Das Spiel mit der „Verhältnismäßigkeit”

Wahrscheinlich ärge­re ich mich über so eine Geschichte vor allem, weil ich spü­re, wie sich die­se Gesellschaft in der Krise lang­sam aber sicher immer mehr aus­ein­an­der­di­vi­diert, und zwar ohne frem­de Hilfe von rechts zum Beispiel.

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Henning Tillmann hat­te zwar aus­führ­lich erklärt, dass es nicht das stren­ge Datenschutzverständnis der Deutschen wäre, das die „Corona-​App” am Funktionieren hin­de­re. Demnach wären also die (poli­tisch?) Verantwortlichen zu blöd oder min­des­tens zu igno­rant, um die App, die den Steuerzahler bis­her mehr als 60 Millionen Euro gekos­tet hat, so umzu­bau­en, dass sie doch noch etwas brin­gen würde. 

Datenschutzgenöle

Ich will nicht glau­ben, dass die deut­sche Spezialität, den Datenschutz sehr eng aus­zu­le­gen, nicht doch mehr damit zu tun hat. Aber es ist ein­fa­cher, „den Politikern” ein­mal mehr Unfähigkeit nach­zu­sa­gen. Während es den Nutzern von Facebook, Twitter oder – noch schlim­mer! – Amazon und den ande­ren „sozia­len” Netzwerken egal ist, wel­che ihrer per­sön­li­chen Daten die­se Firmen abgrei­fen, zie­ren sie sich, wenn es um Sachen geht, die für sie kei­nen hohen Stellenwert haben. Äußerst merk­wür­dig ist das, ent­spricht aber bei nähe­rem Hinsehen wohl dem Verständnis, das die Deutschen an den Tag legen, wenn es um Datenschutz geht.

Es han­de­le sich beim Breslauer Platz nicht um einen Kriminalitätsschwerpunkt, begrün­det das Gericht die Entscheidung. Ein Kölner Bürger hat gegen die Überwachung geklagt. Nach sei­nen Angaben hält er sich regel­mä­ßig am Breslauer Platz auf und sieht sei­ne Grundrechte auf Selbstbestimmung durch die ein­ge­schal­te­ten Kameras und Aufzeichnungen verletzt.

Kölner Polizei schal­tet Videoüberwachung am Breslauer Platz ab – Rheinland – Nachrichten – WDR

Richter spielen eine politische Rolle

Gleiches Thema, ande­re Baustelle. Die infor­mel­le Selbstbestimmung und die sagen­um­wo­be­ne Verhältnismäßigkeit spie­len auch bei die­sem die domi­nie­ren­de Rolle. Es geht um Kameras, die von der Kölner Polizei an drei neur­al­gi­schen Stellen auf­ge­stellt wur­den. Die Hintergründe mag man im Detail hier nach­le­sen. Ich erin­ne­re mich, dass min­des­tens an einem der drei Plätze Kriminelle mas­siv ihr Unwesen trie­ben. An einem ande­ren ran­da­lier­ten (vor Corona) regel­mä­ßig Feierwütige. Die Polizei war nicht mehr Herr der Lage und sah sich genö­tigt, letzt­end­lich unter­stützt von der Politik, dort Kameras zu instal­lie­ren. Die Lage soll sich seit­her beru­higt haben. Jedenfalls hat die Anzahl der dies­be­züg­li­chen Pressemeldungen rapi­de abgenommen. 

Nun hat ein Kölner gegen die Kameras geklagt. Er fühlt sich in sei­ner infor­mel­len Selbstbestimmung beein­träch­tigt. Kölner Richter gaben dem Mann recht. Die Kameras müs­sen weg. Dass die Kameras zunächst abge­schal­tet wer­den bis zur Entscheidung in der Hauptsache ist für mich kein Trost. Vielmehr zeigt es, wie vie­le Deutsche ticken. Wie vie­le Gerichtsverfahren auf­grund sol­cher „Beeinträchtigungen” anhän­gig sind und wie oft Richter sol­chen Leuten recht geben, ist mir nicht bekannt. Ich fra­ge mich, was die Richter den Leuten sagen wer­den, die an sol­chen Stellen Opfer kri­mi­nel­ler Machenschaften wer­den. Dann will es natür­lich kei­ner gewe­sen sein. Die Leute ver­ste­cken sich hin­ter recht­lich unan­greif­ba­ren Entscheidungen irgend­wel­cher Richter und auch die über­neh­men für die Folgen ihres Handelns kei­ne Verantwortung. 

Kein Kriminalitätsschwerpunkt mehr, sagt ein Bürger, ein Richter stimmt zu

NRWs Regierung hat­te erst im letz­ten Jahr eine Liste von Kriminalitätsschwerpunkten vor­ge­legt. In die­ser war auch der Breslauer Platz ent­hal­ten. Allerdings sol­len die letz­tes Jahr als kri­tisch genann­ten Orte dies nur von 2010 bis 2017 gewe­sen sein. 2018 war alles ganz anders. Ob die Kölner Bürger, ins­be­son­de­re die­je­ni­gen, die in den betref­fen­den Gebieten leben, das eben­falls so sehen? 

Was inter­es­sie­ren Richter oder sich beläs­tigt füh­len­de Bürger, was Medien dies­be­züg­lich berich­ten? Also bei­spiels­wei­se sowas hier: „Dabei konn­te erst am Montag ein mut­maß­li­cher Brandstifter mit Hilfe der Kameras iden­ti­fi­ziert wer­den.

Mich erin­nert das sehr an die Corona-​Maßnahmen, die von Anwälten und Richtern des­halb aus­ge­he­belt wur­den, weil die­se als „unver­hält­nis­mä­ßig” erkannt wur­den. Verantwortung für die Folgen sol­cher Entscheidungen müs­sen Richter nicht über­neh­men. Wir alle müs­sen damit klar­kom­men. Ist ja alles total rechts­staat­lich und des­halb voll in Ordnung.


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8 Gedanken zu „Das Spiel mit der „Verhältnismäßigkeit”“

  1. Die Corona-​Warn-​App (und auch der weni­ger Google-​abhängige Fork namens „Corona Contact Tracing Germany”, den ich ein­set­ze) funk­tio­niert ein­wand­frei und leis­tet genau das, was sie soll.
    Das völ­lig unbe­frie­di­gen­de Rückverfolgen von Kontakt- und Infektionsketten war immer Aufgabe der Gesundheitsämter. Wenn die­se aus Mangel an Personal und moder­ner Kommunikationsausstattung dazu nicht (mehr) in der Lage sind, dann liegt das nicht an der App. Diese war als nut­zer­sei­ti­ges Hilfsmittel zur eige­nen Kontaktkontrolle gedacht, mit dem der Nutzer selbst die Gesundheitsämter unter­stüt­zen kön­nen soll. Genau das machen die Apps auch.
    Nicht vor­han­de­ner poli­ti­scher Wille sei­tens der Politik und Unvermögen sei­tens der kom­mu­na­len Gesundheitsbehörden sind für die Mängel in der Infektions-​Rückverfolgung verantwortlich.
    Angeblich aus­ufern­den Datenschutz in Deutschland zu bekla­gen (und natür­lich Einschränkungen zu for­dern) ist ein wei­te­rer bil­li­ger Versuch, Datenschutz zum Nutzen von Sicherheitsbehörden und Wirtschaft auszuhebeln.
    Was mich angeht: Diese App ver­wen­de ich aus­schließ­lich so, wie sie bis jetzt gedacht und ein­ge­rich­tet war. Wird dar­an irgend­wie geschraubt, um nach­voll­zieh­ba­re Bewegungsprofile anle­gen zu las­sen und aus­wert­bar zu machen, fliegt sie sofort vom Smartphone runter.

  2. Als ich sei­ner­zeit ent­schie­den hat­te, die­se App zu instal­lie­ren und ein­zu­set­zen, war mir schon klar, dass es ziem­lich unwahr­schein­lich sein dürf­te, dass sie mir jemals einen kri­ti­schen Kontakt anzei­gen würde.

    Ich woh­ne in einer Großstadt mit durch­schnitt­lich rund 700.000 EW. Selbst bei einer 7‑Tage-​Inzidenz von etwa 125 (dürf­ten wir jetzt haben) ist es rela­tiv unwahr­schein­lich, dass mir ein Infizierter begeg­net. Noch dazu einer, der die App lau­fen hat, bei viel­leicht 23 Mio. Installationen.

    Dort, wo du wohnst, soll­te es noch viel unwahr­schein­li­cher sein.

    In Frankfurt lau­fen oder sit­zen jeden Tag nur ein paar weni­ge Tausend Erkrankte und Infizierte her­um. Wir haben heu­te eine 7‑Tage-​Fallzahl von 799, das ent­spricht einer 7‑Tage-​Inzidenz von 104,2. Insgesamt gab es seit Beginn der Pandemie gemel­de­te 23.574 Infizierte. Davon soll­ten ca. 21.000 längst gene­sen sein.

    Man hat am Anfang viel zuviel in die­se App rein­ge­dich­tet und rein­ge­hofft, und jetzt ist die Enttäuschung groß.

  3. Ich konn­te heu­te Nachmittag lei­der nicht wei­ter­schrei­ben, auch der obi­ge Kommentar war noch nicht so ganz fer­tig. Mein Tablet oder der Firefox dar­auf woll­te nicht mehr so rich­tig mit­spie­len beim Eingeben von Zeichen, ich bin froh, den Text so abset­zen zu kön­nen. Der Cursor sprang immer irgend­wo hin, nur nicht dort­hin, wo ich tip­pen woll­te. Egal. Die Überwachungskameras.

    Ich bin da eigent­lich zwei­felnd, aber:

    Auf einem von Frankfurts Hauptplätzen der Innenstadt, der Konstablerwache auf der Zeil (auf der zwei­mal wöchent­lich gro­ße Erzeugermärkte statt­fin­den), nahm vor eini­gen Jahren die Präsenz jun­ger bis sehr jun­ger marok­ka­ni­scher Drogendealer der­art dreist zu, dass die sich wie die Herren des Platzes auf­führ­ten und sogar Passanten dro­hend angin­gen, die ihnen ein­fach nur bei ihren Einkaufsbummeln zu nahe kamen.

    Nach einer län­ge­ren Protestphase sehr vie­ler Bürger beschloss die Stadt, dort eine Reihe von Sicherheitskameras gut sicht­bar zu instal­lie­ren, die per­ma­nent an das Netz der Polizei ange­schlos­sen sind.

    Seitdem ist Ruhe auf dem Platz, die maro­die­ren­den Dealerbanden haben sich ver­zo­gen auf stil­le­re Örtchen – wo sie aber nach wie vor und ver­stärkt beob­ach­tet werden.

    Das fin­de ich gut: Die Gesellschaft muss die­ses kri­mi­nel­le Volk per Polizei-​Druck stän­dig unter Druck set­zen, ihm kei­nen Freiraum zum Ausbreiten gewäh­ren. Das eigent­li­che Problem wird damit zwar nicht besei­tigt, aber die Beteiligten wer­den dar­an gehin­dert, sich nach Belieben frei­en Handlungsraum in den Städten zu erdreisten.

    Ich jeden­falls füh­le mich in sol­chen Fällen nicht in mei­ner infor­ma­tio­nel­len Selbstbestimmung beein­träch­tigt. In sol­chen Fällen recht­fer­tigt sich für mich der Einsatz von Überwachungstechnik. Für mich ist das höhe­re Gut mein (und jedes Bürgers) Anspruch dar­auf, mich in einer eigent­lich zivi­li­sier­ten Gesellschaft frei, unbe­hel­ligt und unge­fähr­det von kri­mi­nel­lem Gesindel bewe­gen zu können.

    Meine Zustimmung endet aller­dings dann, wenn Kommunen über­le­gen, dass es ja eigent­lich an jedem Platz in der Stadt irgend­wann rein theo­re­tisch zu etwas nicht näher Bestimmtem kom­men könn­te und des­we­gen rein pro­phy­lak­tisch mal Überwachungstechnik ein­rich­ten. Da hört’s dann auf.

  4. Aber ande­rer­seits, das fiel mir gera­de beim Nachdenken ein:

    Die sicht­ba­re Kriminalität auf öffent­li­chen Plätzen ist kein Problem unse­rer Zeit. Ich habe manch­mal den Eindruck, dass Menschen das so sehen. Nein, frü­her war das nicht bes­ser, ganz im Gegenteil. Auch in frü­he­ren Jahrhunderten war das immer ein gewöhn­li­cher Aspekt des Stadtlebens. Nur waren die Städte nicht so mas­siv bevöl­kert wie heu­te. (Auf einen Kriminellen kamen weni­ger unbe­schol­te­ne Bürger)

    Und was noch viel schlim­mer war: Außerhalb der Stadtgrenzen (die meis­tens mit Wachen – Wachtürmen – und oft noch mit Mauern abge­rie­gelt waren) war man als Reisender prak­tisch unmit­tel­bar Freiwild für alles bewaff­ne­te Gesindel, was sich dort drau­ßen herumtrieb.

    Man stel­le sich das mal heu­te vor!

    Ich kann da immer wie­der Dieter Nuhr zustim­men, wenn er sich über man­ches beque­mes Genörgel aus­lässt: Wir ver­ges­sen ger­ne, wie unfass­bar gut es uns heu­te geht, wie unver­gleich­lich sicher unser aller Leben gewor­den ist gegen­über frü­he­ren Zeiten.

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