Die Milch kocht über

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Der Son­nen­hof hat­te für uns Kin­der etwas Para­die­si­sches. Mei­ne Schwes­ter wur­de dort gebo­ren. Ich bin fünf Jah­re älter als sie und war etwa 3 Jah­re alt als wir dort­hin gezo­gen sind.

Mein Vater war 29 Jah­re alt als er aus 5jähriger rus­si­scher Kriegs­ge­fan­gen­schaft nach Hau­se zurück­ge­kehr­te. 1939 war er ein­be­ru­fen wor­den und erst 1949 nach Hau­se zurück­ge­kehrt. Ich den­ke, wie vie­le in die­ser Lage, hat er ver­sucht, wenigs­tens ein Fit­zel­chen der durch den Krieg ver­lo­re­nen zehn Lebens­jah­re nach- oder aufzuholen.

Mei­ne Mut­ter und er lern­ten sich im Som­mer in der „Bade­an­stalt“ unse­res Städt­chens ken­nen. Mei­ne Mut­ter erzählt heu­te noch, dass sie von sei­nen wun­der­ba­ren wei­ßen und makel­lo­sen Zäh­nen begeis­tert gewe­sen wäre. Ich glau­be ja, ein biss­chen mehr wird es wohl gewe­sen sein. Schließ­lich hat ihre Ehe über fünf­zig Jah­re gedauert.

Mei­ne Mut­ter war 19 Jah­re alt als sie mei­nen Vater ken­nen­lern­te. Sie küm­mer­te sich als Ältes­te ganz allein um ihren Bru­der und ihre klei­ne Schwes­ter. Die drei Geschwis­ter waren schon seit eini­gen Jah­ren Voll­wai­sen. Mein Vater nahm gewis­ser­ma­ßen die väter­li­che Rol­le ein.

Als gelern­ter Gärt­ner bekam er eine ent­spre­chen­de Stel­le auf dem Son­nen­hof. Sei­ne Auf­ga­be bestand in der gärt­ne­ri­schen Pfle­ge eines, jeden­falls für heu­ti­ge Ver­hält­nis­se, sehr gro­ßen Pri­vat­be­sit­zes. Die­ser gehör­te einem der Indus­tri­el­len, die es damals noch in unse­rer Stadt gege­ben hat. Neben sei­nem Chef gab es außer mei­nem Vater in der Gärt­ne­rei noch drei Kol­le­gen – alle eben­falls Gärtner.

Als Mit­te der 50er-Jah­re der Chef mei­nes Vaters ver­starb, trat er des­sen Nach­fol­ge an.

Damit war unser Umzug auf den Son­nen­hof in ein „eige­nes“ Haus beschlos­se­ne Sache. Übri­gens, ein Haus mit Zen­tral­hei­zung und Bade­zim­mer. Ich war damals noch zu klein, um mich an die­se gera­de­zu luxu­riö­sen Ver­än­de­run­gen für unse­re Fami­lie erin­nern zu kön­nen. Anfang der 1970er, der Son­nen­hof muss­te dem Rhein­braun – Tage­bau wei­chen, zogen wir in eine Miet­woh­nung in Ble­ri­chen. Dort gab es kei­ne Hei­zung. Den Unter­schied habe ich damals ken­nen­ge­lernt. War nicht schön. Man gewöhnt sich halt leich­ter an posi­ti­ve Veränderungen 🙂

Bil­der vom alten Sonnenhof:

Wir wohn­ten gleich neben der Gärt­ne­rei, zwei rie­si­ge Gär­ten lagen kei­nen Stein­wurf von unse­rem Wohn­haus ent­fernt. Die Fami­lie Holt­kott, die Besit­zer des Anwe­sens, führ­ten neben den RLB Wer­ken in Bedburg u.a. noch ein mit­tel­gro­ßes Hotel in Köln auf dem Kai­ser-Wil­helm-Ring. Dafür wur­den unzäh­li­ge Blu­men, Gemü­se und eben alles Mög­li­che gebraucht.

(Luft­auf­nah­me Son­nen­hof. Das ist das Haupt­ge­bäu­de. Um die­ses her­um erstreck­te sich ein Wald­ge­biet mit zwei gro­ße Gär­ten und eini­ge Kilo­me­ter Wanderwege.)

Mei­ner Schwes­ter und mir man­gelt es nicht an wun­der­ba­ren Erin­ne­run­gen an eine rich­tig schö­ne Kind­heit. Unse­re Freun­de, die den Son­nen­hof ken­nen­ge­lernt haben, tei­len bis heu­te unse­re Begeisterung.


Ich möch­te eine Geschich­te erzäh­len, die pas­siert ist, als ich unge­fähr fünf Jah­re alt war. Also zu einer Zeit, als mei­ne Schwes­ter noch nicht gebo­ren war. Ich erin­ne­re mich noch ziem­lich genau.

Auf dem Gelän­de des Son­nen­hofs gab es einen klei­nen land­wirt­schaft­li­chen Betrieb, einen Ten­nis­platz, ein Schwimm­be­cken, einen See­ro­sen­teich und zwei gro­ße Wei­den für Kühe. Ich glau­be, es waren 5 oder 6. Schwei­ne und Hüh­ner gab es auch. Für die Pfle­ge der Kühe war ein so genann­ter „Schwei­zer“ zustän­dig.

Jeden Abend gab es für uns einen Liter fri­sche Milch. Die­se wur­de nach dem Mel­ken in der so genann­ten Milch­kü­che (sie­he Bild­be­schrei­bung in der Foto-Gale­rie) bear­bei­tet, so dass sie danach nur noch abge­kocht wer­den muss­te. Mei­ne Auf­ga­be war es, unse­ren Liter Milch abends abzu­ho­len und in unse­re Küche zu bringen.

Eines Abends, drau­ßen war es schon fast dun­kel, woll­te mein Vater die gera­de von mir abge­lie­fer­te Milch kochen. Mei­ne Mut­ter war noch zum Ein­kauf in Bedburg. Übri­gens hat­ten wir nie ein Auto. Des­halb wur­den die wöchent­li­chen Ein­käu­fe grund­sätz­lich zu Fuß oder mit dem Rad erledigt.

Bedburg lag ca. 3 bis 4 km (?) vom Son­nen­hof ent­fernt, genau­er gesagt von unse­rem Haus. Das war eine der Schat­ten­sei­ten unse­rer ansons­ten pri­vi­le­gier­ten Wohn­la­ge. Zur Bedbur­ger Schu­le war es ein lan­ger Weg, auch mit Rad. Im Win­ter lag lei­der schon damals nicht so häu­fig Schnee, dass ich oft in die Ver­le­gen­heit gekom­men wäre, mei­ne gelieb­ten Gleit­schu­he anzu­le­gen. Was hat das für einen Spaß gemacht, wenn man mit die­sen Din­gern auf noch unbe­rühr­ten wei­ßen Wegen unter­wegs war! Sogar dann, wenn es in die Schu­le ging.

Unse­re Küche war groß. Neben dem Koh­le­ofen gab es noch einen Elek­tro­herd, einen Tisch mit vier Stüh­len und eine gro­ße Couch. In der Ecke stand ein altes Radio, das stän­dig lief. Ein Kühl­schrank fehl­te damals noch. Zum Küh­len dien­te der Kel­ler. Es gab ein mit Flie­gen­draht abge­trenn­tes Schränk­chen. Das war’s.

Der Licht­schal­ter in der Küche bestand in einer Quas­te, den ich (spä­ter) gern als einen Hauch von Luxus bezeich­net habe. Das Ding ins­ge­samt kann man sich unge­fähr so vorstellen.

Mein Vater stand am Herd und war dabei die Milch abzu­ko­chen. Ich hat­te Lan­ge­wei­le. Gro­ße Lan­ge­wei­le. Ich wedel­te ein biss­chen mit der Quas­te (dem Licht­schal­ter) und ließ ihn kreuz und quer, hin und her pen­deln. Mein Vater bekam das mit und ermahn­te mich, jetzt bloß nicht das Licht aus­zu­schal­ten. „Die Milch kocht gleich!“

Gute Idee, dach­te ich. Ich war­te­te, bis die Milch auf­koch­te und mein Vater Anstal­ten mach­te, mit den zwei Topf­lap­pen den hei­ßen Milch­topf vor­sich­tig vom Herd zu neh­men. In die­sem Moment…

Klick. Licht aus. Es war (inzwi­schen) stock­fins­ter. Ein Schrei, Wut. Hooooorst.

Die Ope­ra­ti­on war also gelun­gen, und ich war des­halb schon eiligst unter­wegs nach drau­ßen. Ich durch­quer­te schnell den lan­gen mit einem „Tep­pich“ aus bedruck­ter Teer­pap­pe (Felt­ba­se war damals in) aus­ge­leg­ten Flur. Gleich vor unse­rem Haus stand eine Hecke (s. Foto). Sie umgab bei­na­he die gesam­te Front der Gärt­ne­rei und stell­te für mich als damals Fünf­jäh­ri­gen noch ein Hin­der­nis dar. Mein Vater und ich spiel­ten zwi­schen­durch gern mal Olym­pia­de. Eine der Dis­zi­pli­nen war das Über­sprin­gen die­ser Hecke. Wür­de mir das aus­ge­rech­net heu­te in die­ser Not­la­ge zum ers­ten Mal gelingen?

Es war drin­gend nötig, denn mein Vater war bereits kurz hin­ter mir. Ich nahm Anlauf und … Mist! Ich blieb hän­gen und fiel fast aufs Gesicht. Das war nicht wei­ter schlimm, aber der Sturz raub­te mir den Vor­teil. Mein Vater hat­te mich am Schlafittchen.

Ich erin­ne­re mich nicht dar­an, wie die anschlie­ßen­de Stand­pau­ke aus­fiel. Schla­gen war kein Erzie­hungs­mit­tel mei­ner Eltern. Ich weiß noch, dass es spä­ter vier‑, viel­leicht fünf­mal Situa­tio­nen gab, in denen mein Vater die Beherr­schung ver­lor und mir eine geklatscht hat. Das war später.

Im 1. Schul­jahr von einem Leh­rer eine Ohr­fei­ge bekom­men, weil ich nicht auf­ge­passt hat­te. Damals (Anfang der 60er Jah­re) war das noch ganz nor­mal. Nicht für mei­nen Vater. Er fuhr – mit dem Rad – zur Schu­le und hat dem Leh­rer die Mei­nung gesagt. So war das. Die­ser Leh­rer und ich sind kei­ne Freun­de gewor­den. Als er sich, ich war schon in der 4. Klas­se, den Arm brach, lern­te ich im Blitz­ver­fah­ren, wie sich Scha­den­freu­de anfühlt.

Die Geschich­te geht noch wei­ter: Nach­dem Papa mich also gestellt hat­te, folg­te die Ansa­ge: „Ab ins Bett!“

Wenig spä­ter kam mei­ne Mut­ter nach Hau­se und frag­te sofort: „Wo ist der Jong?“ „Im Bett!“ ant­wor­te­te Papa ein wenig zu harsch. „Wie im Bett, was ist denn pas­siert?“. Ich erin­ne­re mich dar­an, dass ich Spaß hat­te, dass die bei­den jetzt Knatsch hat­ten. Schlim­mes Kind!

Am nächs­ten Mor­gen war alles wie­der gut.

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Horst Schulte
Rentner, Blogger & Hobbyfotograf
Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe seit meiner Geburt (auch aus Überzeugung) auf dem Land.

Schlagworte: Bedburg Kindheit Sonnenhof

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13 Gedanken zu „Die Milch kocht über“

  1. Bernd 1 7. September 2016 um 14:37

    Tol­le Geschich­te Horst. Da warst du schon damals ein klei­ner Schelm.

  2. Nicol 2 7. September 2016 um 15:03

    Sehr schön geschrieben!

  3. Marius Holtkott 1 4. Januar 2017 um 18:08

    Dan­ke für die inter­es­san­te Geschich­te. Ich habe den berühm­ten Son­nen­hof, auf dem mein Vater leb­te, nicht mehr erlebt. Nach­dem der Son­nen­hof der Braun­koh­le zum Opfer fiel, leb­te ich spä­ter auf dem Lin­den­hof in Oppen­dorf. Für mich inter­es­san­te, nie gese­he­ne Fotos.

    Grüs­se aus der Schweiz

  4. Dieter Kopischke 1 11. Oktober 2018 um 12:21

    Hal­lo Herr Holt­kott, bei der Gele­gen­heit kann ich Sie gleich mal etwas fra­gen. Den Fred­dy ken­nen Sie doch bestimmt auch. Der war mal ein Schul­jahr über mir (4.Schuljahr). Das 3.und das 4.Schuljahr haben sich damals in der evan­ge­li­schen Volks­schu­le einen Klas­sen­raum geteilt. Fred­dy hat­te damals vie­le Flau­sen im Kopf. Was ist aus ihm geworden?

  5. Franz-Josef Förster 3 18. Februar 2019 um 06:50

    Na ich bin sehr ange­tan von die­ser Sto­ry und den Fotos eines Hau­ses, an dass ich mich sogar noch gut erin­nern kann. Hier und am nahe gele­ge­nen sog. OT-Gelän­de such­ten wir als Jungs das „gro­ße wei­te Aben­teu­er“. Es war für uns schon erwas Beson­de­res, wenn wir mit dem Räd­chen von Gedden­berg bis hier hin (!) gera­delt waren, „fern der Heimat“!
    Tol­le Auf­nah­men und ein tol­ler Bericht, lie­ber Hei­mat­for­scher Horst. Ich füh­le mich um gut 50 Jah­re zurück ver­setzt. Übri­gens wur­de einer der Bewoh­ner des Son­nen­ho­fes, Fre­di Holt­kott einer unse­rer Cli­que auf dem Gym­na­si­um. Lan­ge ist es alles her und doch so fest in guter Erinnerung.

  6. Franz-Josef Förster 3 18. Februar 2019 um 12:24

    Ja natür­lich lie­ber Horst. Ich erin­be­re mich an die lan gezo­ge­ne Ram­pe, die im Bogen nach unten führ­te. Mein Vater ver­mu­te­te immer, dass dort Züge nach unten fah­ren soll­ten, oder fuh­ren um dan irgend­wo unter­ir­disch zu ver­schwin­den. Ich weiß nicht ob es wahr war oder nur eine aben­teu­er­lische Ver­mu­tung über den Bau der Orga­ni­sa­ti­on Todt. 

    Ich erin­ne­re mich auch noch an zwei silo­ar­ti­ge Rund­tür­me im unte­ren Teil der Schlucht. Man Horst, ist das lan­ge her. Mir wird ganz warm ums Herz, wenn ich alle Erin­ne­run­gen wie­der durch­le­be. Du hast einen gro­ßen Anteil „Schuld“ daran. 

    Übri­gens soll­ten wir im Rah­men von Berg­scha­dens­re­no­vie­rung für eine Zeit in das Haus des ehe­ma­li­gen Tier­artzt Dr. Mei­er an der Berg­hei­mer Stras­se zie­hen. Kurz bevor Rhein­braun das Haus für uns bezugs­fer­tig hat­te, lehn­te mein Vater es ab dort­hin zu zie­hen. Er tat das mit den Wor­ten: „Nee Ken­ger, dat los­se mer blie­ve, do kum­me mer nie mie erus.“ Er zrsute der Rhei­ni­schen nicht, obwohl er dort arbei­te­te. Mei­ne Schwes­ter und ich wären ger­ne dort­hin gezogen.

  7. Franz-Josef Förster 3 18. Februar 2019 um 20:50

    Da ging mei­ne Frau immer rodeln, als sie noch sehr jung war.

    Da oben sind mir noch Fren­gers mit den Scha­fen ein Gedan­ke wert und es gab noch den Rosenhof.

    Es kom­men so vie­le alte Erin­ne­run­gen, je mehr man dar­über nach­denkt. Und ein Auto haben wir auch lan­ge nicht gehabt. Als ich zum Imp­fen ins Kreis­haus nach BM muss­te, saß ich dabei auf dem Fahr­rad-Gepäck­trä­ger mei­ner Mutter.Über die Berg­hei­mer Stras­se ging es in etwa wo heu­te die Gru­ben­rand­stras­se ver­läuft nach Berg­heim. Auf der Rück­fahrt kamen wir ins Gewit­ter. Das ver­ges­se ich mein Leb­tag nicht. Mama stram­pel­te, was das Zeug hielt um die etwa 8 km mit Mus­kel­kraft und „Gepäck“ zu bewältigen.

  8. Total net­ter Arti­kel Horst, vie­len Dank.

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