
Es war einer dieser Novembertage, an denen der dunkelgraue Himmel wie eine bleierne Decke über der Welt hängt, etwa so wie heute. Der 19. November 1972, Volkstrauertag – ein Tag, an dem nicht unbedingt verordnet, so aber schon leiser spricht, etwas wenig tiefer atmet, weil die Geschichte einem die Hand auf die Schulter legt.
Und doch, unter dieser verordneten Stille des Tages lag etwas anderes. Die Erwartung auf das Resultat dieses Wahlsonntages. Viele Menschen kamen dem Wunsch nach Gedenken nach. Manche besuchten die Friedhöfe, viele gingen gleich danach geradewegs in die Wahllokale.
Dass an diesem Tag auch das stärkste SPD-Ergebnis aller Zeiten in die Geschichte eingehen würde, ahnten vielleicht wenige. Obwohl die Willy-Euphorie überall in Deutschland spürbar war. Die Ergebnisse wirken heute wie aus einer anderen Welt, so klar und so fern der Gegenwart.
Als am Abend die Hochrechnungen gezeigt wurden, war es in vielen Haushalten wohl um die Stille geschehen. Prozent um Prozent wanderte die SPD nach oben, und überall huschte ein Raunen durch die Wohnzimmer – dieses ungläubige „Siehste wohl!“. Und über allem stand Willy Brandt, dieser Mann mit der warmen Stimme, der Zuversicht in den Blicken und dem Mut, der nicht nach Pose, sondern nach Haltung klang. Soviel Nostalgie muss sein.
Ich selbst stand an diesem Tag Wache – Fackelträger, Freiwillige Feuerwehr, Internatsplatz, kalter Wind, dünne Uniform. Wir froren leise vor uns hin, und nach dem Zeremoniell retteten wir uns in eine Kneipe, wo uns die Schnäpse schneller wärmten, als gut war. Kurz nach zwei lag ich tüchtig beschwipst im Bett, gab meiner Mutter zuvor aber den dringenden Auftrag, mich rechtzeitig für den Gang zu meiner allerersten Bundestagswahl zu wecken.
Hat geklappt! Ich torkelte nicht, aber ich glaube, ich schwebte leicht. Und so setzte ich in einem Wahllokal irgendwo im Novembergrau zwei kleine Kreuze, die – wie Millionen andere – dieses historische Ergebnis ermöglichten. Fast 46 Prozent für die SPD. Ich war ein winziger Teil davon, und irgendwie erfüllt mich das bis heute.
Mit einem Koffer voller Schallplatten marschierte ich danach los – DJ-Dienst bei einer Fete im Keller einer Freundin, weil die Discos an Volkstrauertagen natürlich geschlossen hatten. Der »Marquis« war unser Wohnzimmer, unsere Wochenendkirche, aber an diesem Abend lag die Musik ein paar Straßen weiter, im Keller des Hauses einer Freundin. Damals gabs in unserem Städtchen sage und schreibe vier Discos. Die Präferenzen waren halbwegs gerecht verteilt. Bei meinen Freunden war es diese eine.

Dort, im Zwielicht der »richtigen Beleuchtung« für unsere Zwecke, im Duft frischen Filterkaffees, frisch gezapftem Kölsch und den damals (auch für Jungs) unvermeidlichen Haarsprays, sah ich sie zum ersten Mal. Diese Frau. Damals noch an der Seite eines anderen, was meine Begeisterung kein bisschen dämpfte. Wir tanzten – nicht lang, aber lang genug, dass etwas hängenblieb. Ein Funke, ein leiser Stich, ein Staunen über diese Frau mit den langen dunkelbraunen Haaren und den graublauen Augen. Diesen Augen, die meinen Blick einen Moment lang so gefangen nahmen, dass ich fast vergaß, weiterzuatmen.
Die Wochen danach waren ein behutsames Annähern. Verliebtsein ist eines der Gefühle, die für Menschen bestimmt zu den wichtigsten im Leben überhaupt zählen. Aber schon bald gab es ein Wir. Keine dramatischen Auftritte und Gesten, dafür tiefe Gefühle.
Dass wir heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, manchmal dasitzen und uns mit einem leichten Lächeln fragen, wie zur Hölle die Zeit so schnell rennen konnte – das ist ja irgendwie das Schönste an der ganzen Geschichte. Denn dieses „Wir“ ist geblieben. Trotz aller grauen November, aller Stürme, aller Jahre. Und vielleicht ist es gerade dieses Bild von damals – ein angetrunkener Feuerwehrmann, eine Kellerparty, zwei Kreuze auf einem Wahlzettel und ein kurzer Tanz –, das zeigt, wie einfach das Leben manchmal die großen Türen öffnet.



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