Ich glaube, lieber Gideon Böss, es gibt noch eine dritte Kategorie. Was ist mit denen, die aus provozierend durchsichtigen Motiven heraus, auf der Hand liegende Unterschiede unterschlagen oder klein zu reden versuchen?
Es ist so leicht zu sagen, dass wir uns entscheiden müssen, auf welcher Seite wir stehen. Ein Mörder ist ein Mörder. Das ist ja einfach. Die Zweifel kommen bei näherer Betrachtung des individuellen Falles. Jedenfalls, sofern wir detaillierte Fakten überhaupt erfahren.
Menschen plappern (hoffentlich) nicht nur das nach, was sie aus den Medien haben, wenn sie nach Motiven suchen, weshalb Menschen andere Menschen töten. Vielleicht führt die räumliche und emotionale Distanz dazu, dass später oft keine klare Haltung gegenüber den Mördern zu erkennen ist?
Machen Sie es sich nicht zu einfach, wenn Sie sagen, dass Liberalismus ohne Werte in Beliebigkeit münden müsse? So ein Satz klingt toll. Liegt nicht in diesem Dilemma einer der Gründe dafür, dass so viele Konservative glauben, ihre politische Heimat verloren zu haben?
Das Kämpfen, nicht das körperliche, haben wir uns in den vergangenen Jahrzehnten zum Glück abgewöhnt. Es hat sich erübrigt. Die existenziellen Kämpfe der Gegenwart finden auf anderen Gebieten statt. Wir sind nicht mehr gezwungen, zwischen lebensnotwendigen Optionen auszusuchen. Ob das vielleicht den Blick für klare Positionen vernebelt? Was wir aber nicht in der langen Friedensphase verloren haben, ist der Hang zum Moralisieren.
Im Internetzeitalter scheinen sich Empörungs- und Moralisierungswellen in Echtzeit gegenseitig abzuwechseln. Wer von außen zuguckt fragt sich: sind wir das wirklich? Bei den Reaktionen zu Trumps Äußerungen nach Charlottesville haben wir das einmal mehr miterlebt.
Welche Medizin wurde uns aus dem Tropf der Wahrheitsfindung verabreicht? Wir hoffen auf Unterstützung für schwere Entscheidungen und die Medizin versagt.
Für Sie scheint es einfach zu sein. Sie bewerten die Mordanschläge in Israel und kommen ohne Relativierungen aus. Das ist gut für die Seele.
Bei Ihrem Blick auf die Szene spielen Hintergründe und Motive keine Rolle. Warum geschehen diese Taten in Serie? Warum hört das nie auf? Ich habe mir vor kurzem die umstrittene ARD-Dokumentation über Antisemitismus angesehen – in der Originalfassung. Danach wusste ich mehr bzw. ich dachte nur einen Moment lang, mehr zu wissen. Viele Informationen kannte ich aus verschiedenen anderen Quellen. Am Ende war ich nur noch mehr verwirrt.
Viele sind trotz all der Jahre, in denen uns Bilder aus Israel und dem Nahen Osten von Gewalt und Tot begleitet haben, nicht soweit, uns ein Urteil zu bilden.
Ist diese Unentschlossenheit der Preis, den man zahlt, wenn man sich selbst für einen liberalen Menschen hält? Ist diese Unentschiedenheit Beliebigkeit. So, wie Sie es geschrieben haben?
Ich weiß so oft nicht, ob ich die eine oder die andere Seite für eine bestimmte Sache verantwortlich machen soll. Und trotzdem soll ich urteilen, weil ich mich sonst dem Vorwurf der Beliebigkeit aussetze?
Natürlich sind bei vielen von uns oft genug Emotionen im Spiel. Deshalb empfinde ich es als schwierig, wenn Leute mit – sagen wir – differenzierter Haltung zu den komplizierten Sachverhalten, schnell Gefahr laufen, in eine Ecke gestellt zu werden.
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Eigentlich stimme ich Ihnen zu!
Ich will eine Frage stellen über die jeder für sich nachdenken kann: Hätten wir eine andere Diskussion gehabt, wenn der Mörder der jungen Frau in Charlottesville einer von der anderen Seite, also kein Nazi gewesen wäre? Hätten wir für diese Tat vielleicht sogar Verständnis geäußert? Mord ist Mord?!
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Ich habe ein konkretes Beispiel, das mich beschäftigt. Wir neigen in Deutschland gern mal zu schnellen und unfairen Bewertungen.
Ich denke dabei an die Klagen der türkischen Regierung und einheimischer Türken, die Deutschland der „Unterstützung von Terroristen“ bezichtigen. Die reflexhafte Erwiderung, dass die Zustände in der Türkei es geradezu verbieten, anderen Ländern solche Vorwürfe zu machen, räumt diesen Vorwurf nicht aus.
Am Rande der G20 – Proteste in Hamburg feierten PKK – Anhänger ganz offen ihr Fest. Darüber haben wir in deutschen Medien bis heute nie etwas gehört!
Wenn wir so fair wären und solchen Vorwürfen nachgegangen würde, kämen vielleicht noch andere Dinge zum Vorschein, die unsere nicht selten überheblichen Vorhaltungen in Richtung der türkischen Regierung in einem fragwürdigen Licht erscheinen lassen würden.
Die Zeit ist nicht danach. Es entladen sich die im Schatten der Flüchtlings- und Islamdebatte aufgestauten gegenseitigen Vorurteile und Ressentiments. Weiß der Himmel, wohin uns das alles führen wird.
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