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Die Grenzwerte der anderen

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Wie schwie­rig es ist, sich ein eige­nes, hof­fent­lich objek­ti­ves Bild zu machen, zeigt nichts bes­ser als die gegen­wär­ti­ge Diskussion über die Grenzwerte.

Anwesend, ges­tern Abend bei „Anne Will”, waren zwei hoch­ka­rä­ti­ge Wissenschaftler, die sich wäh­rend der Sendung krass ins Gehege kamen. Die gegen­sei­ti­gen Vorhaltungen wirk­ten auf mich eini­ger­ma­ßen pein­lich, zumal ich bei bei­den die not­wen­di­ge Expertise ver­mu­te­te. Dummerweise wuss­te ich am Ende nicht, ob ich nun der „Mehrheitsmeinung” oder der „Minderheitenmeinung” glau­ben sollte.

Minister Scheuer und ein­schlä­gi­ge Lobbyverbände könn­ten sich kurz­zei­tig und aus Gründen hin­ter der Gelegenheit ver­ste­cken, die ihnen das Papier von Herrn Professor Köhler ver­schafft hatte.

Wir dür­fen, wenn wir der Komplexität der Diskussion nicht fol­gen wol­len oder kön­nen alter­na­tiv zum Aussitzen des Problems ein­mal aus­zäh­len, wel­che Interessengruppe die grö­ße­re ist. Das ken­nen wir aus der Klimaschutzdiskussion. Wie oft habe ich gele­sen, dass 98% aller Klimawissenschaftler auf der Welt die Schädlichkeit von Co2 für unser Klima bestä­ti­gen? Dann muss das ja wahr sein…, nicht wahr? Und men­schen­ge­macht ist die Klimavergiftung ja dann auch.

Wie lau­tet doch gleich die Frage, die mir heu­te bei Facebook zu zwei von mir geteil­ten Links zum Thema Kohleausstieg gestellt wurde?

Mein Nachbar ver­brennt sei­nen Müll im Garten. Dann macht es natür­lich gar kei­nen Sinn, dass ich mei­nen tren­ne und ent­sor­ge. Stimmt schon. 

Ich hat­te die Frage nach der Relevanz unse­res Kohlausstieges im Sinne der Co2 – Einsparungen auf dem Globus gestellt. So ist manch­mal das Niveau unse­rer Diskussionen.

Anne Will und zwei Professoren

Professor Heinz-​Erich Wichmann, Epidemiologe und ehem. Direktor des Instituts für Epidemiologie am Helmholtz Zentrum München, erläu­ter­te bei „Anne Will” aus­führ­lich das Zustandekommen der Richtwerte, die von der WHO glo­bal in Auftrag gege­ben wur­de (s. Video ab Minute 11:15). Danach wur­den Lungenärzte und Wissenschaftler, die ein­schlä­gig in die­sem Bereich arbei­ten, Expositionsforscher und Epidemiologen + Statistik) mit den Recherchen für die­ses Ziel beauf­tragt. Es han­del­te sich um 55 Wissenschaftler (drei davon aus Deutschland). Literaturgestützte Recherchen wur­den hier­zu über meh­re­re Jahre durch­ge­führt. Es wur­den ca. 600 Studien her­an­ge­zo­gen und ana­ly­siert. Zehn die­ser Studien kamen aus Deutschland. Professor Köhler – so Professor Wichmann, war nir­gends an die­sen Arbeiten beteiligt.

Für Feinstaub ist der WHO – Wert mehr als dop­pelt so streng, als er von der EU über­nom­men wur­de. Der Grenzwert, so Professor Wichmann, ist ein poli­ti­scher Wert. Beim NO2 wur­de er über­nom­men, beim Feinstaub wur­de er aus poli­ti­schen Gründen höher festgelegt.

Professor Köhler sprach von Vorgaben der Politik, an denen von der Expertengruppen nie Anstoß genom­men wor­den sei. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem jetzt die Fahrverbote droh­ten. Laut Professor Köhler ist nicht bewie­sen, dass NO2 über­haupt toxisch sei.

Meine Frage, die sich die ZuschauerInnen viel­leicht auch gestellt haben, lau­te­te: In wes­sen Interesse han­deln die Kontrahenten? Ist es tat­säch­lich so leicht, Herrn Professor Köhler, eine Nähe zur ent­spre­chen­den Interessengruppen zu unter­stel­len und wie ver­hält es sich bei den Personen, die die Richtwerte für die WHO ermit­telt haben? 

So viele Leute – Viele Köcher verderben den Brei

Welche Gewissenheiten haben wir, dass die Gruppe der 55 mit der Richtwertermittlung befas­sen Experten nicht eine Art von Betriebsblindheit ent­wi­ckelt hat­ten? Später nach den auf­ge­flamm­ten Diskussionen über die Grenzwerte wür­den die­se Wissenschaftler sich gewiss nicht leicht damit tun, ihre eige­nen Methoden und Ergebnisse selbst in Zweifel zu zie­hen. Schließlich waren die­se Werte und ihr Zustandekommen vor­her nie umstrit­ten. Das Klima der öffent­li­chen Erregung über das Dilemma bevor­ste­hen­der Fahrverbote ver­hin­dert viel­leicht die für uns alle wün­schens­wer­te Transparenz.

Andererseits: 70.000 Mitglieder (über­wie­gend Lungenärtze) ste­hen voll hin­ter den Richtwerten der WHO und wür­den sie sogar noch stren­ger fas­sen, als sie heu­te sind. 4000 Lungenfachärzte aus Deutschland wer­den von einem Verband ver­tre­ten. Dieser Verband ver­tritt eine ande­re Position als Professor Köhler. Lediglich ca. 100 Kollegen [sic?] aus die­sem Verband stel­len sich auf die Seite von Professor Köhler.

Die Frage ist, wie­so sche­ren Wissenschaftler, auch wenn es ver­gleichs­wei­se weni­ge sind, auf ein­mal aus der (übli­chen) Phalanx aus? Das ist doch unge­wöhn­lich, oder?


Die wis­sen­schafts­me­tho­do­lo­gi­schen Einwände der jetzt oft zitier­ten „106 kri­ti­schen Pneumologen“ (die sich aus einer Befragung von über 4000 Mitgliedern der DGP zusam­men­set­zen) reprä­sen­tie­ren kei­nes­wegs die Meinung „der deut­schen Lungenärzte“. Das zeigt eine Blitzumfrage die wir ges­tern im Berufsverband der Pneumologen durch­ge­führt haben. Innerhalb weni­ger Stunden wur­den Fragen zur Luftverschmutzung und Folgen für die Gesundheit etc. von mehr als 400 der über 1200 Mitglieder des Berufsverbands beant­wor­tet. BdP – Bundesverband der Pneumologen in Deutschland 

Richtig über­zeugt war ich am Ende der Diskussion von kei­ner der bei­den Positionen. Mich beschäf­tigt die Frage, wem die eine oder ande­re Haltung in die­ser Frage wohl nut­zen könnte. 

Wie soll sich ein/​e unbe­darf­ter ZuschauerIn bei so kom­ple­xen Sachverhalten eine Meinung bilden?

Der Journalist und PR – Stratege Jens Rehländer hat heu­te einen sehr lesen­wer­ten Artikel geschrie­ben. Obwohl er die Sendung „Anne Will” nicht erwähnt, spricht er genau das Debakel an, dem nicht nur die Zuschauer die­ser ARD-​Talkshow ein­mal mehr aus­ge­lie­fert waren.

Er for­mu­liert eini­ge wich­ti­ge Gedanken, die auch für ande­re gesell­schaft­li­che Diskussionen eine gro­ße Bedeutung haben: 


Warum neh­men es wis­sen­schaft­li­che Institutionen wider­spruchs­los hin, dass ihre Kompetenz und Glaubwürdigkeit von popu­lis­ti­schen Politikern, Lobbyverbänden, ober­fläch­lich infor­mier­ten Medien und pro­fi­lie­rungs­süch­ti­gen Multiplikatoren im Handstreich demon­tiert werden? […] 

Wenn sich die Wissenschaft vor­nehm zurück­hält, über­lässt sie Akteuren das Feld, die wis­sen­schaft­li­che Befunde aus­he­beln wol­len, um eige­ne, zumeist poli­ti­sche oder öko­no­mi­sche Interessen durch­zu­set­zen. Und sie lässt einer Entwicklung frei­en Lauf, die Partikularinteressen bedient, aber nicht dem Allgemeinwohl dient. So hat Verkehrsminister Scheuer mit Bezug auf Köhlers Papier bereits ange­kün­digt, die Grenzwerte nun auf EU-​Ebene in Frage zu stel­len (um am lan­gen Ende Dieselfahrverbote zu ver­hin­dern). Die Mittelstandvereinigung der Union for­dert ein Moratorium für Grenzwerte und Dieselfahrverbote. Die Autoindustrie wird dem streit­ba­ren Pensionär aus der Lungenmedizin Lorbeerkränze flech­ten. Und die Öffentlichkeit weiß schon lan­ge nicht mehr, wem sie über­haupt noch was glau­ben soll.
Für das Ansehen der Wissenschaft ist das eine toxi­sche Lage. 


Streit um Grenzwerte: Warum die Wissenschaft schweigt und der Siggener Kreis Recht hat | JENS REHLÄNDER

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