Migranten bleiben sich selbst überlassen

Das Schicksal von Migranten scheint vie­len egal gewor­den zu sein. Zu sehr sind sie mit ande­ren Problemen beschäftigt. 

stroke="currentColor" stroke-width="1.5" stroke-linejoin="round" stroke-linecap="round" /> 3 Kommentare

Woran liegt es, dass das Schicksal der Migranten in Bosnien-​Herzegowina oder auf der grie­chi­schen Insel Lesbos kaum noch für Empörung sorgt? Ja, das war mal anders. Vor Corona. Jedenfalls ver­mu­te ich, dass das feh­len­de Interesse an die­ser Tragödie damit zu tun hat, dass wir – wie man so schön sagt – mit unse­ren eige­nen, eben den Corona-​Problemen, zu kämp­fen haben.

Ich mag nicht glau­ben, dass die­se Gleichgültigkeit dar­auf zurück­zu­füh­ren sein könn­te, dass es Migranten waren, die ihre Notunterkünfte und Zelte ange­zün­det haben. Für ein ver­än­der­tes Bild auf die Lage kann auch das Fehlverhalten eini­ger weni­ger aus­rei­chen. Solche Vorfälle sind ein gefun­de­nes Fressen für die AfD und ihre rechts­ra­di­ka­len Anhänger. Auf die­se Art Mensch, die sich ungern als Nazis beschimp­fen las­sen, stößt man zu häu­fig. Und doch erkennt man sie an den vie­len Kommentaren, die jede Art von Empathie – vor allem für Migranten – ver­mis­sen lassen. 

Ich ste­he all­dem wie die­ser typi­sche, nai­ve Gutmensch gegen­über, wenn ich im Fernsehen Menschen bar­fuß in Adiletten durch den Schnee stap­fen sehe. Was den­ken wir, wenn wir – ach so gequält von den Corona-​Auflagen der Regierung – von Babys hören, die in den nas­sen und kal­ten Zelten von Ratten ange­fres­sen wer­den? Glauben wir einem grie­chi­schen Minister, der die Schilderung von Bundesminister Müller als Lüge abtut? So ruhig, wie es nach die­sen Meldungen war, fürch­te ich, wer­den die meis­ten gedacht haben: „Ach lasst mich damit in Ruhe.” Es geschieht nichts. Wir über­las­sen die­se Menschen ihrem Schicksal. Gleichzeitig reden Politiker von irgend­wel­chen euro­päi­schen Werten. Es klingt wie Hohn! 

Der Schmerz, den die­se Beobachtungen bei einem nor­mal emp­find­sa­men Menschen aus­löst, kann sich nur ins Unermessliche stei­gern, wenn er rea­li­siert, dass die­se igno­ran­te Handlungsweise nur vor allem des­halb vor­herrscht, weil huma­ni­tä­re Maßnahmen kein poli­ti­sches Kapital abwer­fen. Es ist nicht mehrheitsfähig.

Politstrategen hat­ten das Schicksal von Migranten bereits vor Corona als Verlustbringer iden­ti­fi­ziert und fol­ge­rich­tig von der Agenda gestri­chen. Bloß nicht mehr dar­über reden. Am bes­ten schie­ben wir es der EU rüber. Ein Gewinnerthema war das maxi­mal bis zum Winter des Jahres 2015. Man möch­te den Rattenfängern der AfD mit einer wei­ter­hin libe­ra­len Flüchtlingspolitik kei­ne Wähler in die Arme treiben. 

Das his­to­ri­sche Versagen der EU bis in die kleins­ten Teile die­ser Bürokratenorganisation über­deckt in kon­ge­nia­ler Art und Weise die Ignoranz natio­na­ler Politiker. 

Ich kann das nicht schön­re­den. Unsere Gesellschaft scheint wei­te­re Flüchtlingsströme nicht ver­kraf­ten zu kön­nen. Ex-​Verfassungsschutzpräsident Maaßen spricht, wie sei­ne Kollegen von der Werteunion der CDU, AfD-​Politiker und rechts­kon­ser­va­ti­ve Journalisten unter dem Beifall ihrer Claqueure in den Kommentarspalten Klartext. Die Zahl der Migranten sei zwar zurück­ge­gan­gen. Trotzdem kämen jähr­lich so vie­le Migranten nach Deutschland, dass eine mitt­le­re Großstadt ent­stün­de, und zwar mit all ihren infra­struk­tu­rel­len (Subtext: super­teu­ren) Erfordernissen. Ich fra­ge mich, wie die­se Rechnung ange­sichts des ande­rer­seits real exis­tie­ren­den und immer deut­li­cher zuta­ge tre­ten­den Fachkräftemangels und einer net­to stark schrump­fen­den Bevölkerung auf­geht. Aber über sol­che Details den­ken sol­che Menschen nicht öffent­lich nach, weil es mit ihren poli­ti­schen Überlegungen nicht kombiniert.

Hätten wir ein wirk­sa­mes Einwanderungsgesetz und wären unse­re Politiker muti­ge Menschen, wür­den sie erkannt haben, dass das Instrumentarium für eine gelun­ge­ne Migrationspolitik teils vor­han­den ist und teils durch sinn­vol­le wei­te­re Maßnahmen ergänzt wer­den kann.

Ich habe das schon ein­mal geschrie­ben. Hätte nicht einer die­ser 27 EU-​Regierungschefs den Mut auf­brin­gen kön­nen und die cir­ca 7000 Menschen von Moria in ihr/​sein Land holen kön­nen, um die­sem unmensch­li­chen Tun end­lich ein Ende zu set­zen? Das wäre so etwas wie ein Weihnachtsmärchen gewe­sen. Die Verantwortlichen hät­ten viel aus­hal­ten müs­sen. Sie wären bru­tal ange­gan­gen und kri­ti­siert wor­den für die­se Entscheidung. Sogar Frau Merkel hat­te etwas zu ver­lie­ren, obwohl sie ihr Amt bekannt­lich ja in eini­gen Monaten auf­ge­ben wird. Ihr hät­te ich die­se mensch­li­che Großtat am ehes­ten zuge­traut. Aber die Sachzwänge schei­nen allen wie ein Mühlstein am Hals zu hän­gen. Solche Märchen gibts nur im Film. Und kei­ner kann ja schließ­lich wol­len, dass die­se huma­ni­tä­re Tat als Pull-​/​Push-​Effekt, also als Vorbild für noch mehr Migranten dient. 

Wäre ja auch scha­de gewe­sen, weil jetzt end­lich mal so vie­le Monate lang eini­ger­ma­ßen Ruhe herrsch­te und die AfD fast ein­stel­lig gewor­den ist.

Update: 2.2.2021

Der elen­de Friedrich Merz wird für die AfD irgend­wann noch Heldenstatus erhal­ten. Nicht aus­zu­den­ken, wenn die­ser „Mensch” wirk­lich Bundeskanzler wür­de. Dass er Vorsitzender einer so genann­ten christ­li­chen Union wer­den könn­te, ist wahr­haft schlimm genug.

Merz will kei­ne Flüchtlinge aus Griechenland und Bosnien (faz​.net)


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3 Gedanken zu „Migranten bleiben sich selbst überlassen“

  1. Dass GAR NICHTS geschieht (Bosnien) stimmt nicht, hier ein Artikel/​Interview, der das im Detail aufdröselt.

    Zitat:

    SPIEGEL: Die EU hat Bosnien-​Herzegowina bereits mehr als 60 Millionen Euro gezahlt und wei­te­re 25 Millionen Euro ver­spro­chen, um den Geflüchteten zu hel­fen. IOM managt die Flüchtlingslager. Wo ist das Geld geblieben?

    Van der Auweraert: Zu Beginn der Flüchtlingskrise gab es in Bosnien-​Herzegowina gar kei­ne Flüchtlingscamps. Nun gibt es sechs. Das Problem ist, dass wir eines der größ­ten Camps, die Bira-​Halle bei Bihac, nicht nut­zen dür­fen. Sonst wür­de die Kapazität für fast alle der rund 8000 Migranten in Bosnien reichen.
    … Wir haben seit Monaten gewarnt. Das poli­ti­sche System in Bosnien-​Herzegowina ist dys­funk­tio­nal, die Zusammenarbeit der ver­schie­de­nen Akteure funk­tio­niert nicht. Ich ver­ste­he die Frustration der Lokalpolitiker und der Bevölkerung hier in der Gegend. Aber das mensch­li­che Leid, das die­se Politik her­vor­ruft, kann man nicht mehr rechtfertigen.

    Natürlich wäre es ab Besten, die Leute da raus zu holen, aber das traut sich die Politik der­zeit nicht.

  2. Noch was: Bosnien-​Herzegowina hat ein BNE pro Kopf und Monat von 4940 US-​Dollar, was einer regio­na­len Kaufkraft von 12880 US-​Dollar entspricht.
    Würde man jedem der 61.000 Einwohner von BIHAC 500 Euro zah­len unter der Bedingung, ihren Widerstand gegen die Großunterkunft auf­zu­ge­ben, dann wür­de das 30,5 Mio Euro kos­ten. Ich wäre gespannt, ob die das anneh­men – ist deut­lich mehr als ein Monatseinkommen für jedes Familienmitglied!

    Bin über­haupt dafür, dass die EU hier und da zu Direktzahlungen an die Menschen über­ge­hen soll­te – dadurch wür­de „EU” deut­li­cher posi­tiv spür­bar! (Trump hats vor­ge­macht mit sei­ner Unterschrift unter dem Corona-​Check – das Kalkül dabei ist ja nicht falsch!)

☀️ Jeder Tag ist ein neuer Anfang.

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