Gün­ter Ver­heu­gen, lang­jäh­ri­ger EU-Kom­mis­sar und SPD-Mit­glied, zeich­net in sei­nem Vor­trag ein düs­te­res Bild der aktu­el­len geo­po­li­ti­schen Lage. Er kri­ti­siert die west­li­che Russ­land­po­li­tik seit dem Ende des Kal­ten Krie­ges scharf, warnt vor nuklea­rer Eska­la­ti­on und for­dert eine Rück­kehr zu einer koope­ra­ti­ven euro­päi­schen Frie­dens­ord­nung. Im Zen­trum sei­ner Argu­men­ta­ti­on steht die The­se, dass der Krieg in der Ukrai­ne Aus­druck eines „geo­po­li­ti­schen Stell­ver­tre­ter­kriegs“ sei – und die USA ein stra­te­gi­sches Inter­es­se an der Schwä­chung Russ­lands hät­ten. Wenn­schon, dann müss­te es wohl „hat­ten“ bzw. gehabt haben hei­ßen. In der Ära Trump ist Ver­heu­gens alt­lin­ke Beschrei­bung ein­fach nur grotesk.

Hier kli­cken, um den Inhalt von You­Tube anzuzeigen. 
Erfah­re mehr in der Daten­schutz­er­klä­rung von You­Tube.

Er spricht, wie vie­le das heu­te noch immer tun, die angeb­li­che, nur lei­der nicht ver­brief­te Zusa­ge der USA an Russ­land von Anfang der 1990er Jah­re an, dass die NATO kei­ne Anstal­ten zur Ost-Erwei­te­rung machen wer­de. Statt auf Bewei­se greift er auf Anek­do­ti­sches zurück:

„Es ist rich­tig und in dem letz­ten Gespräch, das ich mit Hans-Diet­rich Gen­scher hat­te, ein Jahr bevor er starb, hat er mir es noch ein­mal bestä­tigt: Es ist so gewe­sen, dass im Zusam­men­hang mit der deut­schen Eini­gung Gor­bat­schow die Zusa­ge gemacht wor­den ist, dass die NATO sich nicht nach Osten aus­deh­nen wür­de. Es ist rich­tig, dass das nicht ver­trag­lich fixiert wor­den ist. Wenn dar­in ein Vor­wurf liegt, dann ist es der Vor­wurf, dass Gor­bat­schow uns geglaubt hat.

Ver­heu­gen im YouTube-Vortrag

Gemein­sam mit dem US-Außen­mi­nis­ter ver­kün­det er, dass der Wes­ten bei allen anste­hen­den Ver­hand­lun­gen und Gesprä­chen selbst­ver­ständ­lich Rück­sicht auf die stra­te­gi­schen Inter­es­sen der Sowjet­uni­on neh­men wird. „Wir waren uns einig, dass nicht die Absicht besteht, das NATO-Ver­tei­di­gungs­ge­biet aus­zu­deh­nen nach Osten“, erin­nert sich Gen­scher spä­ter. „Das gilt übri­gens nicht nur in Bezug auf die DDR, die wir nicht ein­ver­lei­ben wol­len, son­dern das gilt ganz gene­rell.“ Tage spä­ter beim Besuch in Mos­kau wird James Bak­er noch ein­mal auf die­se Zusi­che­rung zurück­kom­men. Er und sei­ne Mit­ar­bei­ter wis­sen: Nur so wird sich eine Tür für Ver­hand­lun­gen über­haupt erst öff­nen. Und ihre Stra­te­gie geht auf.

Jack Mat­lock, 1990, US-Bot­schaf­ter in Mos­kau: „Ich erin­ne­re mich an Bak­ers Wor­te: „Sie müs­sen nicht gleich ant­wor­ten, aber den­ken Sie dar­über nach. Ange­nom­men, die NATO dehnt sich nicht wei­ter nach Osten aus, kei­nen Zen­ti­me­ter: Wäre es dann nicht bes­ser für die zukünf­ti­ge Sta­bi­li­tät der Welt, wenn Deutsch­land in die NATO ein­ge­bun­den wäre und Ame­ri­ka wäre wei­ter­hin mili­tä­risch in Euro­pa prä­sent? Gor­bat­schow ant­wor­te­te: „Jede NATO-Erwei­te­rung nach Osten wäre selbst­ver­ständ­lich inak­zep­ta­bel. Aber ich ver­ste­he, was Sie mei­nen. Und ich will gründ­lich dar­über nachdenken.“

Quel­le

Das Pro­blem: Ver­heu­gens Vor­trag ist in sich nicht stim­mig. Ver­heu­gen blen­det zen­tra­le Aspek­te aus – allen vor­an die Tat­sa­che, dass die Ukrai­ne kein blo­ßes Objekt ist, son­dern Sub­jekt. Sie wur­de über­fal­len. Sie wehrt sich. Und sie tut das nicht auf Geheiß aus Washing­ton, son­dern aus dem exis­ten­zi­el­len Zwang her­aus, sich zu ver­tei­di­gen. Der Zusam­men­bruch des War­schau­er Pak­tes eröff­ne­te den USA alle Mög­lich­kei­ten, ihre impe­ria­lis­ti­sche Poli­tik zu betrei­ben. Dass dies im geschicht­li­chen Kon­text über­ra­schen­der­wei­se ohne krie­ge­ri­sche Aus­wir­kun­gen von­stat­ten­ging, war ein ech­ter Glücks­fall für unse­re Welt. 

Die­ses eben­falls über­lie­fer­te Zitat aus der Ver­gan­gen­heit wird gern verschwiegen:

Ich erin­ne­re mich an die Dis­kus­si­on im Kon­fe­renz­raum des Wei­ßen Hau­ses. Wir stel­len Gor­bat­schow die Fra­ge: Glau­ben Sie, dass jedes Land wäh­len darf, wel­chem Sicher­heits­bünd­nis es sich anschlie­ßen will? Und er sag­te: Ja, natür­lich.

James Bak­er

Irri­tie­rend ist Ver­heu­gens Ana­ly­se, wenn man Ele­men­te davon mit der aktu­el­len Poli­tik Donald Trumps ver­gleicht. Der US-Prä­si­dent hat wie­der­holt signa­li­siert, er wol­le die US-Unter­stüt­zung für die Ukrai­ne dras­tisch kür­zen oder gar been­den. Er ver­sprach sogar, den Krieg „in 24 Stun­den zu been­den“ – frei­lich ohne zu erklä­ren, wie. Trump steht für eine iso­la­tio­nis­ti­sche Agen­da. „Ame­ri­ca First“ heißt eben nicht „Euro­pa sichern“. Wenn Ver­heu­gen recht hät­te mit sei­ner geo­po­li­ti­schen Les­art, dann müss­te Trump der größ­te Befür­wor­ter die­ses Krie­ges sein. Das ist er aber nicht, wie wir inzwi­schen sicher wissen.

Ver­heu­gen ist ein Vete­ran euro­päi­scher Poli­tik. Sein Ruf ver­dient Respekt. Aber sei­ne Sicht auf den Ukrai­ne­krieg ist eine unzu­läs­si­ge Ver­ein­fa­chung. Sie stützt sich auf eine Alt-Lin­ke Les­art des Impe­ria­lis­mus, die die Kom­ple­xi­tät der Gegen­wart nicht mehr erfasst. Putin wird dar­in zum Getrie­be­nen, zum Reagie­ren­den. Die NATO zur Pro­vo­ka­teu­rin. Und die USA zum Strip­pen­zie­her, dem alles in die Hän­de spielt.

Das ist bequem, aber falsch. Es ist ein Krieg mit Opfern, kein Schach­spiel mit Figu­ren. Und wer das nicht mehr erkennt, hat sich vom Geist der Auf­klä­rung ver­ab­schie­det, den er so ger­ne beschwört. Ver­heu­gen plä­diert für eine gesamt­eu­ro­päi­sche Frie­dens­ord­nung unter Ein­be­zie­hung Russ­lands – nicht als Vasall der USA, son­dern als sou­ve­rä­ner Akteur mit gleich­be­rech­tig­tem Sta­tus. Dann soll­te ihm die Poli­tik Trumps doch zupasskommen.

Diesen Beitrag teilen:
0CDD5CFF 182F 485A 82C6 412F91E492D0
Horst Schulte
Rentner, Blogger & Hobbyfotograf
Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe seit meiner Geburt (auch aus Überzeugung) auf dem Land.

Kategorie: Politik

Schlagworte: Russland Ukraine USA Verheugen

Quelle Featured-Image: Russland, Ukraine, USA...

Letztes Update:

Anzahl Wörter im Beitrag: 810
Aufgerufen gesamt: 499 mal
Aufgerufen letzte 7 Tage: 19 mal
Aufgerufen heute: 2 mal

2 Gedanken zu „Realitätsverweigerung? Verheugen, die USA und der Ukrainekrieg: Eine irritierende Verkürzung“

  1. Bis vor kur­zem habe ich Ver­heu­gens Mei­nung noch voll und ganz unter­stützt, inzwi­schen sehe ich das auch etwas dif­fe­ren­zier­ter. Uner­träg­lich fin­de ich aller­dings zum einen die Kriegs­geil­heit, ins­be­son­de­re der Grü­nen, und den Ver­such eini­ger Poli­ti­ker (Baer­bock, Hof­rei­ter, Strack-Zim­mer­mann und eini­gen ande­ren), die Bevöl­ke­rung mit ihrem Rus­sen­hass zu infiltrieren. 

    Nicht „die Rus­sen“, haben den Krieg begon­nen, son­dern der impe­ria­le Macht­ha­ber Putin mit sei­nen Scher­gen Law­row und Co. Ich bin auch der Mei­nung, dass wir, zumin­dest in der Nach-Putin-Ära, wie­der ver­su­chen soll­ten Bezie­hun­gen zu Russ­land auf­zu­bau­en und das nicht nur aus wirt­schaft­li­chen Gründen.

Lass deinen Gedanken freien Lauf


Hier im Blog werden bei Abgabe von Kommentaren keine IP-Adressen gespeichert! Deine E-Mail-Adresse wird NIE veröffentlicht! Du kannst anonym kommentieren. Dein Name und Deine E-Mail-Adresse müssen nicht eingegeben werden.


✅ Beitrag gemerkt! Favoriten anzeigen
0
Share to...
Your Mastodon Instance