
Man merkt kaum, wie sich die eigene Sprache verändert. Man schreibt, reagiert, denkt – und ein Jahrzehnt später blickt man auf ein Archiv, das wie eine Tonspur der eigenen Entwicklung, Erwachsenwerdens, klingt. Ich habe ChatGPT gebeten, meine Texte zu lesen, von 2013 bis heute. Also die, ich hier, zum kleinsten Teil auf anderen Blogs, veröffentlicht habe. Nicht, um mich selbst zu feiern, sondern um zu begreifen, was geschieht, wenn man jahrelang versucht, in einer unruhigen Öffentlichkeit Haltung zu bewahren.
Sie tat dies, wie ich die Texte selbst nie gelesen habe: analytisch, unbestechlich und vor allem geduldig. Heraus kam ein Bild, das ich so nicht erwartet hatte – eine Linie von Pathos, Wut bis zu einer leisen, fast gelassenen Klarheit. Das sage nicht ich, das sagt die KI.
Vom Pathos zur Präzision
2013 schrieb ich mit langen Sätzen und großen Gesten. Die Welt erschien mir brüchig, das Internet noch als Ort des Diskurses. Davor wars noch viel schöner. Ich stand in regelmäßigem Kontakt mit liberalen, vielleicht nach meinen Maßstäben auch neoliberalen Bloggern. Ich schätzte sie und viele Kommentare zeugten davon, dass dies auf Gegenseitigkeit beruhte. Unsere Ansichten waren so konträr, dass dieses lange Zusammenbleiben heute gar nicht mehr vorstellbar wäre. Damals hießen meine Blogs anders. finger.zeig.net, Querblog.de oder so. Alles Vergangenheit. Die meisten der zum überwiegenden Teil eher kurzen Beiträge habe ich gelöscht. Nur wenige haben es bis hierhin geschafft.
Jahre später ist der Ton ein anderer. Kürzere Sätze, mehr Frust, weniger Hoffnung. Ich schrieb, wie man spricht, wenn man zu lange zugehört hat. Die Analyse ordnete es nüchtern ein: Wut als Reaktion. Wahrscheinlich war es genau das. Die Zeit brach an, in der sich über die asozialen Medien Empörung im Sekundentakt abspielte und jeder Kommentar schon überholt war, bevor er veröffentlicht wurde.
Vom Aufschrei zum Gespräch
Die KI fasste meinen Stil in eine Formel: Reflektierte Klarheit + leise Wut = dein Stil. Das trifft ziemlich genau, was ich über die Jahre versucht habe. Ich will nicht belehren, sondern nachdenken – laut genug, dass man’s hört, leise genug, dass es bleibt. Aber mancher wird das genau so verstanden haben, wie es eben nicht von mir gedacht war. Auch auf diese Weise bleiben Blogs trafficmäßig klein. Urheberrechtsverletzungen (Brötchen, Bierkrug) können, wie ein anderes Beispiel (Bockwurst) gezeigt hat, zum Booster avancieren. Jedenfalls, wenn man es richtig macht und sich nicht gleich beim ersten Sturm zurückzieht. So, wie ich es für eine gewisse Zeit getan habe.
Über die Jahre hat sich der Satzbau meiner Texte verändert, der Rhythmus auch. Früher schrieb ich in Blöcken, heute in Schichten. Gedankenstriche, Pausen, Halbsätze – all das ist nicht Unentschlossenheit, sondern Rhythmus. So – würde ich sagen – klingt Nachdenken. Meins jedenfalls.
Merkmal | Früher (2013–2016) | Heute (2024–2025) |
---|---|---|
Satzbau | lang, verschachtelt, oft atemlos | ausgewogen, rhythmisch, bewusst gesetzte Pausen |
Ton | kämpferisch, polemisch | nachdenklich, dialogisch |
Stilmittel | Metaphern, Ausrufe, Dreischritte | Parallelismen, Fragen, Ironie |
Ich-Perspektive | dominant, reaktiv | kontrolliert, reflektierend |
Haltung | Empörung über die Welt | Vertrauen in den Leser |
Das Schreiben ist weniger Kampf, mehr Chronik geworden. Ich schreibe nicht, um recht zu behalten, sondern um nicht zu verstummen. Vor allem ist das Schreiben für mich, wie ich hier schon mehrfach sagte, eine wirkungsvolle Eigentherapie. In dieser Welt, an der ich als Rentner anders teilnehme als früher, kann das Schreiben befreiend sein. Das ist meine Erfahrung jedenfalls. Es ordnet und säubert Gedanken, die selbst ausgedehnte Spaziergänge allein nicht ordnen könnten.
Was bleibt
Sprache altert, aber sie altert nicht gleichmäßig. Manche Sätze aus den frühen Jahren würde ich heute so nicht mehr schreiben – nicht, weil sie falsch waren, sondern weil sie lauter sind, als ich es heute brauche und richtig finden würde.
Die KI hat mich an etwas erinnert, das ich selbst oft vergesse: dass man beim Schreiben nicht nur die Welt beobachtet, sondern sich selbst. Jede Wendung, jedes Fragezeichen trägt Spuren der Zeit und nicht zuletzt des eigenen Lebensweges.
Und vielleicht ist das die eigentliche Chronik dieses Blogs: Nicht die Themen, sondern die Veränderung der Stimme, die sie erzählt. Ich weiß natürlich, dass viele meiner Leser:innen auch bloggen. Deshalb würde es mich interessieren, wie sie darüber denken. Jedenfalls, sofern sie auch schon etwas länger dabei sind.
Entdecke mehr von Horst Schulte
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.
Hier im Blog werden bei Abgabe von Kommentaren keine IP-Adressen gespeichert! Deine E-Mail-Adresse wird NIE veröffentlicht! Du kannst anonym kommentieren. Dein Name und Deine E-Mail-Adresse müssen nicht eingegeben werden.