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Wäre die Rente heute besser, wenn 2015 niemand gekommen wäre?
Es ist ein beliebtes Bild, das AfD-Leute senden: Wenn „wir“ seit 2015 nicht Milliarden für Geflüchtete ausgegeben hätten, würde Oma Erna heute eine deutlich höhere Rente bekommen. Das klingt bestechend einfach. Ein wenig so, als könnte man die Dinge nach dem Motto lösen: weniger „Geflüchtete“, mehr „Renten“, Problem gelöst.
Die Wirklichkeit ist – Überraschung – komplizierter, aber auch aufschlussreicher. Wenn man sich Zahlen und Studien genauer anschaut, bleibt von dieser Erzählung nicht viel mehr übrig als die Stimmungspolitik, für die die Rechten steht.
Was hat die Fluchtmigration den Staat überhaupt gekostet?
Fangen wir bei der berühmten „Milliardenlast“ an. Seriöse Schätzungen zu den öffentlichen Ausgaben für die Flüchtlingsmigration seit 2015 liegen – je nach Jahr und Rechenweise – im Bereich von rund 20 bis 40 Milliarden Euro pro Jahr. Eine Simulation im Wirtschaftsdienst beziffert die gesamtstaatlichen Kosten (Bund, Länder, Kommunen) für die Jahre um 2020/2021 auf rund 40 bis 45 Milliarden Euro, für 2025 auf knapp 30 bis knapp 40 Milliarden, je nach Szenario.
Das ist viel Geld. Aber jetzt stellen wir das daneben, worüber wir eigentlich reden: die Rente. Die gesetzliche Rentenversicherung alleine gibt 2024 rund 397 Milliarden Euro aus. Nimmt man alle Rentenarten zusammen – gesetzlich, betrieblich, privat – liegt man über 400 Milliarden Euro.
Selbst wenn man also unterstellt, jeder Euro für Geflüchtete hätte stattdessen eins zu eins in die Rentenkasse fließen können (was sachlich falsch ist), reden wir über eine Größenordnung von vielleicht zehn Prozent der heutigen Rentenausgaben – im besten Fall und in den absoluten Spitzenjahren. Und schon das ist eine grobe Vereinfachung, weil sich diese Ausgaben auf viele Bereiche verteilen: Unterbringung, Bildung, Integration, Verwaltung, Kommunalhaushalte. Es ist eben nicht ein separater „Flüchtlingstopf“, den man einfach auf „Rente“ umlabeln könnte.
Kurz gesagt: Die Erzählung „Flüchtlinge statt Rente“ tut so, als wäre das dieselbe Kasse. Ist sie nicht.
Die eigentliche Riesenbaustelle heißt Demografie – nicht Migration
Das deutsche Rentensystem funktioniert im Umlageverfahren. Die 397 Milliarden Euro, die 2024 an Renten & Co. ausgezahlt wurden, kommen überwiegend aus den laufenden Beiträgen der heute Beschäftigten – plus einem wachsenden Zuschuss aus Steuermitteln, der 2024 bei rund 116 Milliarden Euro lag (leider mit stark zunehmender Tendenz).
Die wirkliche Stellschraube ist also nicht primär die Frage, wie viele Milliarden für Geflüchtete ausgegeben werden, sondern wie viele Menschen hier arbeiten, wie gut sie verdienen und wie viele Rentnerinnen und Rentner diesem Beitragszahlerkreis gegenüberstehen. Und genau da drückt der Schuh:
Die Babyboomer gehen in Rente, die Lebenserwartung steigt, die geburtenschwachen Jahrgänge rücken nach – das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentenempfänger:innen kippt. Deshalb explodieren die Ausgaben, deshalb steigt der Bundeszuschuss, deshalb diskutieren wir über Beitragssätze, Rentenniveau und höhere Lebensarbeitszeit. Ob 2015 Geflüchtete gekommen sind oder nicht, ändert an diesem Grundmechanismus nichts.
Mit anderen Worten: Man kann sich über Integrationspolitik, Steuerung der Migration und Verteilungspolitik trefflich streiten. Aber so zu tun, als sei die Rentenmisere in nennenswertem Umfang ein „Flüchtlingsproblem“, ist in etwa so ehrlich, wie den Klimawandel auf den Swimmingpool der Nachbarn zu schieben.
Was ist mit den vielzitierten „Einsparungen“?
Drehen wir den Gedanken einmal so, wie ihn AfD-Politiker gern präsentieren: Hätten wir die Fluchtmigration seit 2015 weitgehend verhindert und entsprechend weniger Geld ausgegeben, stünde die Rente heute spürbar besser da.
Dazu braucht es zwei gedankliche Verrenkungen. Erstens: Man muss so tun, als wären alle Ausgaben für Geflüchtete verzichtbar. Zweitens: Man muss so tun, als ließen sie sich komplett in Rentenzuschüsse umschichten.
Beides stimmt nicht.
Zum einen handelt es sich bei diesen Ausgaben auch um verfassungs- und menschenrechtliche Verpflichtungen: Asylrecht, Unterbringung, Rechtsstaat. Das sind keine optionalen Luxusprojekte. Zum anderen wird ein großer Teil der Flüchtlingsausgaben auf Länderebene und bei Kommunen verbucht, während die dicken Brocken der Rentenfinanzierung auf Bundesebene laufen. Der Bundeszuschuss zur Rentenversicherung lag 2024 bei deutlich über 110 Milliarden Euro und soll 2026 Richtung 128 Milliarden steigen – das ist rund ein Drittel aller Bundessteuereinnahmen.
Selbst wenn man also politisch beschlossen hätte: „Wir sparen bei der Migration, um mehr für die Rente zu haben“, wäre der Effekt auf die strukturelle Lage der Rentenversicherung begrenzt geblieben. Ein paar Milliarden mehr oder weniger Bundeszuschuss ändern nichts daran, dass das System aufgrund der Altersstruktur des Landes an seine Grenzen läuft.
Man kann es auch knochentrocken so formulieren: Die Rentenprobleme sind in erster Linie hausgemacht – durch Demografie, Arbeitsmarktpolitik und frühere rentenpolitische Entscheidungen. Das „Flüchtlingsbudget“ ist im Vergleich dazu eine Nebenbühne.
Die andere Seite der Bilanz: Geflüchtete als Beitragszahler
Jetzt kommt noch ein Punkt dazu, der in der AfD-Erzählung konsequent ausgeblendet wird: Geflüchtete sind nicht auf ewig „Kostenstellen“. Sie arbeiten, gründen Unternehmen, zahlen Steuern und Beiträge – oder sie tun es nicht, je nachdem, wie gut Integration gelingt.
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat sich gemeinsam mit dem DIW genau diese Frage angeschaut. Ihr Fazit: Die Fluchtmigration verursacht zunächst erhebliche fiskalische Kosten, aber mit zunehmender Integration in den Arbeitsmarkt verringern sich diese Kosten und es entstehen zusätzliche Einnahmen. Investitionen in Integration lohnen sich gesamtwirtschaftlich.
Zehn Jahre nach „Wir schaffen das“ sieht man die Spuren in den Statistiken: Für die 2015 zugezogenen Geflüchteten lag die Beschäftigungsquote 2024 bei rund 64 Prozent, in einigen Auswertungen für Männer sogar über dem Durchschnitt der männlichen Bevölkerung. Das ist kein Randphänomen mehr, sondern eine relevante Gruppe im Arbeitsmarkt.
Parallel dazu ist der Anteil ausländischer Beschäftigter insgesamt stark gestiegen. 2015 hatten rund 9,2 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten eine ausländische Staatsangehörigkeit, 2024 waren es bereits etwa 16 Prozent – rund 6,3 Millionen Menschen. Viele von ihnen sind in den Jahren nach 2015 gekommen.
Diese Leute zahlen heute jeden Monat in die Rentenkasse ein. Ohne sie wären die Beitragseinnahmen niedriger, der Bundeszuschuss noch höher oder das Rentenniveau noch stärker unter Druck. Die gern erzählte Geschichte, Geflüchtete „würden uns die Rente kosten“, dreht die Logik damit schlicht um: Sie unterschlägt, dass die zusätzliche Zuwanderung zugleich eine Entlastung auf der Beitragsseite bringt.
Ein Gedankenexperiment ohne Pathos, nur mit Taschenrechner
Stell dir vor, Deutschland hätte 2015 seine Türen weitgehend geschlossen. Keine oder kaum Fluchtmigration, entsprechend weniger Ausgaben. Nehmen wir eine grobe Hausnummer von 30 Milliarden Euro pro Jahr, die man sozusagen „eingespart“ hätte – auf der Basis der oben genannten Simulationen.

Gleichzeitig gäbe es heute:
weniger sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, weniger Beitragszahler, weniger Einkommensteuer, weniger Konsum und Mehrwertsteuer, weniger wirtschaftliche Aktivität insgesamt.
Die Rentenausgaben wären fast genauso hoch, weil die Babyboomer trotzdem in Rente gehen. Die Ausgaben 2024 von rund 397 Milliarden Euro in der gesetzlichen Rentenversicherung hängen nicht daran, wie viele Geflüchtete gekommen sind, sondern daran, wie viele Menschen altersbedingt in den Ruhestand wechseln.
Was wäre anders? Der Bundeszuschuss könnte vielleicht ein paar Milliarden niedriger sein. Vielleicht. Gleichzeitig wären die Einnahmen des Staates ohne zigtausende zusätzliche Beschäftigte mit Migrationsgeschichte ebenfalls geringer. Die IAB- und DIW-Studien legen nahe, dass sich dieser Saldo im Laufe der Zeit Richtung ausgeglichen oder sogar leicht positiv bewegt – vorausgesetzt, Integration gelingt halbwegs.
Das heißt übersetzt: Selbst in einer sehr migrationskritischen Rechnung wäre der Abstand zwischen „Deutschland mit Fluchtmigration“ und „Deutschland ohne Fluchtmigration“ bei der Rente kein fundamentaler Systembruch, sondern eine spürbare, aber eher moderate Verschiebung. Von einer „Rettung der Rente“, wie sie suggeriert wird, kann keine Rede sein.
Warum das Märchen trotzdem so gut funktioniert
Warum hält sich die Erzählung dann so hartnäckig? Weil sie psychologisch perfekt funktioniert. Rentenpolitik ist abstrakt: Umlageverfahren, Beitragssätze, Nachhaltigkeitsrücklage, Rentenniveau – da steigen viele innerlich aus. Flüchtlingsunterkunft im Nachbarort, Streit um Integrationskurse, Bilder von 2015 – das ist konkret, emotional aufgeladen. Funktioniert auch bei mir.
Die Erzählung „Das Geld, das euch fehlt, kriegen die anderen“ schiebt die Frustration über reale Probleme – niedrige Renten, steigende Preise, unsichere Zukunft – auf eine klar markierte Gruppe. Genau das ist der Kern des rechten Kulturkampfs: Gefühle der Vernachlässigung aufnehmen, sie aber gegen die Schwächeren drehen, nicht gegen die tatsächlichen Macht- und Verteilungsstrukturen.
Man könnte auch anders erzählen: Dass die strukturellen Probleme der Rente Jahrzehnte vor 2015 absehbar waren. Ich erinnere mich an Kurt Biedenkopf, der schon in den 1980er Jahren von der demografischen Entwicklung redete. Regierungen aller Farben haben Reformen verschoben. Dass wir ein Arbeitsmarktmodell pflegen, in dem Millionen Menschen jahrzehntelang (Hartz IV) schlecht bezahlt, prekär beschäftigt oder in Minijobs gehalten wurden und werden – mit allen Folgen für die spätere Rente. Und dass Migration, wenn man sie ernsthaft gestaltet, eher Teil der Lösung als Teil des Problems ist.
Aber diese Geschichte ist komplizierter, sie lässt sich schwer auf ein Wahlplakat drucken.
Fazit: Die Rente wird nicht im Asylbewerberheim entschieden
Wenn man die Zahlen sortiert und nicht nur Gefühle, bleibt unterm Strich: Einsparungen bei der Fluchtmigration seit 2015 hätten an der heutigen Rentensituation etwas geändert, aber nichts Grundsätzliches. Sie hätten die grundlegenden demografischen und arbeitsmarktpolitischen Probleme nicht gelöst, sondern allenfalls kosmetisch übertüncht – auf Kosten von Menschen, die vor Krieg und Verfolgung geflohen sind.
Die Rente ist ein Spiegel dessen, wie eine Gesellschaft mit Arbeit, Löhnen, Geschlechterrollen, Migration und politischer Verantwortung umgeht. Wer so tut, als hätte man das alles mit einem „Hätten wir die 2015 nicht reingelassen…“ in den Griff bekommen, verkauft keine Analyse, sondern ein Trostpflaster.
Und wie so oft bei zu einfachen Geschichten gilt: Sie fühlen sich kurz gut an – aber sie halten der Realität nicht stand.



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