Unterstellungen oder notwendige Demokratiekritik? Die Grenzen sind fließend.

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von Horst Schulte

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Friedrich Merz’ Rentenpaket hat die Republik nicht nur politisch, sondern auch analytisch beschäftigt. Besonders interessant ist die spieltheoretische Zerlegung, die Prof. Rieck an diesem Fall vornimmt: Er attestiert der CDU – und personifiziert damit letztlich Merz – gravierende strategische Fehler in der Anlage der kompletten Verhandlungen. Vor allem der selbstauferlegte Ausschluss bestimmter Gesprächspartner wird als rational kaum zu rechtfertigende Schwächung der eigenen BATNA (Beste Alternative zu einer Verhandlungseinigung), beschrieben.​

Rieck argumentiert, wer sich frühzeitig festlegt, mit bestimmten Parteien nicht zu sprechen, beraubt sich eigener Optionen, verschlechtert seine Verhandlungsposition und verschließt sich möglichen kreativen Lösungen. Genau das wirft er der CDU vor: ideologische Unvereinbarkeitsbeschlüsse statt taktischer Elastizität. Hinzu komme eine nicht genutzte Selbstbindung – Merz hätte den inneren Konflikt mit den jungen Abgeordneten spieltheoretisch als Hebel gegenüber der SPD einsetzen können, um mehr für seine Seite herauszuholen. Stattdessen steht er am Ende mit einem Paket da, das zwar beschlossen wurde, aber politisch teuer bezahlt wird.

Soweit konnte ich folgen. Der eigentlich brisante Teil von Riecks Video liegt jedoch in der Generalisierung. Er arbeitet mit dem Begriff der Nutzenauszahlungen und fragt, welche Ziele Politiker in der Realität wirklich maximieren. Das eine, verfassungsgemäß naheliegende Ziel wäre: dem Land und seinen Bürgern zu dienen, also die gesamtgesellschaftliche Position zu verbessern. Das andere, das er recht ungerührt in den Raum stellt, lautet: ein paar Monate länger regieren, die eigene Partei sichern, notfalls gegen den langfristigen Zustand des Landes. 

Damit unterstellt er „den Politikern“ – nicht nur Merz – eine systematische Priorisierung eigener Machtinteressen vor dem Gemeinwohl. Demokratisch ist diese Diagnose in diesen Zeiten aus meiner Sicht sehr heikel, weil sie (wie vieles, was wir lesen und hören) an der Vertrauensbasis repräsentativer Systeme kratzt: Wenn das Parlament nicht mehr als Treuhänder des Gemeinwohls, sondern als Aggregat von Eigeninteressen erscheint, wird der Weg zur generellen Verachtung „der Politik“ kurz. Zugleich ist genau diese Art von Kritik ein unverzichtbarer Bestandteil demokratischer Öffentlichkeit: Sie benennt Motive, die in offiziellen Verlautbarungen nie vorkommen, aber faktisch handlungsleitend sein können.

Entscheidend ist deshalb weniger die Frage, ob Riecks Unterstellungen „nett“ sind, sondern ob sie argumentativ getragen sind. Und natürlich auch, von welcher politischen „Seite“ man auf die Vorgänge in Berlin schaut. Rieck bleibt ja nicht bei pauschalem Politiker-Bashing stehen, sondern führt eine konsistente spieltheoretische Logik an: Wer die eigenen Alternativen abschneidet, wer interne Konflikte nicht produktiv nutzt und wer kurzfristige Gesichtswahrung über langfristige Systemstabilität stellt, verhält sich so, wie es ein Modell mit starkem Eigeninteresse vorhersagen würde. In dieser Lesart sind seine Aussagen zulässig und im Rahmen der Meinungsfreiheit gedeckt – und sie sind auch nachvollziehbar, solange sie als Hypothesen über Anreizstrukturen verstanden werden und eben nicht als moralisches Endurteil über jeden einzelnen Mandatsträger. Ich muss zugeben, dass mir das in diesem Fall einmal mehr schwergefallen ist.

Demokratie wird dadurch nicht automatisch beschädigt. Gefährlich wird es erst dort, wo aus Kritik an konkreten Machtkonstellationen eine pauschale Delegitimierung aller Institutionen wird. Riecks Video bewegt sich knapp unterhalb dieser Schwelle: provokant, generalisierend, an manchen Stellen stärker behauptend als belegend, aber im Kern darauf aus, die zugrunde liegenden Zielkonflikte sichtbar zu machen. Wer Demokratie ernst nimmt, muss genau diese unangenehmen Fragen zulassen – und ihr Risiko ist letztlich geringer als das einer Öffentlichkeit, die aus Höflichkeit auf jede Form tiefergehender Motivkritik verzichtet.​


Horst Schulte

Herausgeber, Blogger, Amateurfotograf

Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe auf dem Land.

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