Ein Lebenslauf als #Hauptschüler

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Heute trendet der Hashtag #Hauptschulabschluss zeitweise an der Top-Position. Dieser Trigger saß, die Beiträge gestalten sich wie erwartet.

Dein Auftritt, Horst!

Mein Hauptschulabschluss liegt lange (über 50) Jahre zurück. Mit Weiterbildung hatte ich nie etwas am Hut. Ich bin es nie richtig angegangen, Englisch zu lernen. Trotzdem habe ich einen der Berufe ergriffen, für die ich mich damals interessiert habe. Der eine war Chemielaborant, der andere Industriekaufmann. Der Berufsberater hatte meinem Freund empfohlen, Industriekaufmann zu lernen, ich sollte Schriftsetzer werden. Wir hielten es exakt umgekehrt. Er war glücklich in seinem Beruf, ich auch.

Über die vielen Jahre (ich habe insgesamt 47 Berufsjahre auf dem Buckel) hat mir meine Wahl nie leid getan. Zuerst war ich Lehrling. Lehrjahre wären keine Herrenjahre, hatte man mir eingebläut. Ich habs beherzigt und alles gemacht, was man als Stift so zu tun hatte. Sogar Mitglied der Gewerkschaft wurde ich, weil es mir damals irgendeiner aus dem Betriebsrat empfohlen hatte. Ich war während meiner Lehre glücklich, wenn ich arbeiten gehen konnte. Auf die Berufsschule hätte ich verzichten können. Das war kein Unterschied zur Hauptschule. Was wollten die nur alle von mir. Es war nicht das Lernen, was mir nicht gefiel, sondern alles, was irgendwie auch nur im Entferntesten mit Prüfungen zu tun hatte, also auch Klassenarbeiten. In der Schule war ich immer einer der Stillsten, was mir den Ruf einbrachte, während des Unterrichts nicht wirklich mitzuarbeiten.

Das hat sich auch während meiner Lehre nicht verändert. Wahrscheinlich war es mangelndes Selbstvertrauen, das mich dazu brachte, mich zurückzuhalten. Die Bremse löste sich erst in den folgenden Jahren. Mit 14 begann nicht nur meine Lehre, ich trat zusammen mit meinem besten Freund in die freiwillige Feuerwehr unseres Städtchens ein. Das Tolle war, dass eine Reihe von Klassenkameraden aus der Schulzeit bereits dabei waren. Das erfuhr ich erst, als wir unseren ersten „Dienstabend“ hatten. Die Freundschaften wurden intensiver und halten zum Teil bis heute.

Ich war – sicher wegen meiner Lehre als Kaufmann – zum Schriftführer unserer Jugendfeuerwehr gewählt worden. Jeder macht in so einer Gruppe das, was er am besten kann. Am Ende dieser wunderbaren und lehrreichen Zeit übernahm ich ein Amt, für das mich der Leiter unserer Jugendfeuerwehr vorgeschlagen hatte. Ich wurde mit 17 Geschäftsführer der Jugendfeuerwehren unseres Kreises. Das war viel Arbeit. Ich erinnere mich gut, als ich meine erste Rede (so etwas wie einen Rechenschaftsbericht) vor allen versammelten Jugendfeuerwehrleuten halten musste. Ich dachte, man könnte meinen Herzschlag durch das Mikrofon im ganzen Saal hören. Solche Erfahrungen tun dem Selbstvertrauen gut. Vor allem jedoch, wenn man spürt, dass man innerhalb einer Gruppe anerkannt und geachtet wird.

Nach meiner Lehre habe ich noch vier weitere Jahre in meinem Ausbildungsbetrieb gearbeitet. Dieser war einer von wenigen größeren Industriebetrieben in meiner Heimatstadt. Ich konnte zum Mittagessen mit dem Rad nach Hause fahren. Es war komfortabel. Das endete mit meinem Wechsel in die „große Stadt“. Ab 1977, ich war schon ein Jahr verheiratet, arbeitete ich in Köln, später in Frechen. Das waren leichte, unbeschwerte Jahre, in denen ich als Sachbearbeiter in den jeweiligen Verkaufsabteilungen beschäftigt war.

Im Laufe der Zeit bekam ich mehr Verantwortung übertragen. Ich weiß es noch wie gestern. Am 30.04.1979 beförderte mich mein Chef zum Vertriebsinnendienstleiter. Wir waren mit Freunden zum 1. Mai verabredet. Es war wunderbares Wetter und überhaupt eine der tollsten Nächte. In den 1980-er Jahren wurde ich zum Handlungsbevollmächtigten ernannt. Einige Jahre später erhielt ich Prokura. Ich habe viel gearbeitet und trug große Verantwortung. Am Ende der 80-er Jahre musste ich meinen Schweizurlaub unterbrechen und für eine Besprechung nach Köln fliegen. Das klingt wichtig. Es war aber eine der furchtbarsten Erfahrungen meines Arbeitslebens. Die Geschäftsleitung hatte mich damit beauftragt, die Kolleginnen und Kollegen zu benennen, die aufgrund der veränderten Wirtschaftslage (Wiedervereinigung – Berlinförderung) gekündigt werden mussten. Es ging um Leute, mit denen ich gut und freundschaftlich zusammengearbeitet hatte. Ich war gezwungen, die Kündigungen auszusprechen. Am selben Abend flog ich in den Urlaub zurück. Das war kein Urlaub, überhaupt der Schlimmste an den ich mich erinnere.

Mitte der 1990-er Jahre wechselte ich das Unternehmen. Ich war Innendienstleiter. Später erhielt ich wiederum Handlungsvollmacht. Auch in dieser Firma habe ich mich von Anfang an sehr wohlgefühlt. Ich hatte mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als zuvor. Unser Verhältnis war von Anfang an richtig gut. Auch meine Zusammenarbeit mit der Geschäftsleitung war toll. Ich habe während der Anfangszeit ein Kundenserviceprogramm (Access – Basis) entwickelt und im Unternehmen implementiert. Das war eine grandiose Erfahrung für mich. Man hat davon gehört, dass Veränderungen nicht unbedingt zu den beliebtesten Dingen gehören, mit denen sich MitarbeiterInnen auseinandersetzen. In diesem Fall war das ganz anders. Ich beteiligte meine MitarbeiterInnen an der Entwicklung. So war es möglich, mit dieser Maßnahme ein ganz neues und bei allen KollegInnen äußerst beliebtes Instrument zur Kundenbindung zu etablieren, auf das ich heute noch richtig stolz bin. Außendienst, Kundendienst und der Vertriebsinnendienst haben profitiert.

Der Konzern, zu dem die Firma gehörte, hat das Unternehmen aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen. Ich war inzwischen fast Mitte 50 und froh, dass ich weiterbeschäftigt wurde. Die Tatsache, dass das Unternehmen etwa 150 km entfernt ansässig war, nahm ich in Kauf. Ich hatte keine andere Wahl. Die einzige mögliche Alternative war entfernungstechnisch nicht günstiger. Dort geriet meine persönliche und berufliche Entwicklung ins Schwanken.

Dabei waren die Voraussetzungen positiv. Mit meinem neuen Chef hatte ich vorher schon erfolgreich zusammengearbeitet. Wir mochten uns. Er schuf – extra für mich – eine neue Position im Vertrieb. Ich war einfach nur dankbar und übersah dabei, dass dieses Tätigkeitsfeld genau dasjenige war, das ich unter anderen Umständen nie angestrebt hätte. Als „Sales Analyst“ hatte ich ausschließlich mit Zahlen zu tun. Den Job eines Controllers hatte ich zu anderen Zeiten immer abgelehnt, obwohl es mehrere Angebote gegeben hatte. Das lag u.a. an meinen ausgezeichneten Kenntnissen einschlägiger Programme. Zudem lag das Vertriebscontrolling in meinem Zuständigkeitsbereich als Innendienstleiter.

Nichts ist beständiger als der Wechsel. Der Personalwechsel in den Führungspositionen des Unternehmens war sehr beständig. Ich habe während meiner Zeit mindestens sieben Vorstandschefs erlebt. In insgesamt nicht einmal zehn Jahren! Mit jedem habe ich mich arrangiert und irgendwie auch zusammengerauft, wenn man das so sagen kann. Auch mein direkter Vorgesetzter wechselte. Mit ihm hatte ich eine wirklich harte Nuss vor der Brust. Wir waren uns von Anfang an nicht sympathisch. Das ist keine gute Voraussetzung. Ich musste durchhalten und habs mehr oder weniger hinbekommen. Aber ich konnte nicht das realisieren, was ich mir für meinen Abschied aus dem Berufsleben vorgenommen hatte. Ich wollte als anerkannter Mitarbeiter, sozusagen hocherhobenen Hauptes, das Unternehmen verlassen. Es ist mir nicht gelungen. Wohl vor allem deshalb, weil in den letzten Jahren jede Motivation verloren ging. Während der letzten Jahre erhielt ich keine Gehaltserhöhung. Danach gefragt habe ich allerdings auch nie. Ich war es nicht gewohnt, um mehr Geld zu bitten. Klingt blöd, war aber immer so. Ich kann sagen, dass ich nie schlecht verdient habe. Ich fühlte mich wie irgendwas zwischen Baum und Borke.

Mein letzter Chef, der übrigens von dem Vorstandschef rausgeschmissen wurde, der dann später mit mir immer auf Englisch reden wollte und der inzwischen auch woanders ist, hielt mir mal einen Vortrag darüber, dass ich zu viel Geld verdienen würde. Also nicht etwa deshalb, weil ich ihn um mehr Geld gebeten hätte, sondern weil ihm gerade so danach war und wir vermutlich eine unserer zahlreichen Differenzen ausgetragen hatten. Er erklärte mir, dass er für einen wie mich, drei Leute holen könnte, die frisch von der Universität kämen. Er selbst hatte – natürlich – Abi und Betriebswirtschaft studiert. Da schließt sich der Kreis.

In meinem Kolleg-Innenkreis war ich der einzige mit Hauptschulabschluss. Es gab während der Jahre nie irgendein Problem oder einen komischen Zungenschlag. Wir haben gut zusammengearbeitet und uns wertgeschätzt. Ausnahmen gibts halt immer. Doof, wenn das gerade der Chef ist.

Ja, die Zeiten sind andere, nicht zu vergleichen mit meiner Zeit. Insofern also jetzt die Frage: Was ist die Moral dieser Geschichte?

Ihr, da mit Hauptschulabschluss! Seid selbstbewusst und bringt euch ein. Macht mit, zieht euch nicht zurück, wenn es mal Gegenwind gibt. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich habe zuletzt leider einiges falsch gemacht.

Horst Schulte

Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe seit meiner Geburt (auch aus Überzeugung) auf dem Land.

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4 Gedanken zu „Ein Lebenslauf als #Hauptschüler“

  1. So einen Lebenslauf wie du könnte ich nicht öffentlich stellen.
    Bei mir war es Kraut und Rüben , wennauch ich gut nachhause ging .
    Ab und an hadere ich jetzt noch mit mancher Erfahrung.
    Aber im grunde…

  2. Früher hat man mit einem ordentlichen Hauptschulabschluss noch wirklich was machen können. Oder etwas später dann mit einem Quali. Oder dann zu meiner Zeit mit einer Mittleren Reife.
    Für Lehrberufe, für die man früher einen Quali gebraucht hat, werden heute Abiturienten eingestellt, die natürlich nach der Lehre studieren und nicht als Geselle weiter arbeiten.
    Man könnte meinen, unsere Gesellschaft wird immer klüger. Ich aber habe den Verdacht, dass das Schulsystem immer mehr abgewertet wird.
    LG
    Sabiene

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