Jan van Aken, Co-Vorsitzender der Partei »Die Linke«, präsentierte wiederholt (zuletzt gestern bei »Hart aber fair«) einen bemerkenswerten Vergleich bezüglich der aktuellen Militärausgaben: Die europäischen NATO-Staaten geben gemeinsam jährlich 430 Milliarden Dollar für Verteidigung aus, während Russland nur 300 Milliarden Dollar ausgibt. Beide Werte sind kaufkraftbereinigt. Dieser Vergleich bildet einen Eckpfeiler seiner Argumentation gegen erhöhte Militärausgaben in Europa. Diese Zahlen schaffen auf den ersten Blick ein überzeugendes Narrativ. Deshalb verdient von van Akens Argumentation eine genauere Betrachtung.
Kontextueller Hintergrund zu van Akens Position
Jan van Aken hat während seiner gesamten politischen Karriere eine konsequent antimilitaristische Haltung vertreten. Als Biologe, der zuvor von 2004 bis 2006 als Biowaffeninspekteur für die Vereinten Nationen tätig war, bringt er eine besondere Perspektive in Sicherheitsdiskussionen ein. Seit seiner Wahl zum Co-Vorsitzenden der Linken im Oktober 2024 gemeinsam mit Ines Schwerdtner setzt er sich weiterhin für diplomatische Lösungen anstelle militärischer Maßnahmen ein, insbesondere in Bezug auf den Ukraine-Konflikt. Seine Position spiegelt die traditionelle Antikriegshaltung der Linken wider, mit starker Betonung auf Dialog, Deeskalation und Ablehnung von Waffenexporten.
In seinen öffentlichen Auftritten hat van Aken eine Vision für Europa artikuliert, die auf Frieden statt militärischer Macht basiert. In einer Präsentation im Jahr 2019 erklärte er ausdrücklich: „Ich bin wirklich mit meinem ganzen Herzen Europäer, aber ich möchte kein Europa der Panzer und Pistolen, ich möchte keine Verteidigungsunion, ich möchte eine Friedensunion.“ Diese Aussage fasst seinen grundlegenden Ansatz zur europäischen Sicherheitspolitik zusammen.
Probleme mit dem numerischen Vergleich
Der Vergleich der Militärausgaben erfordert eine sorgfältige Prüfung. Während van Aken anführt, dass die europäischen NATO-Staaten 430 Milliarden Dollar ausgeben, verglichen mit Russlands 300 Milliarden Dollar (kaufkraftbereinigt), enthält dieser Vergleich mehrere Fehler.
- Dieser Vergleich fasst Ausgaben über mehrere unabhängige Staaten mit separaten militärischen Infrastrukturen, Kommandostrukturen und strategischen Prioritäten zusammen. Im Gegensatz zu Russlands zentralisierter Militärstruktur sind die europäischen Verteidigungsausgaben auf zahlreiche nationale Armeen mit unterschiedlichen Fähigkeiten, Ausrüstungsstandards und operativen Verfahren verteilt. Diese Fragmentierung schafft logischerweise Ineffizienzen, die in solchen einfachen Zahlenvergleichen nicht dargestellt werden. Jedes europäische Land unterhält eigene Beschaffungssysteme, Ausbildungsregime und Militärdoktrinen. Das führt zu duplizierten Fähigkeiten und Herausforderungen für eine Zusammenarbeit.
- führt die Bereinigung der Kaufkraft, die van Aken betont, zusätzlich kaum aufzulösende Schwierigkeiten der Vergleichbarkeit ein. Während diese Anpassung versucht, unterschiedliche Preisniveaus in verschiedenen Volkswirtschaften zu berücksichtigen, versäumt sie es, die einzigartigen Merkmale militärischer Ausgaben angemessen zu adressieren. Russlands Verteidigungsindustrie operiert unter anderen wirtschaftlichen Bedingungen, mit staatlich kontrollierten Verteidigungsunternehmen, niedrigeren Arbeitskosten und unterschiedlichen Rechnungslegungsstandards. Russisches Militärpersonal erhält eine deutlich niedrigere Vergütung als ihre europäischen Pendants, was es Russland ermöglicht, eine größere Streitmacht für weniger Geld aufzustellen.
Einschränkungen durch strategische Zusammenhänge
Van Akens zahlenmäßiger Vergleich entfernt auch den kritischen strategischen Kontext, der für eine aussagekräftige Analyse notwendig wäre. Die geografischen Realitäten, mit denen europäische Staaten konfrontiert sind, unterscheiden sich grundlegend von denen Russlands. Europäische NATO-Länder müssen sich auf verschiedene Eventualitäten in mehreren Szenerien vorbereiten, von der baltischen Region bis zum Mittelmeer und darüber hinaus. Diese Tatsache hat Auswirkungen auf die logistischen Möglichkeiten.
Weiterhin vernachlässigt der Vergleich Russlands bedeutenden Vorteil bei Operationen nahe seinen Grenzen, wo es kürzere Versorgungswege und etablierte Infrastruktur nutzen kann. Europäische Streitkräfte müssen dagegen erhebliche logistische Herausforderungen überwinden, wenn sie an der NATO-Ostflanke stationiert werden, was zusätzliche Investitionen in Transport, Ausrüstung und Mobilitätsfähigkeiten erfordert.
In seinem Interview mit der taz befürwortet van Aken, sich »auf die EU- und nationale Verteidigung zu konzentrieren« als ausreichend und erklärt, dass die aktuellen finanziellen Ressourcen bei effektiverer Nutzung angemessen seien. Diese Position ignoriert die Komplexität existierender Sicherheitsherausforderungen, die hybride Bedrohungen, Cyberkriegsführung und die Notwendigkeit, Stabilität über Europas Grenzen hinaus zu projizieren, umfassen – alles Aspekte, die vielfältige Fähigkeiten jenseits traditioneller Territorialverteidigung erfordern.
Bedenken bezüglich Allokation und Effektivität
Die vielleicht bedeutendste Schwäche in van Akens Argumentation liegt in ihrer Fokussierung auf Gesamtausgaben. Die Effektivität militärischer Investitionen ist bedeutender. Er stellt richtigerweise fest, dass militärische Mittel effizienter eingesetzt werden könnten: »Dass das Geld effektiver eingesetzt werden kann, steht außer Frage.« Passt dieser Anspruch zum Mittelpunkt seiner Argumentation über die Gesamtausgaben? Ich denke nicht.
Die Effektivität von Militärausgaben hängt von zahlreichen Faktoren ab, darunter Beschaffungseffizienz, Wartungspraktiken, Ausbildungsstandards und operativen Konzepte. Russland hat die Fähigkeit demonstriert, seine militärischen Investitionen für spezifische Fähigkeiten wie weitreichende Präzisionsschläge, elektronische Kriegsführung und integrierte Luftverteidigungssysteme zu nutzen. Und das trotz geringerer Gesamtausgaben. Das stellt die europäischen Streitkräfte vor neue Herausforderungen.
Russlands Militärmodernisierung (Kriegswirtschaft) ist gezielt, mit Fokus auf Schlüsseltechnologien und -systeme anstatt auf flächendeckende Verbesserungen. Dieser Ansatz ermöglicht es, die strategische Wirkung in bestimmten Bereichen zu maximieren.
Diplomatische Alternativen und ihre Grenzen
Van Akens bevorzugte Alternative zu Militärausgaben – verstärktes diplomatisches Engagement – verdient Respekt. Sein Argument trägt jedoch aus meiner Sicht nicht. Bei der Diskussion des Ukraine-Konflikts argumentiert van Aken: »Das Kernproblem für mich ist, dass hier seit drei Jahren über Leopardpanzer oder Taurus gestritten wird, aber nicht über die Frage, wie komme ich zur Diplomatie?«
Während diplomatische Bemühungen wesentlich sind, präsentiert van Akens Formulierung einen nicht existierenden Widerspruch zwischen militärischer Unterstützung und diplomatischem Engagement. Putin will keine Verhandlungen!
Diplomatie erfordert typischerweise die Nutzung unterschiedlicher Machtformen, einschließlich militärischer Fähigkeiten, um Bedingungen für erfolgreiche Verhandlungen zu schaffen. Seine Behauptung, dass diplomatische Alternativen nicht versucht wurden, widerspricht den umfangreichen diplomatischen Bemühungen seit 2014, einschließlich der Minsker Abkommen und zahlreicher Treffen im Normandie-Format. Selbst nach dem Überfall der Russen gab es Verhandlungsversuche, die am Unwillen des Kreml-Herrschers scheiterten.
Van Akens Vorschlag, dass die EU China als Vermittler mit Russland ansprechen sollte, demonstriert sein Engagement für die Erkundung diplomatischer Wege. Dieser Vorschlag dürfte allerdings Chinas Bereitschaft, Druck auf Russland auszuüben oder als neutraler Vermittler zu agieren, überschätzen. Man beachte die existierende strategische Partnerschaft mit Moskau sowie die eigenen geopolitischen Interessen der Volksrepublik.
Sich entwickelnde Position zu Friedensmissionen
Interessanterweise zeigt van Akens Position eine gewisse Nuancierung bezüglich UN-Friedensmissionen. Auf die Frage nach potenziellen Friedenstruppen in der Ukraine zeigte er sich offen für „klassische Blauhelmeinsätze, die unbewaffnet und nach einem Friedensabkommen stattfinden“. Dies stellt nach seinen Worten eine „Klarstellung“ und keine Änderung der Position der Linken dar, obwohl er einräumt, dass dieser Standpunkt innerhalb seiner Partei Kontroversen ausgelöst hat.
Diese Flexibilität deutet vielleicht auf eine gewisse Anerkennung der Realitäten hin.
So sehe ich es:
Jan van Akens Haltung zu den europäischen und russischen Militärausgaben bietet einen eher schlichten Zahlenvergleich, der die multidimensionale Natur von Verteidigungsfähigkeiten und -anforderungen nicht berücksichtigt. Der numerische Vergleich selbst beruht aus meiner Sicht auf eher fragwürdigen Annahmen.
Der grundlegende Fehler in van Akens Argumentation liegt nicht in der Genauigkeit der Ausgabenzahlen selbst, sondern in der Annahme, dass diese Zahlen allein eine ausreichende Grundlage für die Bewertung europäischer Verteidigungsbedürfnisse bieten. Militärische Effektivität kann jedoch nicht auf Gesamtausgaben für Verteidigung reduziert werden. Insbesondere dann nicht, wenn ein Vergleich von Militäreinheiten mit radikal unterschiedlichen Strukturen, strategischen Zielen und operativen Umgebungen vorliegt.
Spezifische Fähigkeitslücken, die bei Betrachtung insbesondere der deutschen Bundeswehr interessant scheinen, ignoriert van Aken. Immerhin investierten wir auch in der Vergangenheit Jahr für Jahre Milliardenbeträge. Ein interessanter Vergleich wäre in diesem Zusammenhang die israelische Armee. Diese ist, wie nicht nur ich vermute, bei deutlich kleinerem Budget der deutschen Bundeswehr deutlich überlegen. Das zeigt, dass es um andere Kriterien geht, als um den bloßen Einsatz finanzieller Mittel.
Jahr | Land | Militärausgaben (in Milliarden Euro) |
---|---|---|
2022 | Deutschland | 56.0 |
2022 | Israel | 20.5 |
2023 | Deutschland | 58.5 |
2023 | Israel | 22.0 |
Pro-Kopf gibt Israel natürlich deutlich mehr Geld aus als Deutschland. Zudem setzen die Israelis ihre Prioritäten anders. Wir wissen, dass sie das aus guten Gründen tun. Wir befinden uns in einer anderen Welt und müssen deshalb wohl oder übel umdenken. Diskussionsbeiträge sind erwünscht und sogar erforderlich. Vielleicht haben Zahlenvergleiche wie sie von Herrn van Aken wieder und wieder vorgetragen werden, ihre positiven Seiten. Sie helfen möglicherweise dabei, unser angekratzes Vertrauen in die Leistungsfähigkeit unseres Landes und auch unserer Bundeswehr ein wenig zu kitten. Ich wills jedenfalls hoffen.
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