Ein Vormittag, der mich beschäftigt

Ein Unfall, ein Krankenhausbesuch – und eine Begegnung, die Erinnerungen und Sorgen um das Älterwerden wachruft.

Horst Schulte

am

10

4 Min.



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Broetchen am Morgen

Heute Morgen, kurz nach acht. Meine Frau war wie so oft beim Bäcker um die Ecke, Brötchen holen – eine kleine tägliche Gewohnheit, die für uns beide ein Stück Normalität bedeutet. Doch dieser Morgen hatte andere Pläne.

Broetchen am Morgen

Ein Sturz. Eine Platzwunde. Viel Blut. Und ein Schreck, der tief saß.

Seit der Schließung unseres Krankenhauses in Bedburg blieb uns nichts anderes übrig, als den Weg nach Bergheim auf uns zu nehmen. In der Ambulanz vergingen über drei Stunden – nicht etwa, weil der Wartebereich überfüllt gewesen wäre. Nein, vielmehr war es die Flut an RTW-Einsätzen, die das Personal auf Trab hielt. Die Behandlungsräume waren belegt, das System sichtbar überlastet.

Man hat sich fast schon daran gewöhnt, traurig genug. Die Misere der medizinischen Versorgung auf dem Land ist ein alter Bekannter, der nicht geht, sondern sich häuslich einrichtet. Die Reformen, die von Professor Lauterbach einst vollmundig angekündigt wurden, erscheinen mir heute, mit Blick auf Bergheim und die geschlossenen Häuser in Bedburg und Grevenbroich, wie ein Versprechen, das irgendwo unterwegs liegen geblieben ist.

Doch was mich heute wirklich bewegt hat, war etwas ganz anderes.

Im Wartebereich betraten zwei Menschen den Raum, bei denen es einen Moment dauerte, bis der Groschen fiel. Ein vertrautes Gesicht, das man lange nicht mehr gesehen hat – ihr kennt das vielleicht. Es ist wie ein Echo aus der Vergangenheit, das sich vorsichtig den Weg ins Heute bahnt.

Es war ein Kamerad von früher. Aus meiner Zeit bei der Freiwilligen Feuerwehr. Ich trat 1982 aus – nach zwölf intensiven Jahren, in denen wir als Jugendliche miteinander gewachsen, zusammengewachsen waren. Ich war 14, als ich damals zur Jugendfeuerwehr kam – zur allerersten, die Bedburg je hatte. Einige der Jungs, mit denen ich damals ausrückte, begleiteten mich über Jahrzehnte durchs Leben. Und auch wenn der Kontakt nicht mehr eng ist – das Band ist geblieben.

Wir waren mehr als Kameraden. Es war ein Miteinander, das getragen war von Verlässlichkeit, von echtem Interesse am Anderen. Es war… Wärme, würde ich sagen. Eine Form von Brüderlichkeit, die ich heute oft vermisse.

Mein alter Feuerwehrkamerad ist heute Ende siebzig. Der Zahn der Zeit hat auch an ihm genagt, wie an uns allen. Bei ihm war seine Frau. Ich erinnerte mich gut an sie – klug, lebensfroh, eine Frau, die Präsenz hatte. Doch heute… heute war da etwas anderes. Der Blick leerer, das Lächeln gehemmt, der Griff an seinem Arm ein wenig zu fest. Sie leidet, wie ich erfuhr, seit drei Jahren an Demenz. Und ich glaube, sie hat uns nicht mehr erkannt.

Ich versuchte, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Ein Lächeln, ein Blick, ein Wort – irgendetwas, das andeutete, dass da ein Funken Erinnerung aufglimmt. Aber nein. Es war, als stünde ich in einer Geschichte, in der meine Zeilen gestrichen wurden.

Vielleicht schreibe ich das alles auch deshalb auf, weil der heutige Tag mich tief getroffen hat. Weil mir der Unfall meiner Frau zeigte, wie fragil alles ist. Es war zum Glück nichts Schlimmes. Die Platzwunde wurde versorgt, Prellungen, Schmerzen im Kiefer, ein paar Tage Schonung – das wird vorübergehen.

Und doch schlich sich mit dem Erschrecken auch eine Erkenntnis ein, still und unerbittlich: Wir treten ein in einen Lebensabschnitt, in dem Stürze und Krankheiten nicht mehr Ausnahme, sondern Möglichkeit sind. Ein Alter, in dem wir lernen müssen, mit Zerbrechlichkeit zu leben. Mit dem Wissen, dass sich Leben nicht nur durch Großes verändert, sondern oft durch einen Moment, eine Sekunde Unachtsamkeit.

Ich wünsche meiner Frau und mir – wie uns allen – dass das Schicksal, das ich heute in den Augen meines alten Feuerwehrkameraden gesehen habe, uns erspart bleibt. Aber wer weiß das schon?

Was bleibt, ist das Staunen. Über die Kraft alter Verbindungen. Über die Weichheit der Erinnerung. Und über das Leben selbst, das auch an gewöhnlichen Tagen plötzlich ganz still werden kann – und uns mit einer Wahrheit konfrontiert, die wir allzu oft zu übersehen versuchen.

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Horst Schulte

Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe seit meiner Geburt (auch aus Überzeugung) auf dem Land.

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Schlagworte: Alltag Alter Krankenhaus

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10 Gedanken zu „Ein Vormittag, der mich beschäftigt“

  1. Lieber Horst, ich wünsche deiner Frau schnelle und gute Genesung.

  2. Su 11. Apr. 25 um 14:09

    Gute Besserung.

    Kraftsport im Alter soll helfen, fit zu bleiben.

  3. Fred Lang 9 11. Apr. 25 um 16:33

    Zitat: „Ich wünsche meiner Frau und mir – wie uns allen – dass das Schicksal, das ich heute in den Augen meines alten Feuerwehrkameraden gesehen habe, uns erspart bleibt. Aber wer weiß das schon?“

    Danke für die guten Wünsche, die ich gerne erwidere! Wie heißt es doch: „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“

  4. Lieber Horst, das Leben macht, was es will, und das ist gut so. Laßt uns mitmachen und lachen. Das gefällt Gott am besten. Ich bin sehr dankbar für alles, was gewesen ist, auch über Dich, Irmgard, und daß wir uns kennen. Danke für dieses lange Leben. Ich bin ein Wrack, aber es ist mir egal. Ich darf noch immer ich sein, der mitlerweile alte Dickkopf. Ich hoffe, ich seh Euch bald wieder. Deine Texte sind wunderbar.

  5. Ein richtig guter, nachdenklich stimmender Erlebnisbericht!
    Ab einem (un-)bestimmten Alter, das bei jedem anders sein kann, ist „Arbeit an der Gesundheit“ angesagt – das habe ich einsehen müssen. Also gesunde Ernährung, Bewegung, Kraftsport, Vermeiden von Giften, grundsätzlich Achtsamkeit bei dem, was man so tut… ich finde es ja nach Tageslaune mal ok, mal nervig, und bin bei Weitem nicht 100prozentig in all diesen Dingen perfekt. Wohne im 3.Stock und muss mittlerweile auf den Treppen eine Pause machen, die „Cardio-Fitness“ ist nicht so meins, immerhin bin ich dank Kraftsport und Yoga noch beweglich und so kräftig, dass es für Gartenarbeit etc. gut reicht.

    Dennoch denke ich, es kann mich jeden Tag erwischen… in meinem nächsten Umfeld ist gerade jemand an einem Hirnschlag ganz plötzlich verstorben. (Ein Mensch, der einen fitten/gesunden/bewegten Alltag hatte!) Deshalb bin ich nun motivierter denn je, „die letzten Dinge“ zu regeln, sprich: es den Hinterbleibenden einfach machen, mein Verschwinden abzuwickeln. Also nicht nur Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht, sondern auch alles dokumentieren und vorbereiten, was zur Abwicklung der div. Verträge, Blogs, physische Habe, Konten etc. nötig ist. Ich denke dran, aber es ist noch lang nicht alles fertig!

    Was bleibt: Carpe diem! 🙂 Mir tun durchaus die Leute ein bisschen leid, die jetzt schon mit 30 mit der „Arbeit an der Gesundheit“ anfangen, um ihre Longevity zu optimieren!

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