Die Wokeness-Debatte als Spiegel unserer Gesellschaft

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von Horst Schulte

Lesezeit: 3 Min.

Antwort auf den heutigen Post bei gigold.me:

Woke bedeu­tet am Ende nur, dass ich Achtsamkeit gegen­über Schwächeren zei­ge. Wer damit ein Problem hat, ist halt ein­fach ein Arschloch.
Thomas Gigold


Wokeness – ein Begriff, von der Rechten entkernt und zum Feindbild stilisiert

Es gibt Wörter, die sich wie Tarnkappen durch die Debatten schleichen, bis sie plötzlich in aller Munde sind – aber niemand weiß so recht, was sie eigentlich bedeuten. „Woke“ ist so ein Fall: einst ein Begriff für das wache, kritische Bewusstsein gegenüber Diskriminierung und gesellschaftlichen Ungleichheiten, heute für viele ein Schimpfwort, das alles (z. B. Gendern) und nichts meint.

„Woke“ stammt ursprünglich aus dem afroamerikanischen Englisch. Seit den 1930er-Jahren mahnte der Begriff, wachsam gegenüber rassistischen und gesellschaftlichen Missständen zu bleiben. Mit der Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre gewann „stay woke“ an Bedeutung: Es war ein Aufruf zur Achtsamkeit, zum genauen Hinsehen, dort, wo Unrecht zum Alltag gehörte. Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung

Vom Weckruf zur Waffe

Erst mit den 2010er-Jahren schwappte der Begriff nach Europa. Was als Ruf nach Gerechtigkeit begann, wurde bald politisch instrumentalisiert – wahlweise als Ehrenabzeichen der Linken oder Spottbegriff der Rechten. Wokeness wurde zum Codewort: für die einen Ausdruck einer angeblichen „Moral-Diktatur“, für die anderen notwendige Achtsamkeit gegenüber Schwächeren und Minderheiten.

Die Fronten verhärten sich. „Woke“ wird zum rhetorischen Skalpell, mit dem Gegner seziert werden – oder zum Knüppel, mit dem man Kritiker niederknüppelt. Plötzlich reicht ein bisschen Achtsamkeit, um als Feindbild zu dienen.

Warum Mitgefühl polarisiert

Was ist passiert, dass „Mitgefühl“ zur Provokation wurde? Vielleicht, weil das Eingeständnis gesellschaftlicher Schwächen unser Selbstbild kratzt. Vielleicht, weil echte Solidarität unbequem ist und alte Machtstrukturen erschüttert. Wer sich gegen Wokeness empört, will oft nicht weniger als die eigene Ruhe vor dem schlechten Gewissen verteidigen.

Dabei ließe sich die Debatte entgiften, würde man „Woke“ wieder als das begreifen, was es einmal war: ein Appell an unsere Menschlichkeit.

Zwischen Empörung und Empathie

Vielleicht ist es ja ganz einfach: Wer sich über Wokeness aufregt, ist kein Arschloch, Herr Gigold. Sie oder er sind anderer Meinung als Sie! Für mich sind es solche unqualifizierten Beschimpfungen, die zur Vergiftung unserer Debattenkultur beitragen. Sie werden leider von manchen Menschen wie Monstranzen vor sich hergetragen und provozieren auf der anderen Seite Leute, die für derart laut zur Schau gestellten Gratismut in Form solcher Statements aus verschiedensten Gründen kein Ohr freihaben. Man muss sich die rüde Umgangssprache, die aus dem rechten Milieu herüberschwappt, nicht zueigen machen.

Oder, wie ich es sagen würde: Achtsamkeit kostet nichts. Deshalb ist es bedauerlich, dass dieser dem Wert Toleranz nahestehende Begriff von vielen aus Opportunitätsgründen ignoriert bzw. zum Kampfbegriff umfunktioniert wird. Dass Sie, Herr Gigold, sich auf diese rüde Art daran beteiligen, ist kritikwürdig. Diese Einstellung findet man heutzutage leider überall. Man will halt politisch korrekt sein. Dieses untaugliche Mittel kommt uns letztlich nur allen teuer zu stehen.


Horst Schulte

Herausgeber, Blogger, Amateurfotograf

Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe auf dem Land.

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Artikelinformationen

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5 Gedanken zu „Die Wokeness-Debatte als Spiegel unserer Gesellschaft“

  1. Durch das pubertäre Festhalten an Gendersternchen und Co. disqualifiziert sich die eigentlich gut gemeinte – ja was nun – Wokeness? zusehend. Das ist wie mit den Straßenklebern, eigentlich gut gemeint, aber doch nicht mutig genug für spektakuläre Aktionen a la Greenepeace, machten einige wenige mit dem Blödsinn die ganze Bewegung zunichte.

    Und so sehe ich das auch mit dem Begriff Woke. Freiheit – Brüderlichkeit – Gleichheit, die Begriffe scheinen unmodern, obschon sie das ausdrücken, was im Anglizismenkauderwelsch niemand mehr versteht.

    Kommt dann noch Albernheiten hinzu, wie Sternchen oder Würgelaute beim Sprechen ob der vermeintlichen politischen Korrektheit, hat die eigentlich gute Sache bereits verloren. Ich wage mal eine Prognose: in fünf Jahren weiß niemand mehr, was ein Gendersternchen war und man spricht wie Erwachsene, beispielsweise von Kolleginnen und Kollegen.

  2. Ich frage mich ja, auf wen sich Gigolds Empathie sonst noch nicht erstrecken würde. Hätte er zum Beispiel Empathie mit Geschäften, die keine Kartenzahlungen annehmen möchten und dafür als Steuerhinterzieher werden.

    Nach Gigolds Dichotomie… äh… „Logik“ würde ich diesen Nils Heck definitiv eher als Arschloch denn als „woke“ betrachten. (Aber andererseits ist Mastercard ein Sponsor von Paymentbanking und dementsprechend muss man denen gegenüber natürlich unterwürfigste rektale Höhlenforschung betreiben.)

  3. Moin Herr Schulte,

    bitte lesen Sie diese Anmerkung als Versuch auszugleichen, obwohl ich aus eigener Erfahrung im Austausch mit Herrn Gigold geprellt bin.

    Herr Gigold hat die Tendenz seine Anmerkungen sehr knapp zu formulieren. Dabei wird häufig eine (unbeabsichtigte?) Schärfe der Formulierung erreicht. Möglicherweise ist das Ausdruck eines ausgeprägten Selbstbewußtseins im Beruflichem, der auf berufsfremde Themen übertragen wird in denen er nicht schon deswegen gleiche Kompetenz hat.
    Manchmal wäre es also besser, wenn er etwas weitschweifiger formulierte und so verbindlicher wäre.

    Zum Thema selbst siehe → https://www.re-actio.com/wordpress/kommentierter-textauszug-zu-wokeness-viele-benutzen-den-begriff-nur-wenige-wissen-wovon-sie-reden/

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