Es ist verständlich, wenn sich insbesondere junge Menschen gegen die Wehrpflicht in Deutschland aussprechen. Ihre Gründe sind überzeugend und deshalb gut nachzuvollziehen. Keiner kann sich vorstellen, von der Regierung als Kanonenfutter »verheizt« zu werden.
Claudia fragte in ihrem Blog: »Wieder Wehrpflicht: Brauchen wir die wirklich?«. Sie spricht vor allem das an, was wir beide — schon aus zeitlichen Gründen — in dieser Beziehung gemeinsam haben. Meine Erinnerungen an die Zeit, in der ich Wehrdienst leisten sollte, sind eher negativ. Ich teile Claudias Sicht. Sie spricht von einer »leidigen Pflicht«, der man nur zu gern entkommen wollte.

Ersatzdienste
In meinem Fall war es die freiwillige Feuerwehr, in die ich allerdings schon 1968 eingetreten bin, also längst bevor ich überhaupt wehrpflichtig wurde. Ich habe nur das Vorprogramm durchlaufen. Musterung, Eignungstest und Einberufung. Ich hatte sogar schon die Bundesbahn-Fahrkarte zu irgendeiner Kaserne, ich meine, im Norden Nordrhein-Westfalens. Zum Äußersten ist es aber nicht gekommen, obwohl meine Freistellungsanträge mehrmals abgelehnt wurden. Erst der Intervention des damaligen Kreisbrandmeisters war es zu verdanken, dass ich doch noch freigestellt wurde.
Nicht gedient?
Offen gestanden, war ich in dieser Frage nicht besonders engagiert. Ich hätte meinen Wehrdienst abgeleistet. Damals »rettete« mich eine Funktion, die ich auf Ebene unseres Landkreises für die hiesigen Jugendfeuerwehren innehatte. Aus meinem Freundeskreis waren einige beim Bund, aber einige wurden allerdings aus unterschiedlichen Gründen bei der Musterung als untauglich eingestuft. Das Glück hatte ich damals nicht: Ich war voll tauglich für alle Waffengattungen. Ich glaube, so hieß das, was mir damals als Ergebnis der Checks mitgeteilt wurde. Es ist schon eine Weile her.
Ich höre in den Medien, dass viele ukrainische Männer nicht dazu bereit waren, ihr Leben für ihr Land zu riskieren. Ob dieser Teil der Aussage: »für ihr Land« in diesem Kontext je zutreffend war, kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls verstehe ich jeden, der sich und seine Liebsten in Sicherheit bringt vor einem Krieg, der — nicht nur dort — Abertausende von Menschenleben kostete und künftig noch kosten wird.
Die Illusion: Nie wieder Krieg
Ich habe Jahrzehnte daran geglaubt, dass in Europa keine Kriege mehr geführt würden. Die sogenannten Jugoslawienkriege, so habe ich mir damals eingeredet, waren eine Ausnahme, die Titos Gewaltherrschaft zu »verdanken« war. Er hielt gewaltsam die zahlreichen Ethnien des Landes (Serben, Kroaten, Bosniaken, Albaner, Slowenen usw.) ruhig. Als er weg war, brachen alte unterdrückte Spannungen, auch religiös motiviert, mit aller Brutalität auf.
Das Beispiel ist insofern interessant, als es innerhalb einer heterogenen Bevölkerung zu schrecklichen Verheerungen kommen kann, ohne dass staatliche Akteure (Putin, Assad) unmittelbare Befehle dazu gegeben haben müssen. Der Hass innerhalb der Bevölkerungsgruppen, die doch jahrzehntelang als Nachbarn friedlich zusammenlebten, hat Furchtbares angerichtet.
Ich finde, diejenigen, die die Haltung einnehmen, sich nicht auf Anordnung der Regierung eines Staates in den Krieg schicken lassen wollen und dies geradezu als absurd zurückweisen, sollten solche Vorgänge wie die im damaligen Jugoslawien bedenken. Wir erleben in Syrien schlimme Gewalt, die die regierenden Islamisten Assads Religionsgruppe, den Alawiten, antun. Wie verhält man sich als geneigter Pazifist, wenn solche in unseren Breitengraden sicher kaum vorstellbaren Situationen eintreten würden? Dann geht es nicht um irgendeine Regierung, die von weit weg abstrakte Befehle erteilt. Es geht dann nicht um eine Verantwortung für das, was man Staat nennt, mit dem sie im Zweifel wenig anfangen können. In solchen Fällen versucht man wahrscheinlich, die Liebsten zu schützen, deren Leben in größter Gefahr ist.
Stellt euch vor, es wäre Krieg und niemand geht hin.
Diesen alten Spruch (US-Dichter Carl Sandburg, 1936) würde ich als Credo ganzer Generationen (1968er) bezeichnen. Wahrscheinlich hat das damit zu tun, dass die Bedrohung eines Krieges real nicht existierte. Ich sage das, obwohl die Zeit des »Kalten Krieges« in meinem Leben eine bestimmende Konstante gewesen ist und die Welt während all dieser Jahrzehnte mehrfach am Rande eines weiteren großen Krieges gestanden hat.
Als der Erste Weltkrieg ausbrach, waren ganz viele von denen, die man in alten Beiträgen (Filmen und Dokumenten) sehen konnte, voller Begeisterung. Sie zogen euphorisch in diesen Krieg und kamen traumatisiert, oftmals mit körperlichen Einschränkungen, wieder nach Hause. Wir wissen, dass diese Begeisterung im Zweiten Weltkrieg, trotz der Nazi-Propaganda, schon deutlich gesunken war.
Heute, so viele Jahrzehnte danach, lässt sich (nicht nur in Umfragen) kaum noch ein junger Mensch für einen Krieg oder gar einen Kampf für »Führer und Vaterland« gewinnen. Wer würde das nicht verstehen?
Persönliche Geschichte
Als ich noch im wehrfähigen Alter war, habe ich über solche Situationen gelegentlich nachgedacht. Allein für mich war es nicht vorstellbar, dass ich einem Einberufungsbescheid folgen würde. Ich habe mit meiner Frau abgemacht, dass wir uns im Fall der Fälle ins Ausland absetzen würden. Die Schweiz wäre da mein Traum gewesen. Nicht nur, weil ich das Land so mag, sondern weil ich immer daran denken musste, wie diese Insel der Glückseligen im Ersten und im Zweiten Weltkrieg von all dem Schrecklichen verschont blieb. In anderen europäischen Ländern rissen die Kriege Generationen von Menschen in den Abgrund. Mir war klar, dass das nicht klappt, weil die Schweizer schon immer ihre eigenen Vorstellungen von Asylgewährung hatten.
Irgendein Plätzchen würde sich finden lassen. Davon war ich überzeugt. In den Krieg lasse ich mich von denen (in Bonn oder Berlin) nicht schicken. So viel war klar!
Das Alter verändert die Sicht
Mit über siebzig denke ich etwas anders. In den Krieg werde ich nicht müssen. Aber ich denke darüber nach, was eigentlich passieren würde, käme es in Europa wirklich zu einem großen Krieg. Allein die Tatsache, dass es im Bereich des Möglichen liegt, dass nach einem Sieg Putins über die Ukraine zu Millionen neuer Flüchtlinge kommen würde, reicht mir für ein düsteres Horrorszenarium. Da ginge es dann irgendwann nicht mehr um etwaige Verteilungsprobleme, es würde vielmehr existenziell für alle Menschen, die nicht zu den 249 Milliardären und 2,8 Mio. Millionären Deutschlands zählen. Die können Europa den Rücken zuwenden.
Nie wieder Krieg
Ich kann mir nicht vorstellen, wie das sein würde, wenn es in Europa zu einem großen Krieg käme. Nicht im Geringsten reicht meine Vorstellungskraft dafür aus. Ich sehe das Bild der Ukraine, leidende Menschen. Ich sehe die Bilder in Gaza, im Libanon, im Sudan, im Ost-Kongo. So grauenhaft das ist und so deprimierend die Vorstellung, dass wir Menschen nichts dazugelernt haben, kann ich mir nicht vorstellen, Köln, Düsseldorf oder unser Städtchen in Trümmern zu sehen. Das konnten die Menschen 1939 in Deutschland sich vermutlich ebenso wenig vorstellen.
Umso klarer muss das Bekenntnis, notfalls der Kampf, für den Frieden sein.
Aber das reicht alles nicht. Wir müssen eine Kriegstüchtigkeit erlangen. Nicht um einen Krieg mit irgendwem zu führen, sondern einzig mit dem Ziel einer funktionierenden Abschreckung. So bedrückend die Zeit des Kalten Krieges auch gewesen sein mag; Abschreckung hat funktioniert. Deshalb verstehe ich die Friedensapostel (ist gar nicht so abwertend gemeint) nicht, die heute nur die eine Seite der Debatte repräsentieren und alle Möglichkeiten einer »aktiven« Vorbereitung in Bausch und Bogen ablehnen.
Müssen wir kriegstüchtig werden? Ist der Begriff zu kontrovers?
Natürlich zählt zur Kriegstüchtigkeit, dass genügend Soldaten im Ernstfall bereitstehen. Die viel zitierte Friedensdividende hat uns wohlstandsmäßig genutzt. Ich sage das, obwohl ich weiß, dass die Armut im Land gewachsen ist. Das ist ein Verteilungsproblem, das nicht gelöst wurde. Dennoch ging es Deutschland nie besser als in diesen letzten Jahrzehnten. Es ist immer nur aufwärtsgegangen, von kleineren konjunkturellen Dellen abgesehen.
Das Aussetzen der Wehrpflicht unter Merkel war eine der Zeit angemessene Maßnahme, glaube ich. Heute werden fast alle grundsätzlichen Entscheidungen Merkels in einer Weise kritisch hinterfragt, die ich unangemessen, vor allem jedoch geschichtsvergessen finde. Wir waren nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts von Freunden umgeben. Francis Fukuyamas «Das Ende der Geschichte», 1992, sollte Rechnung getragen werden. So können Menschen irren.
Argumente für die Wiedereinführung der Wehrpflicht
Die Befürworter der Wehrpflicht betonen, dass sie die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands stärkt und die Verbindung zwischen Gesellschaft und Bundeswehr fördert. Eine diverse und gut ausgebildete Reserve sei essenziell für die Sicherheit des Landes. Zudem wird argumentiert, dass ein verpflichtender Wehr- oder Zivildienst jungen Menschen wichtige Kompetenzen vermittelt und die persönliche Entwicklung fördern kann. Der soziale Zusammenhalt könnte durch solche Dienste ebenfalls gestärkt werden.
Argumente gegen die Wehrpflicht
Kritiker sehen in der Wehrpflicht eine Einschränkung der persönlichen Freiheit und eine Ungleichbehandlung, da nicht alle gleichermaßen betroffen wären. Sie argumentieren, dass eine Berufsarmee effizienter sei und der Fokus auf Freiwilligkeit stärker betont werden sollte. Zudem könnten wirtschaftliche Nachteile entstehen, etwa durch den verzögerten Berufseinstieg junger Menschen. Auch wird die militärische Notwendigkeit der Wehrpflicht angesichts moderner Sicherheitslagen infrage gestellt.
Alternative Modelle und Kompromissvorschläge
Einige Vorschläge zielen auf freiwillige Modelle ab, bei denen junge Menschen zwischen verschiedenen Diensten wählen können, etwa einem kürzeren Grundwehrdienst oder einem längeren sozialen Dienst. Diese Optionen könnten eine Balance zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlichem Nutzen schaffen. Gleichzeitig wird diskutiert, wie solche Modelle finanziert und organisatorisch umgesetzt werden könnten.
Gesellschaftliche und ethische Dimensionen
Die Diskussion um die Wehrpflicht berührt auch grundlegende Fragen nach der Verantwortung des Einzelnen gegenüber dem Staat und der Gesellschaft. Während einige die Pflicht zur Verteidigung als moralische Verpflichtung sehen, lehnen andere dies ab und betonen das Recht auf Selbstbestimmung. Die Debatte spiegelt somit auch unterschiedliche Wertehaltungen innerhalb der Gesellschaft wider.
Internationale Perspektiven
Ein Vergleich mit anderen Ländern zeigt, dass viele Staaten die Wehrpflicht abgeschafft oder ausgesetzt haben, während andere sie als notwendig erachten. Die Erfahrungen dieser Länder bieten Anhaltspunkte für mögliche Vor- und Nachteile einer Wiedereinführung in Deutschland.
Rechte und Pflichten vs. Individualismus
Wolfgang von Sulecki plädiert für die Rückkehr zur Wehrpflicht. Es wird argumentiert, dass die Aussetzung der Wehrpflicht ein Fehler war, da sie zur Auflösung des Zusammenhangs zwischen Rechten und Pflichten sowie zur Schwächung der Demokratie geführt hat. Die Wehrpflicht wird als notwendig erachtet, um die staatsbürgerliche Verantwortung zu stärken und junge Menschen zu disziplinieren. Zudem wird angemerkt, dass der Einfluss des Militärs sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf junge Männer haben kann. Der Artikel enthält auch persönliche Reflexionen und Kommentare, die die Notwendigkeit der Wehrpflicht infrage stellen und alternative Ansichten darstellen.
Claudia schlägt vor, dass anstelle einer Wiedereinführung der Wehrpflicht, die Rahmenbedingungen und Anreize für Freiwillige verbessert werden sollten, um die Verteidigungsfähigkeit Europas sicherzustellen. Die Kommentare in Claudias Blog bieten eine Reihe von Perspektiven, einschließlich persönlicher Erfahrungen und kritischer Ansichten zur Militarisierung und der Beziehung zwischen Demokratie und Wehrpflicht.
Ich glaube wie Claudia, dass eine Rückkehr zur Wehrpflicht aus praktischen Gründen kaum praktikabel ist, sondern dass die Freiwilligkeit Erfolg versprechender wäre, vor allem in der momentanen Lage. Vielleicht wird sich die Sicht darauf verändern, wenn es, was Gott verhindern mag, zu einer weiteren Eskalation käme.
Debatten-Dominanz der unheimlichen Art
Etwas unheimlich (müsste ich eigentlich unerwünscht sagen?) ist mir die Debatten-Dominanz derjenigen, die Europa bereits in einem neuen großen Krieg sehen. Wahrscheinlich gibt es Anzeichen dafür, dass die Aggressionen von Putins Russland zunehmen und wir bereits in eine sogenannte hybride Auseinandersetzung verwickelt sind. Ob Cyberangriffe (IT-Systeme oder Energieversorgung), verdeckte Operationen (Mord am helllichten Tag), Einflussnahme auf politische Prozesse (Wahlen). Diese Dinge sind belegt, vor allem jedoch werden sie, obwohl sie kompliziert nachzuweisen sind, von den Kriegspropagandisten (so möchte ich diese Leute bewusst nennen) ständig in den Mittelpunkt ihrer Argumentation genommen werden.
Alarmismus
Vielleicht wirken solche Nachrichten vor allem bei Menschen wie mir höchst alarmierend. Wir sind im Herzen Europas von derartigen Bedrohungen von 1945 bis 2022 völlig verschont geblieben. Was auf der Welt passiert, hat uns hinsichtlich der Implikationen kaum bewegt. Dabei war es vielleicht nur eine Frage der Zeit, bis irgendein irrer, größenwahnsinniger Despot das Unvorstellbare tut und sicher geglaubte zivilisatorische Regeln (u.a. Völkerrecht) mit Raketen und Bomben, Mord und Totschlag ad absurdum führt. Das dürften wir (die UN) uns niemals gefallen lassen!
Moin Herr Schulte,
möglicherweise hilft es meine Haltung zu verstehen wenn ich einige wesentliche Aspekte für einen Krieg in Europa beisteuere:
Wir liegen geografisch genau im Mittelpunkt der Kampfhandlungen hier wird am meisten gestorben (unterstellt der Aggressor sei Rußland).
im Kriegsfall werden als erstes alle Autobahnen und Bundesstraßen für zivilen Verkehr gesperrt, Kraftstoff wird rationiert und vorzugsweise an das Militär abgegeben;
Militärisch nützliche Privatfahrzeuge werden enteignet und eingezogen;
nach drei Tagen sind die Supermärkte leer, ohne Lebensmittel (wie bei Hygiene-Papier bei Corona!) – dann fängt das Fasten an und wenn es länger als 4 Wochen ohne Versorgung sind fängt das Sterben in allen Gebieten an die nicht schon von Kampfhandlungen verwüstet sind;
marodierende Horden werden nach Vorräten suchend durch das Land ziehen;
die medizinische Versorgung bricht komplett zusammen und es gibt auch dringend benötigte Medikamente nicht mehr ….
Deswegen halte ich eine rechtzeitige Abschreckung jeglicher kriegslüsterner Psychopathen durch eigene Stärke für dringend geboten. Momentan ist der Zeitpunkt schon deswegen günstig weil russische Kräfte im Krieg gebunden sind, und die Maschinerie für den Nachschub noch nicht voll hochgefahren ist.
Hoffentlich irre ich da nicht.
Die Szenarien sind beängstigend und erinnern an die Debatten, die während des Kalten Krieges geführt wurden. Auch da gingen Fachleute davon aus, dass die Kriegshandlungen (ggf.) unser Land am schlimmsten betreffen würden. Man darf nicht darüber nachdenken. Ich bin ja auch unbedingt dafür, dass wir die Bundeswehr kriegstüchtig (Ja, Herr Pistorius!) wird. Dass er damit ein Ausrufezeichen setzen wollte, ist schon klar. Aber das Bewusstsein ist in unserem Land auch nicht so ausgeprägt, wie es sein sollte. Die Verschwichtigungspolitik der letzten Jahrzehnte war halt wirkungsvoll.
Ich würde für eine allgemeine Wehrpflicht plädieren, wenn ich die Aussicht sähe, sich damit durchzusetzen und etwas Gutes für unser Land zu erreichen. Nur habe ich da meine Zweifel. Die teilt ja Claudia, wenn ich sie richtig verstanden habe, auch.
PS
Erinnern Sie sich noch an die *Aktion Eichhörnchen*?
Vorrat für wenigstens 14 Tage, besser 4 Wochen, und ausreichend Wasser nicht vergessen.
Ich erinnere mich dunkel.