Wir Deutschen – Meister im „Selbstkleinreden“ und doch süchtig nach Anerkennung

Foto des Autors

von Horst Schulte

Lesezeit:  Min.


Kein Volk der Welt versteht es so virtuos, sich selbst kleinzureden – und kleinreden zu lassen – wie wir Deutschen. Wir perfektionieren die Kunst der Demotivation mit einer Akribie, die beinahe bewundernswert ist. Dabei sind wir zugleich süchtig nach Anerkennung: Lob aus dem Ausland saugen wir auf wie ein verdursteter Schwamm. Umso verstörender wirkt das Deutschland-Bild, das uns heute aus dem Spiegel der Welt entgegenschaut.

Selbstermutigung Deutschland
Selbstermutigung Deutschland

Ich bin ja selbst Teil dieses Volkes, das sich mit bewundernswerter Akribie in die Grütze schreibt. Wir sezieren uns, bis nichts mehr bleibt außer Selbstzweifel und Misstrauen. Ein Quäntchen mehr Optimismus – da wäre schon viel gewonnen. Vielleicht ist das der Preis der Demografie und der Überalterung unserer Gesellschaft. Diese Ausrede kann nicht greifen, weil ähnliche Schwierigkeiten in vielen Ländern der Welt existieren.

Man merkt diesem Text von Gujer an, dass er deutsche Vorfahren hat. Wenn ich diesen furchtbaren Befund über unser Land lese, neige ich widerwillig dazu, dem Mann, Chefredaktor der schweizerischen NZZ, zuzustimmen.

Dabei hatten wir es so gut, eine lange Zeit hindurch. Jedenfalls, wenn man in Menschenjahren rechnet. Die meisten kennen gar nichts anderes. Die Ära nach der Wiedervereinigung war primär ein Triumph der Ökonomie, aber auch eine Zeit des Verschleißes. Der Kapitalismus mit angeschlossenem Sozialstaat in seiner sich brachial entwickelnden Form hat Spuren hinterlassen, die viele erst nach und nach wahrnehmen. Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, Altersarmut, Obdachlosigkeit – all das sind längst keine Randnotizen mehr, sondern Symptome einer Gesellschaft, die aus dem Gleichgewicht geraten ist.

Deutschland geht es gut“, verkündete einst die CDU. Es war immer schon ein Satz, der mehr verkleisterte als erklärte. Die gefühlte Sicherheit der Mitte überdeckte die Erosion am Rand.

Dankbarkeit lässt sich nicht verordnen. Keine Partei kann sie einfordern, und keine Bevölkerung lässt sich dazu überreden. Wir wurden, so scheint es, zu sozialstaatlich umsorgten Egoisten erzogen – wohlgenährte Kritiker unseres eigenen Systems. Das klingt schärfer, als ich es meine. Ich bin überzeugt vom Wert des Sozialstaats. Aber sein ineffizientes Dahinvegetieren darf man nicht mit Fürsorge verwechseln. Ihn zu reformieren wäre ganz dringend, ihn infrage zu stellen, aus meiner Sicht fatal. Das macht offiziell natürlich auch niemand. Gewisse Tendenzen erkennt man allerdings zwischen den Zeilen.

Was uns fehlt, ist der Wille zur Selbstverantwortung, vielleicht auch der Glaube an unsere Selbstwirksamkeit. Wir haben uns eingerichtet in der Haltung des permanenten Meckerns, als wäre das Beschweren eine bürgerliche Tugend. Dabei wird die Zukunft fordern, dass wir wieder lernen, für das Ganze einzustehen, nicht nur für das Eigene.

Die sogenannten Wohlstandsverluste, die uns bevorstehen, werden sich nicht schönreden lassen. Man nennt sie beschwichtigend „Transformation“, doch sie sind nichts anderes als eine tektonische Verschiebung unserer Lebensweise. Sind wir bereit, sie auszuhalten? Reformen zu tragen, die weh tun, bevor sie wirken?

Man sagt, wir Deutschen seien geduldiger als unsere französischen Nachbarn. Ich bin mir da nicht so sicher. Geduld ist keine Tugend, wenn sie mit Passivität verwechselt wird.

Vielleicht liegt genau darin unser Dilemma: Wir sind ein Land, das viel aushält – aber ungern handelt.


Horst Schulte

Herausgeber, Blogger, Amateurfotograf

Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe auf dem Land.

hs010225 a

Artikelinformationen

Bereits 352 Mal gelesen1 heute

5 Gedanken zu „Wir Deutschen – Meister im „Selbstkleinreden“ und doch süchtig nach Anerkennung“

  1. Danke für diesen Artikel! Ich erlebe seit Tagen eine Art Schreibblockade, weil ich gerne etwas Ähnliches schreiben würde, aber das Ganze mir so komplex vorkommt, dass ich den Einstieg nicht schaffe. Aber auch das Zögern, am Niederschreiben, Jammern und Kritisieren“ folgenlos mitzuwirken, bremst mich aus.
    Auch ich stimme dem verlinkten NZZ-Artikel im Wesentlichen zu:

    „Deutschland hat in anderthalb Jahrzehnten einer beispiellosen Hochkonjunktur verlernt, sich seinen Problemen zu stellen. Mit Unsummen von Geld wurden alle Streitfragen zugeschüttet“

    „Es fehlt ein Konsens über die Probleme genauso wie eine Regierung, die den gordischen Knoten durchtrennen könnte. “

    „Deutschland steckt wie Frankreich oder Grossbritannien in der Falle saturierter Wohlfahrtsstaaten. Jede Reform produziert so viele Verlierer, dass zwar alle nach einem Aufbruch rufen, aber keiner ihn wirklich will. „

    In jüngeren Jahren dachte ich: Was soll dieser Wachstumswahn? Der Status Quo ist doch völlig ok, warum muss man immer höher, schneller weiter, zu Lasten der Erde?

    Mittlerweile weiß ich, dass dauerhafte Stagnation Schrumpfung und Wohlstandsverluste bedeutet und finde meine eigene Meinung von „früher“ arg naiv und ideologisch.

    Die Themen der Großmedien gehen an der geopolitischen Großlage (und all ihren Problemen und Folgen) ziemlich vorbei, aber vielleicht liegt mein Eindruck ja auch daran, dass ich sie nicht abonniert habe und es evtl. hinter den Zahlschranken mehr dazu gibt.

    Dass 5 Jahre ohne Wachstum dazu führen, dass die mit der Inflation einhergehenden Preiserhöhungen bei sämtlichen (ganz oder teilweise) staatsfinanzierten Institutionen ein „weiter so“ verunmöglichen, wird auch nicht ausreichend thematisiert. Die Sondervermögen und teilweise Aufhebung der Schuldenbremse verschaffen aktuell ein wenig Luft, aber das Dickicht an Gesetzen und Vorschriften, umständlichen Verfahrensweisen und vieles mehr entfaltet nach wie vor seine erhebliche Bremswirkung, jeglichen Wandel betreffend.

    Seit die Koalition regiert, habe ich nur Beschlüsse zu Mehrausgaben mitbekommen, abgesehen vom Thema „Bürgergeld“, wo jedoch die umsetzbaren Einsparungen nicht wirklich relevant sind – was man hätte wissen können.

    Ich mach hier mal Schluss, das Thema ist so riesig, da komm‘ ich noch vom Hölzchen aufs Stöckchen..

    Abr hier noch eine Fundsache, große Überschau zur Lage:

    https://betonfluesterer.wordpress.com/2025/10/31/mayukh-says/

Lass deinen Gedanken freien Lauf


Hier im Blog werden bei Abgabe von Kommentaren keine IP-Adressen gespeichert! Deine E-Mail-Adresse wird NIE veröffentlicht!


🧘 In der Ruhe liegt die Kraft.
🕒 Minuten
💬 5