Es ist lange her, dass mich eine Serie so tief bewegt hat wie Adolescence. Vier Folgen, die mit ihrer kühnen One-Shot-Technik mehr sind als bloßes Fernsehen – sie sind Atem, sie sind Zerrissenheit, sie sind ein Spiegel in die Abgründe, die wir allzu gern verdrängen.

Die Kritiken überschlagen sich zu Recht: stilistisch kühn, grandios gespielt, ein Meisterwerk des seriellen Erzählens. Doch was bleibt, wenn der Abspann verklungen ist? Für mich: Fragen, die lauter hallen als jede Kameraeinstellung.
Der Vater als Herzschlag der Serie
Stephen Graham trägt die Geschichte mit einer Intensität, die kaum zu ertragen ist. Sein Blick, sein Schweigen, seine brüchige Liebe – all das macht klar: Nicht nur das Opfer und seine Familie sind betroffen, sondern auch die Angehörigen des Täters sind zu Opfern geworden. Opfer des Geschehens, Opfer der Stigmatisierung, Opfer einer Gesellschaft, die keinen Raum für ihre Trauer vorsieht.
Die Darstellung Grahams ist mehr als Schauspielkunst. Sie ist eine seelische Offenbarung. Wer ihm zusieht, versteht plötzlich, wie nah Liebe und Scham, Wut und Ohnmacht beieinander liegen.
Schuld und ihre Zerbrechlichkeit
Die Netflix-Serie lenkt den Blick weg von der simplen Frage nach dem Wer hin zum Warum. Sie zeigt, wie wir mit dem Begriff Schuld umgehen, wenn Kinder zu Tätern werden. In unserer Gesellschaft klagen wir oft, dass zu viel Verständnis für Täter aufgebracht wird, während die Opfer im Schatten bleiben. Adolescence hält diesen Vorwurf im Spiegel: Das Opfer und seine Familie treten fast nicht in Erscheinung. Und doch ist gerade diese Leerstelle die größte Provokation.
Denn während wir nach klaren Zuschreibungen gieren, enthüllt die Serie die Ambivalenz: Der Täter ist auch ein Kind. Und seine Familie trägt die Last einer Schuld, die nicht ihre eigene ist.
Der dritte Teil: Das Gespräch mit der Gutachterin
Kaum eine Episode hat mich so erschüttert wie das fast kammerartige Zwiegespräch zwischen dem Beschuldigten und der Gutachterin. Das erste schriftliche Gutachten? Versinkt in Bedeutungslosigkeit. Hier zählt nicht das Papier, sondern die Begegnung.
Die Gutachterin nähert sich dem Jungen mit Empathie, ohne ihre Professionalität zu verlieren. Und gerade darin liegt ihre Tragik. Sie erkennt, dass sie es mit einem Kind zu tun hat, das nach Resonanz sucht – und doch in Mustern verharrt, die destruktiv bleiben. Am Ende ist es diese Erfahrung, die sie zerbricht. Nicht die Diagnose an sich, sondern die Erkenntnis, dass Nähe nicht immer rettet, dass Verstehen nicht immer genügt.
Ihr Zusammenbruch ist mehr als ein dramaturgischer Effekt. Er symbolisiert die Ohnmacht aller, die versuchen, das Unbegreifliche zu begreifen.
Kinder und Verbrechen: ein verzerrtes Bild?
Die Serie weckt die Frage, ob Kinder heute häufiger solche unvorhersehbaren, grausamen Taten begehen. Doch die Statistiken zeichnen ein anderes Bild: Schwere Gewaltstraftaten unter Kindern und Jugendlichen sind seit den 1990er Jahren eher rückläufig. Was sich verändert hat, ist unsere Wahrnehmung.
Heute wird jeder Fall in Medien und sozialen Netzwerken potenziert, diskutiert, zum gesellschaftlichen Menetekel erklärt. Hinzu kommen neue Formen von Gewalt: digitale Demütigungen, Cybermobbing, das Teilen von Grausamkeit in Echtzeit. Es sind diese Dimensionen, die den Eindruck verstärken, wir seien mit einer neuen Welle des Schreckens konfrontiert – obwohl die Wirklichkeit komplexer ist.
Eine Serie als gesellschaftlicher Weckruf
Dass Adolescence in Großbritannien politische Debatten über Social-Media-Regulierung und schulfreie Smartphones auslöste, ist kein Zufall. Die Serie verweigert die einfache Antwort. Sie zeigt Täter, die Kinder sind, und Kinder, die Täter werden. Sie zeigt Familien, die an Schuld zerbrechen, die sie nicht tragen wollten.
Und sie zeigt uns Zuschauern, wie unbequem es ist, die Grautöne auszuhalten.
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