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Die Grenzwerte der anderen

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Wie schwierig es ist, sich ein eigenes, hoffentlich objektives Bild zu machen, zeigt nichts besser als die gegenwärtige Diskussion über die Grenzwerte.

Anwesend, gestern Abend bei „Anne Will“, waren zwei hochkarätige Wissenschaftler, die sich während der Sendung krass ins Gehege kamen. Die gegenseitigen Vorhaltungen wirkten auf mich einigermaßen peinlich, zumal ich bei beiden die notwendige Expertise vermutete. Dummerweise wusste ich am Ende nicht, ob ich nun der „Mehrheitsmeinung“ oder der „Minderheitenmeinung“ glauben sollte.

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Ich hatte die Frage nach der Relevanz unseres Kohlausstieges im Sinne der Co2 – Einsparungen auf dem Globus gestellt. So ist manchmal das Niveau unserer Diskussionen.

Anne Will und zwei Professoren

Professor Heinz-Erich Wichmann, Epidemiologe und ehem. Direktor des Instituts für Epidemiologie am Helmholtz Zentrum München, erläuterte bei „Anne Will“ ausführlich das Zustandekommen der Richtwerte, die von der WHO global in Auftrag gegeben wurde (s. Video ab Minute 11:15). Danach wurden Lungenärzte und Wissenschaftler, die einschlägig in diesem Bereich arbeiten, Expositionsforscher und Epidemiologen + Statistik) mit den Recherchen für dieses Ziel beauftragt. Es handelte sich um 55 Wissenschaftler (drei davon aus Deutschland). Literaturgestützte Recherchen wurden hierzu über mehrere Jahre durchgeführt. Es wurden ca. 600 Studien herangezogen und analysiert. Zehn dieser Studien kamen aus Deutschland. Professor Köhler – so Professor Wichmann, war nirgends an diesen Arbeiten beteiligt.

Für Feinstaub ist der WHO – Wert mehr als doppelt so streng, als er von der EU übernommen wurde. Der Grenzwert, so Professor Wichmann, ist ein politischer Wert. Beim NO2 wurde er übernommen, beim Feinstaub wurde er aus politischen Gründen höher festgelegt.

Professor Köhler sprach von Vorgaben der Politik, an denen von der Expertengruppen nie Anstoß genommen worden sei. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem jetzt die Fahrverbote drohten. Laut Professor Köhler ist nicht bewiesen, dass NO2 überhaupt toxisch sei.

Meine Frage, die sich die ZuschauerInnen vielleicht auch gestellt haben, lautete: In wessen Interesse handeln die Kontrahenten? Ist es tatsächlich so leicht, Herrn Professor Köhler, eine Nähe zur entsprechenden Interessengruppen zu unterstellen und wie verhält es sich bei den Personen, die die Richtwerte für die WHO ermittelt haben?

So viele Leute – Viele Köcher verderben den Brei

Welche Gewissenheiten haben wir, dass die Gruppe der 55 mit der Richtwertermittlung befassen Experten nicht eine Art von Betriebsblindheit entwickelt hatten? Später nach den aufgeflammten Diskussionen über die Grenzwerte würden diese Wissenschaftler sich gewiss nicht leicht damit tun, ihre eigenen Methoden und Ergebnisse selbst in Zweifel zu ziehen. Schließlich waren diese Werte und ihr Zustandekommen vorher nie umstritten. Das Klima der öffentlichen Erregung über das Dilemma bevorstehender Fahrverbote verhindert vielleicht die für uns alle wünschenswerte Transparenz.

Andererseits: 70.000 Mitglieder (überwiegend Lungenärtze) stehen voll hinter den Richtwerten der WHO und würden sie sogar noch strenger fassen, als sie heute sind. 4000 Lungenfachärzte aus Deutschland werden von einem Verband vertreten. Dieser Verband vertritt eine andere Position als Professor Köhler. Lediglich ca. 100 Kollegen [sic?] aus diesem Verband stellen sich auf die Seite von Professor Köhler.

Die Frage ist, wieso scheren Wissenschaftler, auch wenn es vergleichsweise wenige sind, auf einmal aus der (üblichen) Phalanx aus? Das ist doch ungewöhnlich, oder?


Die wissenschaftsmethodologischen Einwände der jetzt oft zitierten „106 kritischen Pneumologen“ (die sich aus einer Befragung von über 4000 Mitgliedern der DGP zusammensetzen) repräsentieren keineswegs die Meinung „der deutschen Lungenärzte“. Das zeigt eine Blitzumfrage die wir gestern im Berufsverband der Pneumologen durchgeführt haben. Innerhalb weniger Stunden wurden Fragen zur Luftverschmutzung und Folgen für die Gesundheit etc. von mehr als 400 der über 1200 Mitglieder des Berufsverbands beantwortet. BdP – Bundesverband der Pneumologen in Deutschland

Richtig überzeugt war ich am Ende der Diskussion von keiner der beiden Positionen. Mich beschäftigt die Frage, wem die eine oder andere Haltung in dieser Frage wohl nutzen könnte.

Wie soll sich ein/e unbedarfter ZuschauerIn bei so komplexen Sachverhalten eine Meinung bilden?

Der Journalist und PR – Stratege Jens Rehländer hat heute einen sehr lesenwerten Artikel geschrieben. Obwohl er die Sendung „Anne Will“ nicht erwähnt, spricht er genau das Debakel an, dem nicht nur die Zuschauer dieser ARD-Talkshow einmal mehr ausgeliefert waren.

Er formuliert einige wichtige Gedanken, die auch für andere gesellschaftliche Diskussionen eine große Bedeutung haben:


Warum nehmen es wissenschaftliche Institutionen widerspruchslos hin, dass ihre Kompetenz und Glaubwürdigkeit von populistischen Politikern, Lobbyverbänden, oberflächlich informierten Medien und profilierungssüchtigen Multiplikatoren im Handstreich demontiert werden? […]

Wenn sich die Wissenschaft vornehm zurückhält, überlässt sie Akteuren das Feld, die wissenschaftliche Befunde aushebeln wollen, um eigene, zumeist politische oder ökonomische Interessen durchzusetzen. Und sie lässt einer Entwicklung freien Lauf, die Partikularinteressen bedient, aber nicht dem Allgemeinwohl dient. So hat Verkehrsminister Scheuer mit Bezug auf Köhlers Papier bereits angekündigt, die Grenzwerte nun auf EU-Ebene in Frage zu stellen (um am langen Ende Dieselfahrverbote zu verhindern). Die Mittelstandvereinigung der Union fordert ein Moratorium für Grenzwerte und Dieselfahrverbote. Die Autoindustrie wird dem streitbaren Pensionär aus der Lungenmedizin Lorbeerkränze flechten. Und die Öffentlichkeit weiß schon lange nicht mehr, wem sie überhaupt noch was glauben soll.
Für das Ansehen der Wissenschaft ist das eine toxische Lage. 


Streit um Grenzwerte: Warum die Wissenschaft schweigt und der Siggener Kreis Recht hat | JENS REHLÄNDER
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Horst Schulte
Herausgeber, Blogger, Autor und Hobby-Fotograf
Seit 2004 blogge ich über Politik und Gesellschaft – also seit die meisten noch SMS statt Tweets geschrieben haben. Mit 70 Jahren lebe ich immer noch im schönen Bedburg, direkt vor den Toren Kölns, und schreibe über alles, was die Welt bewegt (oder mich zumindest vom Sofa aufstehen lässt).

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Artikelinformationen:

Gesellschaft

Diskussionen, Streit

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