Wie schön, dass wir Angela Merkel hatten. So scheint es zumindest, wenn wir einen Blick auf die gegenwärtige politische Diskussion werfen: Die Altkanzlerin wird immer wieder als Schuldige für die Probleme des Landes benannt. Dass sie eine Frau ist, vereinfacht das Verfahren. Für viele Menschen scheint es immer noch ein Argument, dass auch Kamala Harris als eine denkbar ungeeignete Person für die US-Präsidentschaft betrachtet wird. Die Trennung zwischen liberal-progressiven und reaktionären, nationalistischen Kräften fällt an solchen Beispielen leicht.
Wie verbreitet Frauenfeindlichkeit in unseren „hoch entwickelten“ Ländern ist, zeigt sich hier deutlich.
Merkel als Sündenbock – Ein kollektives Entlastungsritual?
Können all die Probleme auf Merkels schmalen Schultern abgeladen werden? Der „Economist“ beispielsweise hat Deutschland schon vor 25 Jahren abgeschrieben und, so wie es viele Briten vermutlich gern haben, gleichzeitig die Deutschen so richtig zur Sau gemacht. Das wird u.U. nicht nur für die gelten, die sich besonders für den Brexit und damit gegen die deutsche Mehrheitsmeinung gestellt haben.
Dass Medien wie die aus dem Springer-Universum geradezu triumphierend darauf verweisen, dass GB inzwischen ein höheres Wirtschaftswachstum als Deutschland vorzuweisen hat, passt ins Bild.
Die Ampel soll in drei Jahren alles vermasselt haben. Allerdings vergisst die „Welt“ es unter keinen Umständen, jede Gemeinheit, die zu Merkels Lasten gehen könnte, genüsslich auszubreiten. So findet auch der Beitrag im „Economist“ die aus deren Sicht gebührende Würdigung.
Ich finde es interessant und gleichzeitig beschämend, wie krass die deutschen Medien ihre eigene Rolle in diesem Theater verdrängen. Haben wir die 16 Jahre etwa nicht genossen? Wir, die Deutschen! Zugegeben, seit 2015 hat sich die Spreu vom Weizen getrennt. Wobei mir persönlich bis heute bis jetzt nicht klar ist, welche der beiden Seiten Weizen und welche Spreu ist. Ich fühlte mich als Weizen, jedenfalls nie als Spreu. Heute ist das in dieser Beziehung umgekehrt.
Energie aus Russland: Wirtschaft über Moral?
Über die Importe von billiger Energie aus Russland haben die Deutschen, soweit ich mich erinnere, nie gemault. Ich nehme stark an, dass insbesondere die auf hohe Profite getrimmte deutsche Wirtschaft (Agenda 2000) solche Importe (ausdrücklich einschließlich Nord Stream 2) wollten und jedenfalls nie bei diversen Regierungen wegen moralischer Bedenken vorstellig wurden.
Als der Ausstieg aus der Kernenergie nach dem Unglück von Fukushima beschlossen wurde, war in Deutschland eine überwältigende Mehrheit für diese Maßnahme. Merkel hat ihre Antennen genutzt und in diesem Fall den Willen des Volkes antizipiert bzw. sogleich umgesetzt.
Polarisierung und der Angriff auf demokratische Institutionen
Witzig, wie die Bürger dieses leider ebenfalls bereits stark polarisierenden Landes ihre eigene Mitverantwortung (Wahlen) negieren und wie diese Leute die jahrzehntelang gut funktionierende Demokratie schlechtreden und ihre Institutionen herabwürdigen. Ja, das erinnert tatsächlich an Weimarer Verhältnisse (Quasselbude = Bundestag). Viele behaupten, wenn man ihnen so kommt, steif und fest, wir hätten nie in einer Demokratie gelebt. Geschenkt! Die, die das sagen, sind für mich Idioten.
Viele Menschen wissen und beklagen seit Langem, wie negativ sich die durch alle Bevölkerungsgruppen festzustellende starke Nutzung der asozialen Netzwerke auf unsere Debattenkultur ausgewirkt hat.
Der Einfluss sozialer Netzwerke auf den gesellschaftlichen Diskurs
Inzwischen suchen viele aber nicht mehr nach Auswegen aus dieser Sackgasse, sondern bestehen darauf, dass jeder Äußerung erlaubt sein soll. Freilich gestehen sie das nur der eigenen Blase zu, den anderen möchte man genau dieses lieber verwehren. Oder man klagt sofort und erleidet oft vor Gerichten entweder Niederlagen oder Bestätigungen.
Jede Beanstandung sei Zensur und damit ein unzulässiger Eingriff in die Meinungsfreiheit.
Datenschutz und Scheinregulierung als Placebo in einer polarisierten Gesellschaft?
Das haben wir nun davon, dass wir uns den Problemen jahrelang nicht gestellt haben. Wir haben über die Entwicklung laut und meinungsstark geschimpft. Die Bändigung dieser Abarten des Internets ist inzwischen nicht mehr vorstellbar. Wir sehen stattdessen, welche Reaktionen Vorstöße von Ampel-Politikern (Habeck, von Notz oder Müller) auslösen.
Das verabreichte Placebo (Datenschutz, DSGVO und der ganze Mist!), hat auf diese Entwicklung, die für unsere demokratischen Gesellschaften immer gefährlicher werden, keine Auswirkung.
Was könnte, was sollte geschehen?
Deutschland hat sich in den letzten Jahren stark verändert, und die Diskussionskultur steht intern und extern in der Kritik. Das kollektive Ausweichen und die Schuldzuweisung an Einzelpersonen wie Merkel verschleiern die eigene Verantwortung. Nur ein reflektierter Umgang mit unserer Rolle und die Bereitschaft zur Veränderung können die gesellschaftliche Spaltung überwinden – eine Herausforderung, der sich jeder stellen muss.
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