Das Allerschlimmste an diesem digitalen Sumpf (siehe diese erschĂŒtternde Sammlung von Beispielen) ist: Er verunreinigt unsere Gedanken â auch jener, die halbwegs normal agieren oder dies zumindest vorhaben. Die schleichende Gefahr, von solchen permanenten AusfĂ€llen infiziert zu werden, ist real â und dringlich genug, damit sich Soziologen und Medienwissenschaftler genauer damit auseinandersetzen. Sie tun das lĂ€ngst. Leider nur ohne Erfolg versprechende AnsĂ€tze. Ein Politiker hat kĂŒrzlich etwas von Lizenzerwerb fĂŒr die asozialen Netzwerke gesagt. Da war aber was los! Sofort sind sich alle einig: Das ist ein Eingriff in die Meinungsfreiheit. Beurteilt selbst, was von dem Dreck, den Armin Wolf zusammengetragen hat, Grenzen des Sagbaren ĂŒberschreitet. So ziemlich alles wĂŒrde man meinen. Aber das findet statt. Jeden Tag und immer wieder aufs Neue. Und X, um nur ein besonders krasses Beispiel zu nennen, hat immer noch Millionen User.
Der Riss in der digitalen Gemeinschaft
Wir haben es nicht nur mit Beleidigungen zu tun: Es sind VerĂ€chtlichmachung, Hetze, offene Aufforderung zur Gewalt â tĂ€glich, anonym und ohne Konsequenzen. Wenn ein einzelner Nutzer auf X Worte wie âverlogene Drecksauâ oder âNĂŒrnberg 2.0â verschleudert, befeuert das nicht nur den Hass â es entmenschlicht ganz gezielt diejenigen, die sich dem widersetzen. (arminwolf.at)
Leider geht keine heilende Wirkung von Empörung, Ekel und Abscheu aus. Ich beobachte die unheilvolle Wirkung auch an mir selbst.
Der Teufelskreis der AnonymitÀt
Was haben wir gelernt? Ob auf X, TikTok oder Facebook â die Plattformen verstecken sich hinter dem âHost-Privilegâ und verpflichten sich wenig. Selbst wenn ein eindeutiges Vergehen vorliegt, wird selten gelöscht, nicht selten bleibt der TĂ€ter anonym â völlig losgelöst von Recht oder Verantwortung. Ein Online-Hassposter kann weiter Textbomben abladen â grenzenlos und ungestraft.
Wie Gift zum Echo wird
Jetzt kommt der perfide Effekt: Wer tĂ€glich solche Texte liest, verĂ€ndert sich. Empörung wird zu Aggression. In der Hoffnung, sich zu wehren, kehren âNormaleâ die verbalen GeschĂŒtze um â sie wehren mit Ă€hnlichen Worten zurĂŒck. Ironisch, dass der Hass selbst angetrieben wird ĂŒber Gegenhass:
Dieser Teufelskreis verseucht Debatte und Diskurs â und bringt eine brutale Polarisierung â psychisch und sozial.
Die Wissenschaft muss hinsehen
Ich fordere nicht nur Empörung â in seiner ĂuĂerung nichts weiter als eine Art Gratismut, den jeder kosten- und folgenlos einsetzt, sondern mehr Analyse und Selbstreflexion.
Aus soziologischer Sicht mĂŒssen wir verstehen:
â Wie funktioniert dieses stille Ansteckungsprinzip?
â Wer verĂ€ndert sich zum digitalen Aggressor?
â Wie wirkt maskierte AnonymitĂ€t auf unser Empfinden?
Warum fĂŒhlt sich ein normaler Mensch plötzlich ermutigt, Dinge zu sagen, die er im echten Leben nie Ă€uĂern wĂŒrde?
â Wo endet legitime Kritik â und wo beginnt digitaler Lynchmob?
Wo liegt die Grenze zwischen erlaubt und toxisch â und wie bringen wir sie durch Ausbildung, Gesetz oder Plattformkultur zurĂŒck ins Gleichgewicht?
Perspektiven: Was können wir tun?
Empathische Medienbildung wĂ€re ein Anfang. Wir brauchen Schulungen, die uns fĂŒr unsere Reaktionsmuster sensibilisieren: Was löst ein fremder Hass-Post bei mir aus?
Transparente Plattformpolitik ist ebenso gefragt. Gesetze wie der DSA mĂŒssen endlich wirksam umgesetzt werden. Betreiber und Regulierer dĂŒrfen sich nicht weiter hinter WorthĂŒlsen verstecken.
Das ursprĂŒngliche Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) trat am 1.âŻOktoberâŻ2017 in Kraft und regelte BuĂgelder fĂŒr soziale Netzwerke bei strafbaren Inhalten. Es wurde bereits mehrfach ĂŒberarbeitet â zuletzt am 6.âŻMaiâŻ2024 (Art.âŻ29 G), was am 14.âŻMaiâŻ2024 in Kraft trat.
Ab Juni 2023 gewann auf EUâEbene der Digital Services Act (DSA) an Bedeutung. Damit gingen viele Regelungen des NetzDG auf einheitliche EU-Vorgaben ĂŒber und ein Teil des NetzDG wurde obsolet â das SelbstÂregulierungs-Gremium FSM stellte seine Arbeit ein.
Psychosoziale Bestandsaufnahmen könnten helfen, das PhĂ€nomen messbar zu machen. Wie viele Menschen fĂŒhlen sich durch die Sprache anderer zur Verrohung verleitet?
Und schlieĂlich braucht es eine neue Art von Zivilcourage â nicht bloĂ Mut, sondern auch Medienkompetenz, Haltung und ReflexionsfĂ€higkeit. In Schulen, Communitys, in digitalem Training.
Ein hoffnungsvoller Schluss
Wenn Wut auf Wut trifft, entsteht ein FlĂ€chenbrand. Aber wir dĂŒrfen nicht resignieren. Wenn Forscher, Plattformbetreiber, Medien, Justiz und wir alle gemeinsam hinschauen â strukturiert, systematisch, empathisch â dann können wir den giftigen Teich reinigen. Und die digitale Kultur zurĂŒckspulen in menschlichere Bahnen.
Denn: Abscheu muss uns nicht korrumpieren. Im Gegenteil: Sie kann uns Antrieb geben, einen echten, respektvollen Diskurs neu zu errichten â jenseits von Hass, jenseits von verbalen AusfĂ€llen.
Wir könnten abwarten, bis unsere Resilienz, wie das heute so schön heiĂt, endlich ausgewachsen ist (gibt es das ĂŒberhaupt?) und wir ĂŒber den Dingen stehen. Wir könnten uns allerdings auch wehren. Wir mĂŒssen nicht den Organen der Rechtspflege trauen, die uns erzĂ€hlen, dass dieser Staat nichts taugt und die Meinungsfreiheit mehr und mehr beschneiden möchte. Auf die mĂŒssen wir nicht hereinfallen und auch nicht ĂŒbertrieben empfindlich reagieren, wenn die ihre juristischen Siege lautstark, beinahe frenetisch, feiern. “Compact” hĂ€tte fĂŒr mich verboten bleiben können. Ein Gericht hat es anders entschieden. Damit mĂŒssen ich und all die klarkommen, die schon am nĂ€chsten vergeblichen Coup basteln, nĂ€mlich am Verbotsverfahren fĂŒr die AfD.