„Eigenbedarf“ – wenn ein Zuhause plötzlich zur Verfügungsmasse wird

Eigenbedarf trifft besonders ältere Mieter hart. Ein persönlicher Erfahrungsbericht und ein Appell für mehr Menschlichkeit im Mietrecht.

Horst Schulte

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Es gibt Worte, die in Paragrafen harmlos klingen, im Leben aber wie ein Fallbeil wirken. „Eigenbedarf“ ist solch ein Wort. Gesetzlich legitim, juristisch sauber – und doch: Für viele, die ihr Leben lang in einer Wohnung verbracht haben, ist es ein Stich ins Herz.

Wir waren damals Anfang vierzig, als unser Vermieter Eigenbedarf anmeldete. Die Schwiegermutter war krank, die Familie rückte zusammen – und wir mussten raus. Wir hatten Verständnis, ja, aber die Folgen waren spürbar und einschneidend. Der Umzug führte uns zu einem Desaster, das erst mit einem erneuten Wechsel endete. Heute, nach 33 Jahren im neuen Zuhause, blicken wir zurück – mit etwas Abstand, aber nie ohne Gefühl.

Und doch war unsere Erfahrung fast harmlos verglichen mit dem, was wir kürzlich erfuhren: Bekannte, Ende 60 und Anfang 70, verwurzelt in ihrem Zuhause, müssen gehen. Ein großer Hund ist auch betroffen. Allein dieser Umstand schränkt die Chancen ein. Eigenbedarf. Das trifft hart, tief — ja existenziell.

Wenn ein Paragraf das Leben auflöst

Was wie eine trockene Fußnote im Mietrecht wirkt, kann der Anfang einer seelischen Erschütterung sein. Diese Menschen haben Jahrzehnte gelebt, geliebt, getrauert in ihren vier Wänden. Sie sind mit der Wohnung alt geworden – sie ist kein Objekt, sondern ein Zuhause. Und nun soll dieses Zuhause aufgegeben werden, weil der Enkel studiert oder weil die Rendite nicht mehr stimmt.

Wie soll ein 70-Jähriger eine Wohnung finden in einem Markt, der auf Flexibilität, Mobilität und Kapital setzt? Härtefallregelungen? Theoretisch. In der Praxis zählt, wer den längeren Atem und das bessere Konto hat.

Alt und ohne Lobby

Der Begriff „sozialverträglich“ wird oft zitiert, wenn es um Eigenbedarf geht. Doch sind es wirklich faire Verfahren, wenn sich Rentner mit 1.100 € Monatsrente gegen Eigentümer mit juristischem Beistand behaupten sollen? Der Umzug selbst ist schon eine Qual, psychisch wie physisch. Die gewohnte Umgebung gibt Sicherheit – Nachbarn sind Anker, der Bäcker ein Stück Heimat.

Es wird viel geredet über Wohnungsbau und Mietpreisbremse – und wenig passiert. Der Wohnungsmarkt ist ein Haifischbecken, kein Schutzraum. Eigentum genießt Verfassungsrang – und das soll auch so sein. Doch wenn Besitz über Menschlichkeit triumphiert, versagt das System.

Ich habe über Heidi Reichinek von den Linken geschmunzelt, als sie laut über eine Abschaffung des Kapitalismus nachdachte. Und doch frage ich mich: Was ist das für ein Land, das es zulässt, dass alte Menschen entwürdigt aus ihrem Leben gerissen werden?

Ein Appell an Politik und Gesellschaft

Es braucht mehr als warme Worte. Es braucht:

  1. ein Mieterrecht, das den Schutz im Alter stärkt,
  2. Kriterien, die Eigenbedarf noch stärker begrenzen,
  3. und vor allem: gesellschaftliche Solidarität.

Wer jahrzehntelang seine Miete bezahlt hat, sollte nicht um sein Zuhause fürchten müssen. Und wir als Gesellschaft? Wir dürfen nicht zusehen. Wir müssen unsere Stimme erheben, nicht erst dann, wenn wir selbst betroffen sind.

Denn am Ende ist eine Wohnung nicht einfach ein Ort. Sie ist Geschichte, Geborgenheit, gelebtes Leben.

Ein Zuhause.

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Schlagworte: Alter Ältere Menschen Armut Eigenbedarf Kündigung Mieter Mietrecht

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