Revolution? Nicht mit uns – Warum Deutschland im Status quo verharrt

War­um Deutsch­land trotz wach­sen­der Kri­sen kei­ne revo­lu­tio­nä­re Ver­än­de­rung anstrebt – eine Ana­ly­se der demo­gra­fi­schen und gesell­schaft­li­chen Faktoren.

4 Minute/n


Merken

0

Wie so oft ist mein Kom­men­tar zum The­ma etwas lang gera­ten. Des­halb habe ich mir über­legt: Mach einen Blog­bei­trag draus, könn­te sich lohnen.

Fol­gend also mei­ne Ant­wort auf die­sen dis­ku­tier­ten Bei­trag (hier ein Auszug):

Lie­be Lin­ke, das kapi­ta­lis­ti­sche Sys­tem ist eine Idio­tie. Allein bei bekann­ter­ma­ßen end­li­chen Res­sour­cen auf Wachs­tum, Wachs­tum, Wachs­tum zu set­zen ist so dumm, dass es weh tut. Von den Schä­den am glo­ba­len Öko­sys­tem gar nicht zu reden. Und wei­ter: Dass an einem Sys­tem etwas falsch ist, in dem sehr weni­ge reich bis sehr reich sind und der Rest immer wei­ter ver­armt, mer­ken die obe­ren Zehn­tau­send nicht. Wer hier arm ist, der ist wohl zu doof und auf jeden Fall selbst schuld, gehört sogar dafür bestraft. Das ist Les­art, seit ich den­ken kann.

Quel­le

Ich glau­be, dass wir in Deutsch­land der­zeit kaum Poten­zi­al für tief­grei­fen­de gesell­schaft­li­che oder wirt­schaft­li­che Alter­na­ti­ven zum bestehen­den Sys­tem erken­nen kön­nen – nicht, weil die Ideen feh­len wür­den, son­dern weil der Nähr­bo­den dafür schlicht nicht vor­han­den ist.

Ein wesent­li­cher Grund dafür liegt in der demo­gra­fi­schen Ent­wick­lung unse­res Lan­des. Deutsch­land ist – gemes­sen am Alters­durch­schnitt – eines der ältes­ten Län­der der Welt. Die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung gehört zu Alters­ko­hor­ten, die bereits vie­le gesell­schaft­li­che Umbrü­che mit­er­lebt hat: von den blei­er­nen Jah­ren des Kal­ten Kriegs über die sozia­len Auf­brü­che der 68er, die Ver­wer­fun­gen der Wie­der­ver­ei­ni­gung bis hin zur Glo­ba­li­sie­rung und dem digi­ta­len Umbruch.

Wer all das durch­lebt hat – und oft auch müh­sam bewäl­ti­gen muss­te –, der hegt heu­te vor allem ein Bedürf­nis nach Sicher­heit, Sta­bi­li­tät und Bere­chen­bar­keit. In einer älter wer­den­den Gesell­schaft ist es kaum ver­wun­der­lich, dass radi­ka­le Kurs­wech­sel oder revo­lu­tio­nä­re Umwäl­zun­gen nicht auf frucht­ba­ren Boden fal­len. Es fehlt schlicht die Kraft, die Unge­wiss­heit, aber auch die Unge­duld, die sol­che Bewe­gun­gen typi­scher­wei­se antreiben.

Statt­des­sen sehen wir eine Art still­schwei­gen­de Über­ein­kunft, die man als kom­for­ta­blen Kon­ser­va­tis­mus bezeich­nen könn­te: Lie­ber das bestehen­de Sys­tem in all sei­nen Unge­rech­tig­kei­ten akzep­tie­ren, als das Risi­ko eines radi­ka­len Umbruchs ein­ge­hen. Wir neh­men gesell­schaft­li­che Ver­wer­fun­gen, wach­sen­de Ungleich­hei­ten oder eine fort­schrei­ten­de Ero­si­on öffent­li­cher Insti­tu­tio­nen in Kauf – solan­ge es gelingt, den eige­nen All­tag eini­ger­ma­ßen unge­stört zu führen.

Die­se Hal­tung ist übri­gens nicht Aus­druck von Feig­heit oder Igno­ranz. Sie ist viel­mehr das Ergeb­nis bio­gra­fi­scher Prä­gun­gen und eines legi­ti­men Bedürf­nis­ses nach Ruhe im letz­ten Lebens­drit­tel. Es ist schwer, mit Anfang 70 noch die­sel­be revo­lu­tio­nä­re Ener­gie zu ver­spü­ren wie mit 20. Und so domi­nie­ren in Poli­tik und Öffent­lich­keit zuneh­mend die Stim­men derer, die bewah­ren wol­len – nicht die derer, die ver­än­dern wollen.

In frü­he­ren Jahr­zehn­ten, etwa in den 1960ern oder wäh­rend der Pro­tes­te gegen den NATO-Dop­pel­be­schluss in den 1980ern, war die Gesell­schaft nicht nur jün­ger, son­dern auch hung­ri­ger auf Ver­än­de­rung. Die Sehn­sucht nach einer gerech­te­ren, freie­ren Welt wur­de von Mil­lio­nen jun­ger Men­schen getra­gen. Die­se demo­gra­fi­sche Wucht fehlt heute.

Die Jugend von heu­te? Sie ist zah­len­mä­ßig schwä­cher (Anteil der über 65-Jäh­ri­gen), stär­ker indi­vi­dua­li­siert, häu­fig erschöpft vom Kri­sen­mo­dus – von Pan­de­mie, Kli­ma­kri­se, Kriegs­ängs­ten, Zukunfts­un­si­cher­hei­ten. Der Druck ist groß, doch der gesell­schaft­li­che Raum zur Ent­fal­tung ist klein. Was fehlt, ist nicht nur der Wil­le zur Revo­lu­ti­on, son­dern auch der Glau­be, dass sie über­haupt noch mög­lich ist.

Wenn also von „Sys­tem­wech­sel“ oder gar „Revo­lu­ti­on“ die Rede ist, dann klingt das für vie­le in Deutsch­land nicht nach Hoff­nung – son­dern nach Bedro­hung. Und so bleibt die Sehn­sucht nach Alter­na­ti­ven oft theo­re­tisch, nost­al­gisch oder aka­de­misch. Die Pra­xis dage­gen bleibt, wie sie ist: fest ver­an­kert im Sta­tus quo.

Höre ich die „Vor­trags­rei­he“ der Hei­di Rei­chin­nek, Lin­ke, drängt sich der Gedan­ke auf, ich wäre im fal­schen Film. So haben wir aber Anfang der 1970-er Jah­re dis­ku­tiert. Idea­lis­ti­sche Spin­ner. Das war damals der Über­be­griff, den Eltern und gene­rell älte­re Men­schen für uns hat­ten. Was wuss­ten wir schon vom Leben? Des­halb soll­ten wir mal schön die Klap­pe hal­ten. Das taten wir nicht. Wir stän­ker­ten wei­ter und kämpf­ten – gele­gent­lich auch mit Erfolg. Es waren beschei­de­ne Zie­le. Ich rede von einer Jugend­zen­trums­in­itia­ti­ve, die lan­ge brauch­te, um das Pro­jekt schließ­lich in der Gemein­de durch­zu­set­zen. Es gab zwar vie­le Dis­ko­the­ken, aber ein Ort für jun­ge Men­schen war auch frü­her rar. Allein in mei­nem Wohn­ort exis­tier­ten damals sage und schrei­be vier Dis­ko­the­ken. Heu­te regen wir uns auf, wenn die Poser ihre PS-star­ken Boli­den durch die Stra­ßen trei­ben. Mich stört das zwar auch, aber wohin sol­len sie?

Diesen Beitrag teilen:
0CDD5CFF 182F 485A 82C6 412F91E492D0
Horst Schulte
Rentner, Blogger & Hobbyfotograf
Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe seit meiner Geburt (auch aus Überzeugung) auf dem Land.

Schlagworte: DemografischerWandel Gesellschaftsanalyse

Quelle Featured-Image: Digitales Gemälde einer knorrigen Eiche vor Berli...
Anzahl Wörter im Beitrag: 737
Aufgerufen gesamt: 294 mal
Aufgerufen letzte 7 Tage: 4 mal
Aufgerufen heute: 1 mal

Lass deinen Gedanken freien Lauf


Hier im Blog werden bei Abgabe von Kommentaren keine IP-Adressen gespeichert! Deine E-Mail-Adresse wird NIE veröffentlicht! Du kannst anonym kommentieren. Dein Name und Deine E-Mail-Adresse müssen nicht eingegeben werden.


✅ Beitrag gemerkt! Favoriten anzeigen
0
Share to...
Your Mastodon Instance