Wie Büro­kra­tie­kri­tik zur Gefahr für demo­kra­ti­sche Insti­tu­tio­nen wird – ein Ver­gleich zwi­schen den USA und Deutschland.

Büro­kra­tie-Bas­hing gehört heu­te fast zum guten Ton – nicht nur bei Unter­neh­mern, son­dern längst auch im Main­stream der Poli­tik. Was frü­her als prag­ma­ti­sche Ver­wal­tungs­mo­der­ni­sie­rung galt, klingt heu­te oft wie ein Schlacht­ruf gegen den Staat selbst. In den USA hat die­ser Feld­zug gegen staat­li­che Struk­tu­ren längst tie­fe Spu­ren hin­ter­las­sen – mit teils ver­hee­ren­den Fol­gen für demo­kra­ti­sche Insti­tu­tio­nen. Und hier­zu­lan­de? Da rei­ben sich man­che bereits die Hän­de. Der Ruf nach Ent­bü­ro­kra­ti­sie­rung wird zur Paro­le – und man fragt sich unwei­ger­lich: Beginnt auch bei uns der schlei­chen­de Rück­bau der Staat­lich­keit? Ist die­ser Gedan­ke wirk­lich so abwe­gig – oder bloß unbequem?

Der amerikanische Weg: Staatlichkeit unter Druck

In den Ver­ei­nig­ten Staa­ten hat sich in den letz­ten Jahr­zehn­ten eine tief­grei­fen­de Skep­sis gegen­über staat­li­cher Orga­ni­sa­ti­on eta­bliert. Von Ronald Rea­gans berüch­tig­tem Satz „Govern­ment is not the solu­ti­on to our pro­blem, govern­ment is the pro­blem“ (Die Regie­rung ist nicht die Lösung unse­res Pro­blems, die Regie­rung ist das Pro­blem) bis hin zu Donald Trumps Demon­ta­ge zen­tra­ler Umwelt­be­hör­den – der Staat wur­de nicht refor­miert, son­dern gezielt geschwächt.

Das zeigt sich etwa in:

  • der sys­te­ma­ti­schen Unter­fi­nan­zie­rung von Bun­des­be­hör­den (Bei­spiel: IRS),
  • der zuneh­men­den Pri­va­ti­sie­rung öffent­li­cher Dienst­leis­tun­gen (z. B. Pri­vat­ge­fäng­nis­se),
  • und dem wach­sen­den Ein­fluss wirt­schaft­li­cher Lob­by­grup­pen auf Gesetz­ge­bung (Open​Se​crets​.org lie­fert tie­fe Einblicke).

Hier ist weni­ger von Ent­bü­ro­kra­ti­sie­rung im klas­si­schen Sinn die Rede – viel­mehr han­delt es sich um eine ideo­lo­gisch moti­vier­te Ent­staat­li­chung: Der Staat wird nicht nur effi­zi­en­ter gemacht, son­dern in sei­ner Sub­stanz infra­ge gestellt.

Deutschland: Zwischen Reform und Rückzug

Der Ruf nach Ent­bü­ro­kra­ti­sie­rung hat auch in Deutsch­land Kon­junk­tur. Ob Büro­kra­tie­ent­las­tungs­ge­setz, Wär­me­ge­setz oder Daten­schutz – die Kom­ple­xi­tät wird als läh­mend emp­fun­den. Die For­de­rung: ver­ein­fa­chen, digi­ta­li­sie­ren, beschleu­ni­gen. Ins­be­son­de­re das von der Ampel ver­ab­schie­de­te Lie­fer­ket­ten­ge­setz ist den Unter­neh­men ein Dorn im Auge. Es soll nun wie­der verschwinden. 

Erklärung

Das Lie­fer­ket­ten­ge­setz in Deutsch­land und die EU-Lie­fer­ket­ten­richt­li­nie ver­fol­gen das Ziel, die unter­neh­me­ri­sche Ver­ant­wor­tung für Men­schen­rech­te und Umwelt­schutz ent­lang glo­ba­ler Lie­fer­ket­ten zu stär­ken. Bei­de Geset­ze ver­pflich­ten Unter­neh­men zur Sorg­falts­pflicht, Risi­ken in den Lie­fer­ket­ten zu erken­nen und zu redu­zie­ren. Das deut­sche Gesetz gilt seit 2023 für Unter­neh­men ab 1.000 Beschäf­tig­ten in Deutsch­land, wäh­rend die EU-Richt­li­nie stu­fen­wei­se ab 2028 für Unter­neh­men ab 1.000 Beschäf­tig­ten und einem Jah­res­um­satz von 450 Mil­lio­nen Euro gilt. 

Doch in der poli­ti­schen Debat­te ver­schwim­men zuneh­mend die Grenzen:

  • Wer „den Staat“ als über­grif­fi­ge Zumu­tung beschreibt, berei­tet unfrei­wil­lig den Boden für auto­ri­tä­re Vereinfachungen.
  • Wer Büro­kra­tie abbaut, ohne dabei demo­kra­ti­sche Kon­troll­struk­tu­ren mit­zu­den­ken, ris­kiert mehr Scha­den als Nutzen.
  • Und wer die Ver­wal­tung vor allem als Kos­ten­fak­tor begreift, öff­net Tür und Tor für Pri­va­ti­sie­rung und Auslagerung.

Die Ent­staat­li­chung schleicht sich hier nicht durch offe­ne Angrif­fe ein, son­dern durch eine Ero­si­on des Ver­trau­ens in staat­li­che Kom­pe­tenz und Fairness.

Bürokratie als Rückgrat – nicht als Feindbild

Natür­lich braucht es Refor­men: Ein Staat, der sei­ne eige­nen Ver­fah­ren nicht beherrscht, ver­liert Legi­ti­mi­tät. Doch Büro­kra­tie ist nicht per se schlecht – sie ist das Rück­grat der Rechts­staat­lich­keit, Garant für Gleich­be­hand­lung, Trans­pa­renz und Teilhabe.

Wenn man sie abbaut, muss man wis­sen, was man an ihre Stel­le setzt. Sonst wird aus dem Wunsch nach Ent­las­tung ein gefähr­li­ches Spiel mit der Substanz.

Fazit: Die feine Linie zwischen Reform und Rückbau

Was in den USA längst Rea­li­tät ist, kün­digt sich in Euro­pa erst zag­haft an. Doch die Signa­le sind da. Wer den Staat neu auf­stel­len will, muss ihn nicht zer­stö­ren. Büro­kra­tie darf nicht zum Feind­bild wer­den, wenn sie unse­re Demo­kra­tie trägt.

Der Ruf nach Ent­bü­ro­kra­ti­sie­rung braucht einen wachen Blick:

Nicht jeder Vor­schlag für weni­ger Regeln ist ein Schritt in Rich­tung Fortschritt.

Man­che füh­ren gera­de­wegs in die Ent­staat­li­chung – und damit in ein demo­kra­ti­sches Vakuum.

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Horst Schulte
Rentner, Blogger & Hobbyfotograf
Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe seit meiner Geburt (auch aus Überzeugung) auf dem Land.

Kategorie: Gesellschaft

Schlagworte: Bürokratieabbau Deutschland Entstaatlichung USA

Quelle Featured-Image: Illustration mit zerfallendem US Kapitol und deuts...

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2 Gedanken zu „Entstaatlichung auf Raten – Zwischen Bürokratiekritik und Systemabbau“

  1. So man­ches Lei­den an der Büro­kra­tie könn­te man auch durch kon­se­quen­te Digi­ta­li­sie­rung lindern!
    Beim Lie­fer­ket­ten­ge­setz bin ich mir nicht sicher, ob das nicht in der Pra­xis nur bedeu­tet, dass die Unter­neh­men mas­sen­haft und umfang­reich doku­men­tie­ren «wir haben uns stets bemüht…».

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