
Die Täter würden einfach neue Wege wählen
Stell dir vor, die Gesellschaft würde einem Gesetz zustimmen, das die Überwachung aller normalen Straßen erlaubt. Kameras an jeder Ecke, Sensoren an jeder Tür. Sobald jemand jedoch in verwinkelte Gassen oder unzugängliches Gebiet ausweicht, ist er oder sie unsichtbar und allenfalls noch mit Satelliten oder Drohnen zu identifizieren. Kontrolle wird zur Illusion. Wer schreit dann nach Regeln für die dunklen Gassen und abgelegenen Gebiete – und wer zahlt den Preis dafür? Auch den finanziellen.
Dieses Bild trifft den Kern der geplanten Chatkontrolle. Sie soll uns vor Kindesmissbrauch schützen, doch in Wahrheit öffnet sie ein Tor zur flächendeckenden Überwachung privater Kommunikation. Die Täter, denen man eigentlich beikommen möchte, werden sich anpassen – sie werden Dienste nutzen, die sich der Kontrolle entziehen, in anderen Ländern operieren, dezentral oder anonym. Jeder weiß das doch – eigentlich. Und was bleibt?
Ein europäischer Überwachungsapparat, der ehrliche Bürger beobachtet, während die wirklich Gefährlichen längst untergetaucht sind.
Wenn Kontrolle nur eine Bühne ist
Das Argument ist schlicht, aber stark: Wer Böses will, verschwindet aus dem Licht.
Wenn Messenger wie Signal, WhatsApp oder iMessage gezwungen werden, Chats automatisiert zu scannen, entsteht kein Schutzraum – nur ein neues Spielfeld. Die technische Struktur einer Chatkontrolle trifft immer zuerst die Falschen: Journalisten, Aktivisten, Ärztinnen, Whistleblower. Menschen, die sich auf vertrauliche Kommunikation verlassen.
Gesetze, die alles sehen wollen, verlieren ihren Gegenstand. Kontrolle wird zur Bühne – eine Inszenierung, die Sicherheit verspricht, während sie Vertrauen zerstört.
Wer die Chatkontrolle vorantreibt
Die Idee stammt nicht von einem Staat, sondern von der EU-Kommission selbst, genauer: Ylva Johansson, Innenkommissarin aus Schweden. Offiziell heißt der Entwurf Regulation to Prevent and Combat Child Sexual Abuse (CSAR).
Ihr Ziel: die Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen stoppen und Täter schneller identifizieren. Klingt richtig, wäre da nicht der Preis – die Aufgabe der privaten Verschlüsselung.
Denn eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, die noch „mitliest“, ist keine Verschlüsselung mehr. Sie ist eine Hintertür. Und wer sie einmal öffnet, wird sie irgendwann auch für andere Zwecke nutzen: Terrorabwehr, Desinformation, Urheberrechtsverletzungen, politische Extremismusbekämpfung. Der Hang zur Zweckausweitung ist systemimmanent.
Der aktuelle Stand 2025
Seit dem Sommer 2025 erlebt die Chatkontrolle eine Wiederbelebung. Unter der dänischen EU-Ratspräsidentschaft soll das Projekt im Herbst endlich durchgesetzt werden. Noch im Oktober 2025 könnte der Rat abstimmen – und Deutschland steht im Zentrum der Entscheidung.
Datum / Zeitspanne | Ereignis / Entwicklung | Bedeutung / Wirkung |
---|---|---|
Juli 2020 | EU beschließt Strategie zur Bekämpfung sexuellen Kindesmissbrauchs online | Legt die Grundlage für spätere Gesetzesinitiativen. EU-Strategie 2020 |
14. Juli 2021 | Interimsregel (Regulation (EU) 2021/1232) tritt in Kraft | Erlaubt freiwillige Scans, auch in verschlüsselten Diensten. Consilium – Timeline |
11. Mai 2022 | Offizieller Entwurf COM(2022) 209 der EU-Kommission | Beginn der Chatkontrolle-Debatte. EU-Parlament: Gesetzesentwurf |
2022–2023 | Heftige Debatten im EU-Parlament | Forderung: keine anlasslose Überwachung, Schutz der Verschlüsselung. EU CI |
Nov. 2023 | Erste Parlamentsposition | Abschwächung der Eingriffe, aber keine vollständige Streichung. |
2024 | Stillstand im Rat, keine Mehrheit | Mehrere Länder lehnen verpflichtende Scans ab. Captain Compliance |
29. April 2024 | Interimsregel verlängert bis 2026 | Freiwillige Scans bleiben erlaubt. Consilium – Übersicht |
Juli 2025 | Dänemark übernimmt Ratspräsidentschaft | Neuer Anlauf für verbindliche Chatkontrolle. EU CI |
12. Sept. 2025 | Deadline für nationale Positionen | Deutschland könnte entscheidend werden. ComplianceHub Wiki |
14. Okt. 2025 | Erwartetes Votum im Rat | Trilogverhandlungen mit Parlament könnten beginnen. Cointelegraph |
Mehr Details und Dokumente finden sich bei EDRi – CSA Regulation Dossier.
Hilfreich für die politische Bewertung des Vorschlages könnte diese kleine Tabelle sein, die ich mithilfe von ChatCPT erstellt habe.
Positionen der deutschen Parteien
Partei | Haltung | Begründung / Argumentationskern |
---|---|---|
SPD | Gespalten / eher skeptisch | Kinderschutz ja, aber Überwachungsgefahr. Innenministerium offener, Fraktion kritisch. |
CDU/CSU | Befürworter | „Sicherheit vor Datenschutz“. Moralischer Imperativ zum Kinderschutz. |
FDP | Gegner | Freiheit und Verschlüsselung sind unantastbar. Keine flächendeckende Kontrolle. |
Grüne | Gegner | Grundrechte, Technik, Dammbruch-Gefahr. Kein Zugriff auf private Kommunikation. |
AfD | Uneinheitlich | Offiziell gegen Überwachung, faktisch populistisch-opportunistisch. |
Die Linke | Gegner | Schutz der Demokratie durch Kommunikationsfreiheit. |
BSW | Tendenziell dagegen | EU-Skepsis, Datenschutz als nationale Souveränitätsfrage. |
Zwischen Illusion und Freiheit
Vielleicht ist das die eigentliche Tragik: Der Ruf nach Sicherheit erzeugt Gesetze, die andere wertvolle Errungenschaften zerstören. Eine Chatkontrolle wird Täter nicht aufhalten, sondern nur das Vertrauen der Gesellschaft untergraben. Die entsprechenden Tendenzen sind belegt. Wir alle verlieren dabei ein Stück Privatsphäre – und niemand gewinnt wirkliche Sicherheit.
Die dunklen Gassen bleiben. Nur das Licht wird schwächer.
Quellen:
EU-Kommission: CSAR-Vorschlag |
EDRi-Dossier zur Chatkontrolle |
Ich halte schon diesen Vergleich für sehr ungenau, denn die Chatkontrolle würde nicht nur Straßen und Türen überwachen, sie würde auch dein Wohnzimmer, Schlafzimmer, deine Küche, die Kinderzimmer und auch das Badezimmer überwachen. Sie geht also sehr viel tiefer als das, was im oben genannten Bild beschrieben wird. Menschen, die technisch versiert sind, können diese Überwachung natürlich umgehen, Normalbürger*Innen allerdings nicht.
@Sven: Ach, du bist nicht über den 1. Absatz hinweggekommen! Schade, eigentlich.
@Horst Schulte: ich habe den ganzen Artikel gelesen. Habe dort aber nichts gefunden, was dieses Bild aus dem ersten Absatz korrigiert. Am Rest habe ich nichts zu meckern, wollte aber nichts weiter dazu sagen, weil du bei mir im Blog ja geschrieben hast, dass wir unterschiedlicher Meinung sind und ich das bisher noch nicht entdecken konnte. Also habe ich nur angemerkt, was mich anspringt und das ist das Bild, was du im ersten Absatz beschreibst.