Kein Volk der Welt versteht es so virtuos, sich selbst kleinzureden – und kleinreden zu lassen – wie wir Deutschen. Wir perfektionieren die Kunst der Demotivation mit einer Akribie, die beinahe bewundernswert ist. Dabei sind wir zugleich süchtig nach Anerkennung: Lob aus dem Ausland saugen wir auf wie ein verdursteter Schwamm. Umso verstörender wirkt das Deutschland-Bild, das uns heute aus dem Spiegel der Welt entgegenschaut.

Ich bin ja selbst Teil dieses Volkes, das sich mit bewundernswerter Akribie in die Grütze schreibt. Wir sezieren uns, bis nichts mehr bleibt außer Selbstzweifel und Misstrauen. Ein Quäntchen mehr Optimismus – da wäre schon viel gewonnen. Vielleicht ist das der Preis der Demografie und der Überalterung unserer Gesellschaft. Diese Ausrede kann nicht greifen, weil ähnliche Schwierigkeiten in vielen Ländern der Welt existieren.
Man merkt diesem Text von Gujer an, dass er deutsche Vorfahren hat. Wenn ich diesen furchtbaren Befund über unser Land lese, neige ich widerwillig dazu, dem Mann, Chefredaktor der schweizerischen NZZ, zuzustimmen.
Dabei hatten wir es so gut, eine lange Zeit hindurch. Jedenfalls, wenn man in Menschenjahren rechnet. Die meisten kennen gar nichts anderes. Die Ära nach der Wiedervereinigung war primär ein Triumph der Ökonomie, aber auch eine Zeit des Verschleißes. Der Kapitalismus mit angeschlossenem Sozialstaat in seiner sich brachial entwickelnden Form hat Spuren hinterlassen, die viele erst nach und nach wahrnehmen. Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, Altersarmut, Obdachlosigkeit – all das sind längst keine Randnotizen mehr, sondern Symptome einer Gesellschaft, die aus dem Gleichgewicht geraten ist.
„Deutschland geht es gut“, verkündete einst die CDU. Es war immer schon ein Satz, der mehr verkleisterte als erklärte. Die gefühlte Sicherheit der Mitte überdeckte die Erosion am Rand.
Dankbarkeit lässt sich nicht verordnen. Keine Partei kann sie einfordern, und keine Bevölkerung lässt sich dazu überreden. Wir wurden, so scheint es, zu sozialstaatlich umsorgten Egoisten erzogen – wohlgenährte Kritiker unseres eigenen Systems. Das klingt schärfer, als ich es meine. Ich bin überzeugt vom Wert des Sozialstaats. Aber sein ineffizientes Dahinvegetieren darf man nicht mit Fürsorge verwechseln. Ihn zu reformieren wäre ganz dringend, ihn infrage zu stellen, aus meiner Sicht fatal. Das macht offiziell natürlich auch niemand. Gewisse Tendenzen erkennt man allerdings zwischen den Zeilen.
Was uns fehlt, ist der Wille zur Selbstverantwortung, vielleicht auch der Glaube an unsere Selbstwirksamkeit. Wir haben uns eingerichtet in der Haltung des permanenten Meckerns, als wäre das Beschweren eine bürgerliche Tugend. Dabei wird die Zukunft fordern, dass wir wieder lernen, für das Ganze einzustehen, nicht nur für das Eigene.
Die sogenannten Wohlstandsverluste, die uns bevorstehen, werden sich nicht schönreden lassen. Man nennt sie beschwichtigend „Transformation“, doch sie sind nichts anderes als eine tektonische Verschiebung unserer Lebensweise. Sind wir bereit, sie auszuhalten? Reformen zu tragen, die weh tun, bevor sie wirken?
Man sagt, wir Deutschen seien geduldiger als unsere französischen Nachbarn. Ich bin mir da nicht so sicher. Geduld ist keine Tugend, wenn sie mit Passivität verwechselt wird.
Vielleicht liegt genau darin unser Dilemma: Wir sind ein Land, das viel aushält – aber ungern handelt.


Danke für diesen Artikel! Ich erlebe seit Tagen eine Art Schreibblockade, weil ich gerne etwas Ähnliches schreiben würde, aber das Ganze mir so komplex vorkommt, dass ich den Einstieg nicht schaffe. Aber auch das Zögern, am Niederschreiben, Jammern und Kritisieren“ folgenlos mitzuwirken, bremst mich aus.
Auch ich stimme dem verlinkten NZZ-Artikel im Wesentlichen zu:
In jüngeren Jahren dachte ich: Was soll dieser Wachstumswahn? Der Status Quo ist doch völlig ok, warum muss man immer höher, schneller weiter, zu Lasten der Erde?
Mittlerweile weiß ich, dass dauerhafte Stagnation Schrumpfung und Wohlstandsverluste bedeutet und finde meine eigene Meinung von „früher“ arg naiv und ideologisch.
Die Themen der Großmedien gehen an der geopolitischen Großlage (und all ihren Problemen und Folgen) ziemlich vorbei, aber vielleicht liegt mein Eindruck ja auch daran, dass ich sie nicht abonniert habe und es evtl. hinter den Zahlschranken mehr dazu gibt.
Dass 5 Jahre ohne Wachstum dazu führen, dass die mit der Inflation einhergehenden Preiserhöhungen bei sämtlichen (ganz oder teilweise) staatsfinanzierten Institutionen ein „weiter so“ verunmöglichen, wird auch nicht ausreichend thematisiert. Die Sondervermögen und teilweise Aufhebung der Schuldenbremse verschaffen aktuell ein wenig Luft, aber das Dickicht an Gesetzen und Vorschriften, umständlichen Verfahrensweisen und vieles mehr entfaltet nach wie vor seine erhebliche Bremswirkung, jeglichen Wandel betreffend.
Seit die Koalition regiert, habe ich nur Beschlüsse zu Mehrausgaben mitbekommen, abgesehen vom Thema „Bürgergeld“, wo jedoch die umsetzbaren Einsparungen nicht wirklich relevant sind – was man hätte wissen können.
Ich mach hier mal Schluss, das Thema ist so riesig, da komm‘ ich noch vom Hölzchen aufs Stöckchen..
Abr hier noch eine Fundsache, große Überschau zur Lage:
https://betonfluesterer.wordpress.com/2025/10/31/mayukh-says/
@ClaudiaBerlin: Danke für diesen ausführlichen Kommentar. Die Zustimmung tut mal gut 🙂 Dass die Auseinandersetzung mit der Realität von so wenigen Bloggern bearbeitet wird, macht mich traurig. Oder habe ich diesbezüglich einen falschen Eindruck. Die schreiben überwiegend lieber übers Bloggen an sich, nicht über so etwas Undurchdringliches. Ich muss damit leben, dass mir diese Sichtweise bestimmt nicht nur Sympathien eingebracht hat.
Bestimmt werden nicht alle Themen gleichermaßen von den „Großmedien“, wie du sie nennst, behandelt. Mir fehlt der Schwerpunkt Klimakatastrophe sehr. Das wird uns auf die Füsse fallen. Aber nachher wills natürlich wieder keiner gewesen sein. Die Ergebnisse werden, wie üblich, der Politik vor die Füße geworfen.
Wir sehen die Auswirkungen der Inflation, auch wenn sie auf vergleichsweise niedrigem Niveau liegt, wird vermutlich deshalb nicht beleuchtet, weil die Komplexität und auch die individuelle Wirkung schwer zu beschreiben sein wird. Es gibt Lebensmittel und andere Dinge unseres Alltags, die so Preiserhöhungen ausweisen, dass einem fast schlecht werden kann. Und wen trifft das besonders? Natürlich – die Armen bzw. die, die ohnehin nicht viel übrig haben.
Den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Prosperität und einem funktionierenden Sozialstaat hab ich auch lange ausgeblendet. Ideologische Überzeugungen haben mich so denken lassen, wie du es auch beschreibst. Was das wohl für ein ganzes Land bedeutet, in dem ein Großteil der Bevölkerung ähnlich sozialisiert worden ist? Welchen Einfluss hat allein dies auf die Bewegungswilligkeit, auf die Veränderungsbereitschaft einer Bevölkerung?
Danke für den Link.
@ClaudiaBerlin: Wie wohl die Adressaten der Vorwürfe sind, die im Beitrag verflucht werden?
@Horst Schulte: Den Link hab ich gepostet wegen der Übersicht zur makro- und mikro-Übersicht zur Lage. Dass an der aktuellen, aber lange lange sich anbahnenden Lage „ein paar wohlhabende urbane Millennials“ (in der vom Autor zitierten Äußerung) Schuld sein sollen, halte ich dagegen für Nonsens.
Überhaupt bringt es garnichts, irgenwelche Schuldigen zu suchen und zu bashen. Es gibt so etwas wie den Zeitgeist, der nie nur bestimmten Gruppen zugeordnet werden könnte. Ist doch klar, dass wenn alles gut läuft, ein moderates Wachstum ein „weiter so“ erwarten lässt und DE Exportweltmeister ist, alle Schichten ihre Ansprüche ausweiten – und nicht nur die eigenen, sondern auch vieles für Umweltschutz, Klima, humanitäre Ausgaben und und und.
Jetzt aber haben wir Trump, der das bisherige Weltwirtschaftssystem allgemeingültiger Vorgehensweisen zerstört hat – auch nicht ganz grundlos, angesichts der Schuldenproblematik der USA, aber eben recht Trampeltierhaft. Und natürlich Putin, der mittels Krieg wieder Weltmacht sein will und Xi, der China zur Weltmacht entwickelt hat, damit aber nicht genug zu haben scheint. Und im übrigen recht wenig wandlungsfähige Konzerne, allen voran die Autohersteller, die mit ihren Hin- und Her- in Sachen Elektro/Verbrenner sich selbst zugrunde richten, während in Chinas Mega-Städten Motorengeräusche weitgehend verstummt sind. Aber hierzulande hat es sich ja „nicht gelohnt“, kleinere bezahlbare E-Autos auf den Markt zu bringen, so jedenfalls die Begründungen.
(Beispielhaft engagiert ist übrigens der LIDL-Gründer, der in Heilbronn einen KI-Campus finanziert).
Dass es angesichts der Lage wenig Bereitschaft gibt, mehr gegen den Klimawandel zu tun, ist nicht verwunderlich. Das ganze Thema gilt jetzt als „links-grün“ bzw. „woke“ und wird erstmal hintangestellt. Hast du denn eine Vorstellung, was konkret getan werden könnte? Z.B. die Häuser dämmen wäre so etwas, das kommt in allen Gutachten vor, ABER: angesichts der jetzt schon unerträglich hohen Mieten, wer soll denn das leisten?
@ClaudiaBerlin: mich hat die Klarheit dieser Ursachenbeschreibung schon sehr getriggert. Deshalb habe ich es so gebloggt. Dass diese Schuldzuschreibung nicht allen gefällt, versteht sich von selbst.