Friedrich Merz und der Mythos vom „unerfahrenen“ Kanzler

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von Horst Schulte

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Es ist inzwischen ein Ritual: Kaum läuft bei Kanzler Merz etwas schief, greifen manche Kommentatoren zu derselben Leier. Man sehe jetzt eben, dass er nie ein Regierungsamt innehatte, heißt es dann, er habe ja „noch nie regiert“. So, als wäre der Lebenslauf die eigentliche Regierungsleistung – und nicht das, was jemand im Amt tut.

Natürlich ist Regierungserfahrung kein Nachteil. Wer schon einmal ein Ministerium geführt hat oder als Ministerpräsident ein Land regierte, weiß, wie träge Verwaltung sein kann, wie langsam Apparate reagieren und wie mühsam Koalitionsdisziplin ist. Aber aus der Binsenweisheit „Erfahrung hilft“ eine Art Ausschlusskriterium zu basteln, nach dem ein Kanzler ohne Vorlauf im Kabinett quasi von Natur aus überfordert sein muss, ist intellektuell bequem – und politisch billig.

Schaut man sich die politische Landschaft an, bricht diese Argumentation schnell in sich zusammen. Viele Regierungschefs sind ohne vorheriges Regierungsamt angetreten, manche wurden sehr gute Kanzler oder Präsidenten, andere sind gescheitert – so wie auch alte Hasen scheitern. Erfahrung ist ein Werkzeug, kein Heilsversprechen. Ausgerechnet jene, die Merz heute vorhalten, er habe nie regiert, haben in der Vergangenheit nicht selten „frischen Wind“ und „Quereinsteiger“ gefeiert. Offenbar ist der fehlende Stallgeruch immer dann ein Problem, wenn man denjenigen ohnehin nicht mag.

Dazu kommt: Niemand würde ernsthaft behaupten, ein DAX-Chef sei automatisch ungeeignet, wenn er zuvor „nur“ Vorstand war. Auch im Journalismus selbst wäre die Forderung absurd, Chefredakteur dürfe nur werden, wer vorher schon Chefredakteur war. Leadership-Rollen sind immer ein Sprung ins kalte Wasser.

Im Fall von Kanzler Merz gibt es genug Angriffsfläche, über die sich zu reden lohnte: seine migrationspolitische Härte, der Umgang mit der Schuldenbremse, die außenpolitischen Töne, die er anschlägt, seine Art, Konflikte in der Koalition auszufechten. Man kann all das scharf kritisieren, sachlich sezierend oder politisch leidenschaftlich. Aber wer ernsthaft so tut, als ließen sich diese Probleme auf die fehlende Frühkarriere im Kabinett zurückführen, der weicht der inhaltlichen Auseinandersetzung aus.

Das Mantra „Er hat ja nie regiert“ funktioniert dabei wie eine nachträgliche Rechtfertigung. Hätte Merz bislang eine glücklichere Hand bewiesen, würden wahrscheinlich dieselben Stimmen seine „Freiheit von Altlasten“ und seinen „unverbrauchten Blick“ loben. Erfolg wird dann gern als Charaktereigenschaft verkauft, Misserfolg als biografischer Makel. Beides ist unredlich, weil es Politik zur Schicksalsfrage stilisiert und die konkreten Entscheidungen dahinter unsichtbar macht.

Eine reife Demokratie braucht harte Kritik – gerade am Kanzler. Aber sie braucht keine biografischen Ersatz-Debatten, die so tun, als wäre der Weg ins Amt wichtiger als das, was im Amt geschieht. Wer Merz stellen will, sollte seine Gesetze, seine Kommunikation, seinen Umgang mit Macht kritisieren. Das ist anstrengender, weil man genauer hinschauen und differenzieren muss. Aber nur so wird aus Empörung Debatte – und aus Meinung Urteil.

Am Ende wird sich Kanzler Merz an seinen Ergebnissen messen lassen müssen: an Wohlstand, sozialem Frieden, internationalem Gewicht, an der Frage, ob er die Republik zusammenhält oder weiter spaltet. Ob vorher ein Ministertitel auf seinem Türschild stand, wird in den Geschichtsbüchern eine Fußnote sein – mehr nicht.


Horst Schulte

Herausgeber, Blogger, Amateurfotograf

Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe auf dem Land.

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Artikelinformationen

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4 Gedanken zu „Friedrich Merz und der Mythos vom „unerfahrenen“ Kanzler“

  1. Die Worte des Bundeskanzlers haben nun mal Gewicht, allerdings hatten wir in der vorherigen Regierung auch eine Außenministerin, die sich um Kopf und Kragen redete.

    Annalena Baerbock eher aus Naivität, Merz aus mangelnder Impulskontrolle heraus. Das Problem ist, dass Menschen, die sich verbal nicht im Griff haben, irgendwann nicht mehr ernst genommen werden. Das allerdings wäre fatal. Wenn er das nicht begreift, wird er wohl in die Geschichte eingehen – als Bundeskanzler mit der kürzesten Amtszeit in der Geschichte der Bundesrepublik.

  2. @Horst Schulte: Merz spricht ja nicht als Privatperson, sondern als Regierungschef. ich denke, dass ist schon ein Unterschied. Unbedachte Äußerungen können zu Zweifel an der Kompetenz und Glaubwürdigkeit nicht nur des Kanzlers, sondern der ganzen Regierung führen. Zudem wird die Bundesregierung natürlich international beobachtet. Eine unbedachte Äußerung kann diplomatische Spannungen auslösen. Die Worte des Bundeskanzlers sind somit nicht nur einfache Worte, sondern können Handlungen mit Folgen für die Bundesrepublik auslösen. Ich vermute mal, beim nächsten Impulsverlust ist er nicht mehr haltbar.

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