Wären wir ohne die EU besser dran?

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Ein Sportjournalist vom Kölner Stadt-​Anzeiger hat sich vor­ge­stellt, wie die Jugend (unse­re Generation) in den 1970er-​Jahren reagiert hät­te, wenn sie mit der Corona-​Pandemie kon­fron­tiert wor­den wäre. Er meint: Wir hät­ten das nicht hinbekommen.


Seine Begründungen mögen in man­chen Fällen zutref­fen. Mein Fazit wäre eher: Nicht alles was hinkt, ist ein Vergleich.


Ich glau­be, damals wie heu­te gab unter den Jungen sol­che, die voll auf gegen­sei­ti­ge Vorsicht und Verantwortung set­zen und auch das exak­te Gegenteil davon.

Kiffen, bum­sen, Partys, Happenings wer­den den jun­gen Leuten unse­rer Zeit auch nicht ganz abge­hen. Unser über­schwäng­li­cher Freiheitsdrang nach dem «Sommer der Liebe» und dem «Deutschen Herbst» wird sich in vie­len Fällen auf – bei nähe­rer Betrachtung – unsin­ni­ge Diskussionsrunden beschränkt haben. War es so viel span­nen­der, über nicht finan­zie­rungs­un­wil­li­ge Regionalpolitiker zu schimp­fen, weil die das Jugendzentrum nicht unter­stüt­zen wollten? 

Jetzt gehen sie auf die Straße, um dafür zu kämp­fen, dass end­lich was gegen den Klimawandel geschieht? Was den­ken jun­ge Leute über die EU? Ich den­ke, sie haben über­wie­gend posi­ti­ve Assoziationen, sie füh­len sich eher als Europäer als wir Alten.

Früher ist mir das nie so aufgefallen

Ursula von der Leyen hat sich aus Brüssel gemel­det. Sie hat uns nicht erklärt, war­um die EU beim Impfstoffkauf gran­di­os ver­sagt hat, sie woll­te lie­ber über eine Ampelerweiterung spre­chen. Grün, gelb, rot reicht nicht. Dunkelrot soll hin­zu­kom­men. EU-​Europäer, die in ein dun­kel­ro­tes Gebiet rei­sen möch­ten, sol­len sich (womög­lich) tes­ten las­sen und vor Ort in Quarantäne bege­ben. Wow! 

Die Grenzen sol­len geöff­net blei­ben. Dafür plä­diert die deut­sche Chefin der EU-​Kommission. Es ist abseh­bar, dass unter den 27 Ländern, die die­ser bahn­bre­chen­den Idee von der Leyens zustim­men müs­sen, eini­ge sein wer­den, die sich in ihrer natio­na­len Souveränität beein­träch­tigt füh­len. Sie könn­ten schlicht und ergrei­fend eige­ne Interessen haben und selbst so was Bahnbrechendes wie die farb­li­che Erweiterung einer Ampel ver­hin­dern. Die übli­chen Verdächtigen ken­nen alle!

Wo sehe ich die Vorteile der EU, wo die Nachteile?

Meine weni­gen Pros für die EU lösen sich auf. Die offi­zi­el­len Argumente sind anfäl­lig für Kritik, weil sie so leicht zu ent­kräf­ten sind. 

Wenn die EU, Friedensnobelpreisträgerin von 2012, als frie­dens­stif­ten­des poli­ti­sches Modell geprie­sen wird, kann man ent­ge­gen­hal­ten, dass das mili­tä­ri­sche Engagement der Vereinigten Staaten in Europa und die damit ver­bun­de­ne gegen­sei­ti­ge ato­ma­re Abschreckung wohl einen ent­schei­den­de­ren Anteil gehabt haben. Um die­ses Argument zu benut­zen, muss man kein Nationalist sein.

Die Intransparenz, die die­ser büro­kra­ti­sche Moloch, trotz ver­meint­lich neu­er Einsichten immer noch prak­ti­ziert, bewer­te ich als Ignoranz gegen­über dem Souverän. Das wird sich bei den nächs­ten Wahlen bit­ter rächen. Das steht für mich fest, zumal die nächs­ten Präsidentschaftswahlen in Frankreich zu einem bösen euro­päi­schen Erwachen füh­ren dürften.

Eigene Interessen scheinen im Vordergrund zu stehen

Nach dem Brexit wur­den in den ver­gan­ge­nen Jahren kei­ne erkenn­ba­ren Verbesserungen erzielt. Und das, obwohl die­ses Datum doch angeb­lich „alle” wach­ge­rüt­telt haben soll. 

Dass Nationen wie Ungarn, Polen oder Tschechien die Gemeinschaft in einer Art pene­trant wie­der­hol­tem Widerstand des­avou­ie­ren, ist pro­vo­zie­rend und inak­zep­ta­bel. Ich sage das auch aus dem Grund, weil ich all die­sen natio­na­lis­ti­schen Mist, der lei­der in Gestalt der AfD auch hier eine Renaissance erlebt, ein für alle Mal in die Grube ver­frach­ten wür­de. Wir tole­rie­ren die­se Marschrichtung schon viel zu lan­ge. Ich hal­te es für einen Konstruktionsfehler ers­ter Güte, dass ein Nationalstaat nicht aus der EU aus­ge­schlos­sen wer­den kann, son­dern statt­des­sen sei­nen eige­nen Austritt erklä­ren muss. Die not­wen­di­ge Einstimmigkeit bei viel zu vie­len Gelegenheiten ist ein wei­te­res Hemmnis, um mit Leuten wie Orban oder Duda umzugehen.

Meine Haltung hat weni­ger damit zu tun, dass die von die­sen Ländern ein­ge­nom­me­ne Haltung, wie es von man­chen Nationalisten gern dar­ge­stellt wird, deut­schen Vorstellungen, Prinzipien oder Interessen wider­spricht (Flüchtlingsdebatte). Das sind vor­ge­scho­be­ne Argumente der­je­ni­gen, die sich auch an ande­rer Stelle ganz aus­schließ­lich um ihre eige­nen Interessen sche­ren. Das kön­nen sie gern tun. Aber nicht als Bestandteil einer EU. Die Stimmung in man­chen der von mir kri­ti­sier­ten Länder mag EU-​freundlich sein. Die Regierungen neh­men viel­leicht dar­auf Rücksicht. Vor allem aber neh­men Sie die Milliardenzahlungen aus Brüssel. Wie viel guten Willen müs­sen die EU-​Verantwortlichen auf­brin­gen, um mit die­ser schä­bi­gen Art von Interessenwahrung umge­hen zu können?

Die Vorgänge in sol­chen Ländern, die sich mit ihrem Beitritt zur Einhaltung der bekann­ten „Spielregeln” ver­pflich­tet haben, sind inak­zep­ta­bel. Davon abge­se­hen geben sie die EU damit der Lächerlichkeit preis. Außer viel­leicht ein bar „wit­zi­gen” Bemerkungen über den „klei­nen Diktator” aus Budapest (Jean-​Claude Juncker) habe ich nur wenig Kritisches dazu aus Brüssel gehört.

Wie wäre es ohne die EU?

Wie stün­de es heu­te um Deutschland, wenn wir nicht Mitglied der EU wären und nicht dem Euro-​Raum angehörten? 

Dieser Gedanke war es, der mich durch den Vergleich der Jugend von damals und heu­te beschäftigt. 

Wir müss­ten Pässe an den Grenzen zu unse­ren Nachbarländern vor­zei­gen. Mitunter etwas län­ge­re Wartezeiten wäre eine der über­schau­ba­ren Folgen. Für den Güterverkehr hät­te es erheb­li­che Auswirkungen, weil die not­wen­di­ge Abwicklung (Exportpapiere, Kontrollen etc.) wie­der so zeit­rau­bend und auf­wen­dig wäre, wie wir das in frü­he­ren Jahrzehnten doch als nor­mal emp­fan­den. Es wür­de sich auf logi­sche Anforderungen und letzt­lich auf das Preisniveau für die meis­ten Produkte auswirken.

Wer profitiert von der EU?

Nun wird jeder Ökonom mit dem Argument kom­men, dass Deutschland enorm von der Mitgliedschaft der EU pro­fi­tiert hätte. 

Deutschland ja, die Deutschen auch?

Die Globalisierung hat den Eindruck ver­stärkt, dass vie­le Menschen davon pro­fi­tiert haben. Negative Aspekte (Niedriglohnsektor, pre­kä­re Arbeitsverhältnisse) haben jedoch in einem sol­chen Umfang zuge­nom­men, dass sie gesell­schaft­lich längst zum gro­ßen Problem gewor­den ist. Die Finanzkrise mit ihrer glo­ba­len Wirkung ist ein Beispiel.

Es ist nor­mal, dass die Einkommensverteilung in Deutschland (und anders­wo) regel­mä­ßig kri­tisch hin­ter­fragt wird, die Durchlässigkeit unse­rer Bildungssysteme eben­so. Wobei letz­te­res mit dem gesun­ke­nen Wohlstand und Einfluss beträcht­li­cher Teile unse­rer Bevölkerung zu tun haben dürfte. 

In den Medien wird regel­mä­ßig beklagt, dass Deutschland im euro­päi­schen Vergleich beim Renteneintrittsalter nur mit­tel­mä­ßig posi­tio­niert ist oder dass die Bildung von Eigentum (Immobilien) im Vergleich mit ande­ren EU-​Ländern zurück­fällt. Das Rentenniveau befin­det nicht auf einem erwar­te­ten Level. 

Deutschland hat als Nation von der EU pro­fi­tiert. Schließlich schlägt der Erfolg unse­rer Unternehmen auf euro­päi­scher Ebene durch. Mehr Arbeitsplätze, höhe­re Steuereinnahmen des Staates und Einkommenszugewinne für vie­le Menschen im Land ste­hen auf der Habenseite.

Euro, eine ganz besondere Geschichte

Wir bekla­gen uns über den Euro, weil sei­ne Stabilisierung vor allem für uns Deutsche weni­ger bis kei­ne Zinsen aus­ge­löst hat. Lebensversicherungen loh­nen sich nicht mehr. Alle, die auf Lebensversicherungen zur Alterssicherung set­zen, sehen sich betro­gen. Die Auszahlungsquoten wur­den von der Europolitik der EZB in Mitleidenschaft gezo­gen. Auf Guthaben gibt es seit Langem kei­ne Zinsen, bald wer­den Negativzinsen nor­mal werden. 

An der Politik der EZB wird sich nichts ändern, weil die Politiker zwar einer­seits durch die Draghi – Maßnahmen Zeit gewon­nen haben, die­se jedoch ande­rer­seits unge­nutzt ver­strei­chen ließen. 

Von einer Stabilisierung der Finanzprobleme inner­halb des Euroraumes ist nichts zu sehen. Die Stabilisierungsmaßnahmen gehen in hohem Maße zu Lasten der deut­schen Bürger:innen. So ist so, dass Geld künf­tig weit­ge­hend unver­zinst bleibt. 

Wir wären gezwun­gen, uns auf die finanz­akro­ba­ti­schen Aktiengeschäfte ein­zu­las­sen. Ich weiß, die Formulierung ist stark gefärbt von mei­ner Ablehnung des Aktienmarktes. Aber ich bin damit nicht allein – jeden­falls nicht in Deutschland. Was für die einen kein Problem ist scheu­en die ande­ren, wie der Beelzebub das Weihwasser.

Deutschland hat als Nation vom Euro pro­fi­tiert. Es ist nicht „nur” die schwar­ze Null, die vor Corona erreicht wur­de, son­dern – wenn man den Politikern glaubt – der Bewegungsspielraum, der uns finan­zi­ell jetzt in der Krise gege­ben ist. 

In wel­chem Land wur­den ähn­lich hohe Corona-​Hilfen ver­ab­schie­det? Die des­halb gestie­ge­ne Verschuldungsquote ist sogar nach alle­dem nicht so hoch, wie sie nach der Finanzkrise bereits ein­mal war. Der Staat kann sich durch die nega­ti­ven Zinsen ver­schul­den und bekommt sogar Geld dafür. 

Wer stellt sich sowas schon als nor­mal vor? 

Deutschland first

Deutschland hat­te vor Corona anhal­ten­de Leistungsbilanzüberschüsse, für die es oft kri­ti­siert wur­de (nicht nur inner­halb der EU, son­dern u.a. auch von der OECD). Die Antworten unse­rer Ökonomieprofessoren und Unternehmen klingt auch nicht anders als Trumps: „America first”. Es wur­den nie irgend­wel­che Anstalten unter­nom­men, dar­an etwas zu ändern.

Obwohl ich davon aus­ge­hen möch­te, dass sich die Abgaben an die EU sich pro­por­tio­nal zum BIP eines Landes nicht so wesent­lich von denen unter­schei­den, die in frü­he­ren Jahrzehnten zu Buche stan­den, nimmt die Akzeptanz – gera­de vor dem Hintergrund der Glanzleistung beim Thema Impfen – gefühlt rapi­de ab. 

Wo haben sich die Vorteile ver­steckt, die die EU für jeden ein­zel­nen Deutschen gebracht haben? Grenzenloses, unge­hin­der­tes Reisen, Niederlassungsfreiheit auf euro­päi­scher Ebene, das Entfallen läs­ti­ger Wechseln u.U. in ver­schie­de­ne Währungen vor Auslandsreisen… Mir ist das auf Dauer zu wenig.

Dabei will ich nicht gering­schät­zen, dass die EU für Vielfalt steht, dass der Binnenmarkt für Arbeitsplätze sorgt (gesi­cher­te und aus­kömm­li­che Einkommen wären schön). Dass sich die EU um die Qualität unse­rer Produkte (nicht nur der Lebensmittel) sorgt und dass die Bekämpfung des Klimawandels ganz oben auf der Liste steht. 

Ich sehe, wie die EU mit Flüchtlingen umgeht. Wie die Länder mit Außengrenzen sich dem nicht öffent­li­chen Diktat der EU-​Staaten unter­wer­fen und Menschen wie Dreck behan­deln. Dass sich die EU damit brüs­tet, für Menschenrechte ein­zu­tre­ten, klingt unter die­sen Bedingungen wie der rei­ne Hohn. Ich las, dass die EU an Bosnien-​Herzegowina 20 Mio. Euro gezahlt hat, damit die Versorgung der Flüchtlinge gesi­chert wer­den kann. Was macht mehr Eindruck? Die Fernsehbilder aus Lipa oder die Lippenbekenntnisse euro­päi­scher und deut­sche Politiker? 

Das geht so nicht wei­ter. Wenn die nächs­ten Wahlen in Frankreich die Nazis end­gül­tig an die Regierung gebracht haben und Marine Le Pen ers­te Präsidentin des Landes sein wird, steht sowie­so alles auf dem Prüfstand. Die EU ist für die Debatten, die dann kom­men, nicht gewapp­net. Und der Rückhalt in den Bevölkerungen dürf­te nicht mehr aus­rei­chen, um gro­ße Verwerfungen zu verhindern. 


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