

Warum Menschen AfD wählen

Wie ich auch immer dazu stehen mag, die AfD-Wähler sehen in der Partei ihre persönliche Stellschraube, ihre Chance, an den Verhältnissen in Deutschland etwas zu verändern. Dass viele das nicht begreifen können oder wollen, könnte daran liegen, dass sich auch unsere Gesellschaft auseinanderdividiert hat. Es gibt viele, denen es gut geht und die das auch von sich behaupten. Es gibt aber leider immer mehr Menschen, die Sorgen haben, dass ihre Lebensbasis einbricht. Sie empfinden ihre aktuellen Lebensumstände als befriedigend, haben aber große Sorgen hinsichtlich möglicher Verwerfungen in der Zukunft.

Das ist vollkommen verständlich und würde schon angesichts der allgemeinen Nachrichtenlage der letzten Jahre vieles erklären. Dabei habe ich noch kein Wort über all die Menschen verloren, denen es in diesem reichen Land wirklich mies geht.

Eine neue Volkspartei im Osten?

Dass die Zahl dieser Menschen allerdings so hoch ist, wie die letzten Wahlergebnisse und Umfragen es zeigen, hätte ich nicht erwartet. Im Osten ist die AfD längst Volkspartei. Die in eindrucksvoller Weise immer wieder zu sehenden blauen Landkarten sollten jedem die Lage klarmachen. So viele Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung trifft uns die banale Erkenntnis: Nichts ist zusammengewachsen, gar nichts!

Rückblick und Perspektive

Ich bin seit 10 Jahren in Rente und habe auch zu gesellschaftlichen Vorgängen eine gewisse Distanz. Ich fühle mich nicht mehr so unmittelbar von dem betroffen, was z. B. auf unserem Arbeitsmarkt abläuft, und vertraue darauf, dass dieser stabil bleibt. Aufgrund der demografischen Entwicklung und des damit einhergehenden Fachkräftemangels sollte das gut ausgehen. Jetzt haben wir es das dritte Jahr infolge mit einer Rezession zu tun, die aus meiner Sicht eher wenig mit der Ampel-Regierung zu tun hatte. Es handelt sich nicht um eine konjunkturelle, sondern um eine sich über Jahre anbahnende strukturelle Krise unseres Landes. Die Gründe sind hinlänglich diskutiert worden. Eine unionsgeführte Regierung hätte an der Energiepreisentwicklung nach Februar 2022 auch nichts anderes machen können.

Dass die Union in den Augen vieler Wähler verloren hat, weil sie diese hinsichtlich der Schuldenbremse dreist belogen hat, ist für uns Deutsche kein geschichtliches Novum. Allerdings sind die nun bekannten Dimensionen schon von hoher Brisanz. Die Menschen spüren das und verlieren in dieser frühen Phase Vertrauen, noch bevor die Amtsgeschäfte einer neuen Regierung überhaupt aufgenommen wurden.

Wer liest schon Koalitionsverträge?

Mir ist offen gesagt, egal, dass in den Protokollen der Koalitionsverhandlungen momentan noch viele Themen in eckigen Klammern stehen (also ungeeint sind). Entscheidend wird sein, wie das Ergebnis am Schluss aussieht. Ehrlich, ich lese keine Koalitionsvereinbarungen, und zwar nicht erst, seit der Ampel und dem quälenden Desaster. Wer weiß schon, wie die Union regiert hätte, wenn sie den Kanzler gestellt hätte? Wäre sie besser mit der Energiekrise klargekommen, hätte sie vor dem Bundesverfassungsgericht ihren Etat um die Ohren geschlagen bekommen? Ja, hätte überhaupt von den anderen Parteien jemand Klage eingereicht und sich dann in die Büsche geschlagen (Schuldenbremse)?

Bundestagswahl 2025: Wer wählte die AfD – und warum? | tagesschau.de.

Noch einmal zurück zur AfD. Es gibt Millionen von Wählern, die sie gewählt haben. Viele Menschen haben sich von den Parteien gelöst, denen sie vormals ihre Stimmen gegeben haben.

Wählerwanderung: Union gewinnt 1,76 Millionen Wähler von der SPD, AfD lockt meiste Nichtwähler an | MDR.DE

Millionen haben sich von den alten Parteien abgewendet

10 Millionen Wähler haben die AfD gewählt. 10 Millionen ungebildete, dumme Menschen? 10 Millionen Menschen, denen die Demokratie nichts wert ist? 10 Millionen Menschen, die frustriert und unzufrieden mit den Verhältnissen im Land oder mit ihren eigenen sind? 10 Millionen Fremdenhasser?

Das Vertrauen in die Institutionen und in das Funktionieren der Demokratie sinkt auf unter 60 %. Ein erheblicher Teil der Befragten vertritt verschwörungsgläubige (38 %), populistische (33 %) und völkisch-autoritär-rebellische (29 %) Positionen. Im Vergleich zur Befragung während der Coronapandemie 2020/21 ist dies ein Anstieg um rund ein Drittel und auch zum Jahr 2018/19 ist der Anteil potenziell demokratiegefährdender Positionen gestiegen. So denken beispielsweise inzwischen 32 %, die Medien und die Politik würden unter einer Decke stecken (2020/21: 24 %). Zudem stimmen in der aktuellen Mitte-Studie mit 30 % fast doppelt so viele Befragte wie noch vor zwei Jahren der Aussage zu: »Die regierenden Parteien betrügen das Volk.« und ein Fünftel meint: »Unser Land gleicht inzwischen mehr einer Diktatur als einer Demokratie.« (2020/21: jeweils 16 %). Die Billigung und Rechtfertigung politischer Gewalt haben auch deutlich zugenommen. 13 % sind der Auffassung, einige Politiker:innen hätten es verdient, wenn »die Wut gegen sie« in Gewalt umschlägt (2020/21: 5 %).
Quelle

Wir kannten die Aussage von Experten, dass es in unserem Land einen »Bodensatz« von ca. 20 % der Menschen mit rechtsextremer Tendenz geben soll. Seit Jahren hielt sich die Zahl. Mal 1 bis 2 Prozentpunkte mehr, mal weniger.

Gute Politik allein wird nicht reichen

Manche behaupten, man könne die Zahl der AfD-Wähler wieder »normalisieren«, wenn man nur eine GUTE POLITIK machen würde. Das klingt auf den ersten Blick gut. Allerdings scheitert diese naive Vorstellung rasch, wenn man die Politikfelder nur anspricht, um die es bei einem solchen Anspruch vorrangig gehen sollte. Wie realistisch wäre es, dass Linkspartei, Grüne und SPD der von der AfD gewünschten Remigration zustimmten? Auch Union und — früher ™ FDP — würden darauf, vielleicht aus unterschiedlichen Gründen, nicht eingehen.

Vielen im rechten und nationalkonservativen Lager wäre eine Wirtschaftspolitik, die Linkspartei, den Grünen oder der SPD vorschwebt, ebenso wenig näherzubringen.

Was also in solchen Fällen schlichtweg erforderlich ist, ist nach Kompromissen zu suchen und diese möglichst so auszutarieren, dass sie wenigstens über eine Legislaturperiode tragfähig sind. So denken, glaube ich, auch die meisten Politiker. Ihr Denken, ihre Strategien gehen kaum über eine Legislaturperiode hinaus. Das fördert Flickschusterei, wie man an einigen Großbaustellen im Land sofort erkennen kann. Der fehlende große Wurf einer stabilisierenden Rentenreform ist dafür ein anschauliches Beispiel. Wir wissen schon seit den 1970er Jahren (Biedenkopf), dass die demografische Entwicklung stattfindet, die das System kollabieren lassen wird.

Wenn solche Versäumnisse, auch ohne jeden Zusammenhang, immer und immer wieder beobachtet und natürlich thematisiert werden, fördert das den Verdruss der Wählerschaft. Das ist sehr einfach zu verstehen. Übrigens gilt das nicht für jedes Thema, aber wir kennen die, die seit Jahren ungelöst sind und die die Aversion der Leute besonders stark triggert.

Medien und Verantwortung

Schauen wir in die Zukunft: Ich hörte Gabor Steingart und den Ex-Innenminister Friedrichs (CSU) erst kürzlich unabhängig darüber »philosophieren«, dass man die Zusammenarbeit mit der AfD nicht auf ewig ausschließen könne. Ja, mich bringen solche Überlegungen zuerst einmal immer auf die Palme. Was? Mit diesen Leuten zusammenarbeiten? Sofort erscheinen mir diese Männer und Frauen, diese granatenmäßigen Unsympathen vor meinem geistigen Auge. Höcke, Curio, Brandner, Baumann, von Storch, Weidel, Chrupalla. Großer Gott!

Ich habe allerdings auch schon Leuten von der AfD zugehört, die weder sarkastisch noch extrem herüberkamen. Zugegeben, das ist eher selten, weil die Hassprediger (s. o.) von unseren Medien selbstverständlich sehr viel häufiger zitiert oder erwähnt werden.

Deutschland und seine NS-Geschichte sind speziell. Insofern verstehe ich die Haltung vieler Menschen (ob normale Bürger oder Medienleute) zur AfD. Die Verhältnisse sind aber nun einmal so, wie sie sind. Und beteiligt an diesem starken Ergebnis sind wir alle vermutlich auf eine bestimmte Art und Weise. Wir haben schließlich mitgemacht, wenn die Medien bei ihrer Kritik an der Ampel-Regierung jedes Maß und jede Mitte vermissen ließen. Frust potenziert sich vermutlich leicht, wenn die Gründe dafür nur oft genug genannt und die vermeintlich Schuldigen sehr zielorientiert an den Pranger gestellt werden.

Ich denke, wir lassen uns zu stark von den Medien beeinflussen, die uns mit ihren oft nicht ausrecherchierten Gemeinheiten in unvorstellbarer Geschwindigkeit und Dichte erreichen.

Demokratie ist stärker, als wir denken

Es wird darauf hinauslaufen, dass die Zusammenarbeit mit einer AfD zur Normalität wird. Ich glaube, dass auch Koalitionen zwischen Union und AfD schon bald gebildet werden. Dass jedem Menschen mit Geschichtsbewusstsein dabei ein unwohles Gefühl beschleicht, kann ich verstehen. Aber wir dürfen nicht so weitermachen, dass wir so viele Menschen in ihrem politischen Willen schlichtweg ignorieren, indem wir ihre Repräsentanten ausgrenzen. Das ist nicht demokratisch. Unsere Demokratie ist so stark, dass sie solchen Kräften vielleicht nicht in jeder Talkshow elegant und überzeugend begegnen. Wir wissen, dass es darauf auch nicht ankommt.

Nach meiner Überzeugung ist unsere Demokratie nach so vielen Jahrzehnten stark genug, um den unsinnigen Aussagen und irrlichternden programmatischen Inhalten Paroli bieten zu können. Im Parlament und sogar in möglichen künftigen Koalitionen.

Horst Schulte

Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe seit meiner Geburt (auch aus Überzeugung) auf dem Land.

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AfD, Demokratiekrise

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5 Gedanken zu „Erinnerung an 1933: Die Normalisierung des Unvorstellbaren“

  1. Bei allen richtigen Aussagen, die Du triffst: Nein, eine Zusammenarbeit mit einer in Teilen rechtsextremen Partei darf nicht sein. Wir haben so etwas in der deutschen Geschichte schon einmal gemacht und das ist gründlich in die Hose gegangen.

    Einen politischen Willen sollte man ignorieren, wenn der in Krieg, Chaos, Diktatur und Unmenschlichkeit führt.Es mag noch einige wenige Gemäßigte in der AfD geben, doch die Mehrzahl der einigermaßen gemäßigten hat die Partei verlassen. Mit Höcke und Konsorten kann und sollte man nicht koalieren.

    Bin ich optimistisch, dass die „Alt-Parteien“ den Schuss gehört haben: Nein, allein die Hoffnung stirbt zuletzt.

    Antworten
    • @stefan: ich gestehe, dass ich in dieser Frage keine feste Meinung habe. Mal neige ich zum Ausgrenzen wg. rechtsextrem, mal zum Einbinden (wg. Entzauberung und Akzeptieren des Wählerwillens). Was aber, wenn der Unmut so wächst, dass AFD nächstens die stärkste Partei wird? Dann müssen CDU,SPD,Grüne und womöglich sogar die Linke koalieren – ist DAS eine anstrebenswerte Perspektive?

      Antworten
  2. Einen wesentlichen Einfluß haben – wenigstens aus mehreren Quellen zum Thema zu schließen – zudem die so-genannten *sozialen Medien*, insbesondere auf jüngere Wählerschaft (mit weniger Erfahrung wie man Demagogen entlarvt) durch die mittels Verlinkung Trends entstehen die Masse vortäuschen wo keine Masse ist, und so Unbedarfte zum mittun veranlassen.

    Prinzipiell sehe ich die Ausgrenzung – wie Sie – als nicht ewig haltbar und eher förderlich für weiteren Zuwachs – weswegen ich schon vor einiger Zeit dazu geraten habe die AfD einzubinden und beweisen zu lassen, daß sie in der Lage ist konstruktiv zu arbeiten (wo bisher nur Parolen und Anwürfe gegen politische Gegner hervorgebracht werden).

    Entsprechende Reaktionen sind immer zu erwarten wenn man mit Vorschlägen vom *mainstream* abweicht …. aber wenn nicht Sie und ich, wer denn sonst?

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