Revolution? Nicht mit uns – Warum Deutschland im Status quo verharrt

Warum Deutschland trotz wach­sen­der Krisen kei­ne revo­lu­tio­nä­re Veränderung anstrebt – eine Analyse der demo­gra­fi­schen und gesell­schaft­li­chen Faktoren.

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Wie so oft ist mein Kommentar zum Thema etwas lang gera­ten. Deshalb habe ich mir über­legt: Mach einen Blogbeitrag draus, könn­te sich lohnen.

Folgend also mei­ne Antwort auf die­sen dis­ku­tier­ten Beitrag (hier ein Auszug):

Liebe Linke, das kapi­ta­lis­ti­sche System ist eine Idiotie. Allein bei bekann­ter­ma­ßen end­li­chen Ressourcen auf Wachstum, Wachstum, Wachstum zu set­zen ist so dumm, dass es weh tut. Von den Schäden am glo­ba­len Ökosystem gar nicht zu reden. Und wei­ter: Dass an einem System etwas falsch ist, in dem sehr weni­ge reich bis sehr reich sind und der Rest immer wei­ter ver­armt, mer­ken die obe­ren Zehntausend nicht. Wer hier arm ist, der ist wohl zu doof und auf jeden Fall selbst schuld, gehört sogar dafür bestraft. Das ist Lesart, seit ich den­ken kann.

Quelle

Ich glau­be, dass wir in Deutschland der­zeit kaum Potenzial für tief­grei­fen­de gesell­schaft­li­che oder wirt­schaft­li­che Alternativen zum bestehen­den System erken­nen kön­nen – nicht, weil die Ideen feh­len wür­den, son­dern weil der Nährboden dafür schlicht nicht vor­han­den ist.

Ein wesent­li­cher Grund dafür liegt in der demo­gra­fi­schen Entwicklung unse­res Landes. Deutschland ist – gemes­sen am Altersdurchschnitt – eines der ältes­ten Länder der Welt. Die Mehrheit der Bevölkerung gehört zu Alterskohorten, die bereits vie­le gesell­schaft­li­che Umbrüche mit­er­lebt hat: von den blei­er­nen Jahren des Kalten Kriegs über die sozia­len Aufbrüche der 68er, die Verwerfungen der Wiedervereinigung bis hin zur Globalisierung und dem digi­ta­len Umbruch.

Wer all das durch­lebt hat – und oft auch müh­sam bewäl­ti­gen muss­te –, der hegt heu­te vor allem ein Bedürfnis nach Sicherheit, Stabilität und Berechenbarkeit. In einer älter wer­den­den Gesellschaft ist es kaum ver­wun­der­lich, dass radi­ka­le Kurswechsel oder revo­lu­tio­nä­re Umwälzungen nicht auf frucht­ba­ren Boden fal­len. Es fehlt schlicht die Kraft, die Ungewissheit, aber auch die Ungeduld, die sol­che Bewegungen typi­scher­wei­se antreiben.

Stattdessen sehen wir eine Art still­schwei­gen­de Übereinkunft, die man als kom­for­ta­blen Konservatismus bezeich­nen könn­te: Lieber das bestehen­de System in all sei­nen Ungerechtigkeiten akzep­tie­ren, als das Risiko eines radi­ka­len Umbruchs ein­ge­hen. Wir neh­men gesell­schaft­li­che Verwerfungen, wach­sen­de Ungleichheiten oder eine fort­schrei­ten­de Erosion öffent­li­cher Institutionen in Kauf – solan­ge es gelingt, den eige­nen Alltag eini­ger­ma­ßen unge­stört zu führen.

Diese Haltung ist übri­gens nicht Ausdruck von Feigheit oder Ignoranz. Sie ist viel­mehr das Ergebnis bio­gra­fi­scher Prägungen und eines legi­ti­men Bedürfnisses nach Ruhe im letz­ten Lebensdrittel. Es ist schwer, mit Anfang 70 noch die­sel­be revo­lu­tio­nä­re Energie zu ver­spü­ren wie mit 20. Und so domi­nie­ren in Politik und Öffentlichkeit zuneh­mend die Stimmen derer, die bewah­ren wol­len – nicht die derer, die ver­än­dern wollen.

In frü­he­ren Jahrzehnten, etwa in den 1960ern oder wäh­rend der Proteste gegen den NATO-​Doppelbeschluss in den 1980ern, war die Gesellschaft nicht nur jün­ger, son­dern auch hung­ri­ger auf Veränderung. Die Sehnsucht nach einer gerech­te­ren, freie­ren Welt wur­de von Millionen jun­ger Menschen getra­gen. Diese demo­gra­fi­sche Wucht fehlt heute.

Die Jugend von heu­te? Sie ist zah­len­mä­ßig schwä­cher (Anteil der über 65-​Jährigen), stär­ker indi­vi­dua­li­siert, häu­fig erschöpft vom Krisenmodus – von Pandemie, Klimakrise, Kriegsängsten, Zukunftsunsicherheiten. Der Druck ist groß, doch der gesell­schaft­li­che Raum zur Entfaltung ist klein. Was fehlt, ist nicht nur der Wille zur Revolution, son­dern auch der Glaube, dass sie über­haupt noch mög­lich ist.

Wenn also von „Systemwechsel“ oder gar „Revolution“ die Rede ist, dann klingt das für vie­le in Deutschland nicht nach Hoffnung – son­dern nach Bedrohung. Und so bleibt die Sehnsucht nach Alternativen oft theo­re­tisch, nost­al­gisch oder aka­de­misch. Die Praxis dage­gen bleibt, wie sie ist: fest ver­an­kert im Status quo.

Höre ich die „Vortragsreihe” der Heidi Reichinnek, Linke, drängt sich der Gedanke auf, ich wäre im fal­schen Film. So haben wir aber Anfang der 1970-​er Jahre dis­ku­tiert. Idealistische Spinner. Das war damals der Überbegriff, den Eltern und gene­rell älte­re Menschen für uns hat­ten. Was wuss­ten wir schon vom Leben? Deshalb soll­ten wir mal schön die Klappe hal­ten. Das taten wir nicht. Wir stän­ker­ten wei­ter und kämpf­ten – gele­gent­lich auch mit Erfolg. Es waren beschei­de­ne Ziele. Ich rede von einer Jugendzentrumsinitiative, die lan­ge brauch­te, um das Projekt schließ­lich in der Gemeinde durch­zu­set­zen. Es gab zwar vie­le Diskotheken, aber ein Ort für jun­ge Menschen war auch frü­her rar. Allein in mei­nem Wohnort exis­tier­ten damals sage und schrei­be vier Diskotheken. Heute regen wir uns auf, wenn die Poser ihre PS-​starken Boliden durch die Straßen trei­ben. Mich stört das zwar auch, aber wohin sol­len sie?


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