Keine Kürzung? Viel Misstrauen! Die schiefe Debatte über unsere Rente.

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von Horst Schulte

Lesezeit: 10 Min.

Für mich war vor allem Merz’ Hinweis bei der JU auf den »Unterbietungswettbewerb« absolut entlarvend. Wie übrigens auch sein Fingerzeig auf die Wahlen, für die 21 Mio. Rentner eine Größe darstellen, die ein Realpolitiker nicht außer Acht lassen kann. Wenngleich Journalisten genau das stark kritisieren. Ja, so ist das halt mit der Ehrlichkeit. Das Wort Unterbietungswettbewerb allein beweist, worauf so manche Lobbygruppen (eher CDU-nah) in Wahrheit abzielen. Es geht um Rentenkürzungen!

Es gibt politische Debatten, da merkt man schon nach wenigen Minuten, dass nicht das Problem im Zentrum steht, sondern die Wörter, mit denen man es beschreibt. Die jüngste Lanz-Runde zur Rente war ein solcher Abend. Man hätte fast meinen können, im Studio säßen Semantiker und nicht Politiker und Ökonomen. Und doch hing unter all dem Sprachnebel eine ziemlich konkrete Frage im Raum: Wer trägt die Last des demografischen Wandels – die Alten oder die Jungen? Und wie ehrlich sind wir zueinander, wenn wir darüber reden?

Ausgangspunkt des Streits sind zwei Sätze, die es in sich haben. Der erste steht im Koalitionsvertrag: Das Rentenniveau soll bis 2031 bei 48 Prozent stabilisiert werden. Punkt. Der zweite steht im aktuellen Gesetzentwurf: Auch nach 2031 soll das Rentenniveau um einen Prozentpunkt höher liegen als im geltenden Recht. Klingt nach technischer Fußnote, ist aber politischer Sprengstoff – und die berühmten 120 Milliarden Euro hängen genau an diesem einen Prozentpunkt.

Junge Gruppe gegen teure Haltelinie

Die junge Gruppe der Union, vertreten von Johannes Winkel, macht daraus ihren Graben: Bis 2031 geht man mit, was darüber hinausgeht, lehnt man ab. Die Begründung ist simpel und nicht unplausibel: Der Koalitionsvertrag war ausdrücklich bis 2031 formuliert, nicht darüber hinaus. Für die 30er Jahre war eine Kommission verabredet, die sich Vorschläge erarbeiten sollte, wie man mit den völlig veränderten demografischen Verhältnissen umgeht. Die Kommission soll natürlich möglichst bald eingesetzt werden. Manche sagen, dies solle noch in diesem Jahr der Fall sein. Ich vermute, das war eine der üblichen Nebelkerzen. Ist das Gesetz erst einmal durch den Bundestag, lassen sich die Politiker (erfahrungsgemäß) Zeit, bis tatsächlich das geschieht, worauf wir eigentlich warten: eine große Rentenreform.

Und diese Verhältnisse sind kein akademisches Gedankenspiel: Die Babyboomer gehen geschlossen in Rente, die Beitragszahler werden relativ weniger, der Bundeszuschuss zur Rente schwillt immer schneller an, was neben Sozialausgaben insgesamt, Schuldendienst und Militärausgaben die Spielräume so massiv reduziert, dass für andere dringende Belange, nichts bleibt. Wer da noch einmal 120 Milliarden obendraufpackt, ohne zu wissen, welche Krisen darüber hinaus warten, operiert, aus Sicht der Jungen, ziemlich sorglos mit der Zukunft unseres Landes.

120mrd
Screenshot ZDF (Markus Lanz vom 18.11.2025)

Hans-Werner Sinn ergänzt das mit der kalten Nüchternheit des Ökonomen: Unser Rentensystem ist ein Umlagesystem. Es lebt „von der Hand in den Mund“, wie er sagt. Was heute eingezahlt wird, wird heute ausgezahlt. Keine Sparkonten, keine individuellen Töpfe, nur der ständige Strom von Jung zu Alt. Wenn dann plötzlich viel mehr Alte am Wasserhahn stehen und viel weniger Junge pumpen, ist klar: Irgendwer wird nass. Entweder die Jungen zahlen deutlich mehr, oder die Alten müssen akzeptieren, dass ihre Renten langsamer steigen als die Löhne.

Dann aber erschütterte Lauterbach erneut die Runde: Sollte man die 120 Milliarden streichen, dann werde das 2032 „wie ein Fallbeil“ wirken und das Rentenniveau falle von 48 auf 47 Prozent. „Dann müssen wir Renten kürzen.“ Ja, da habe Lauterbach durchaus recht, meinte Ökonom Sinn, ein seltener Fall von Übereinstimmung mit Lauterbach.

Der Volkswirt hatte übrigens eine andere Idee, wie sich das Rentenniveau ohne Mehrkosten stabilisieren lasse. Man müsse nur das Renteneintrittsalter um „pi mal Daumen“ zehn Monate nach hinten verschieben, so Sinn, dann brauche man keine Steuern erhöhen und könne die 48 Prozent halten.

Quelle

2004 hat man dafür den Nachhaltigkeitsfaktor erfunden, ein politischer Kompromiss, der sinngemäß sagt: Ein Viertel der Last tragen die Rentner, drei Viertel die Jüngeren. Die jetzt geplante Weiterführung der 48 Prozent über 2031 hinaus würde, nach Sinns Lesart, genau diese Balance aufkündigen. Die Alten würden komplett geschont, die Jungen alles tragen.

Bis hierhin ist die Linie recht klar: Die Junge Union und Sinn pochen auf Generationengerechtigkeit, auf die Ehrlichkeit, dass demografische Realität sich nicht wegversprechen lässt. Man kann darüber streiten, wie stark man Renten im Verhältnis zu Löhnen bremsen will – aber man sollte nicht so tun, als sei das alles kostenlos.

Lauterbachs Verteidigung und die Schuldfrage

An dieser Stelle tritt Karl Lauterbach auf den Plan, und mit ihm die andere Seite des Konflikts. Lauterbach ist nicht nur SPD-Politiker, sondern einer derjenigen, die diese Debatten seit Jahrzehnten aus Kommissionszimmern kennen. Er betont, dass das, was jetzt im Gesetz steht, gewissermaßen immer so „gemeint“ gewesen sei – seit 2018, seit Hubertus Heils Vorschlag, seit allen Diskussionen um die Aussetzung des Nachhaltigkeitsfaktors. In seiner Darstellung ist der neue Satz kein heimlicher Coup der SPD, sondern die logische Fortführung einer einmal eingeschlagenen Linie.

Wenn nun von „reingeschmuggelten“ 120 Milliarden und „Räuberpistolen“ die Rede ist, wird daraus schnell ein Moraldreh: Die SPD als Trickserei-Partei, die der armen Union heimlich Lasten anhängt. Lauterbach dreht den Spieß um und spricht von Verschwörungsnarrativen. Und irgendwo dazwischen steht ein Koalitionsvertrag, der einen klaren Zeitraum nennt – und viel Interpretationsspielraum für das Danach lässt.

An diesem Punkt fängt es bei mir an zu knirschen. Die Art, wie in der Runde Schuld verteilt wird, ist symptomatisch für unseren politischen Stil. Winkel unterstellt der SPD zumindest indirekt, mehr durchgesetzt zu haben, als verabredet war. Lauterbach kontert mit dem schweren Wort „Verschwörungstheorie“. Beides ist rhetorisch effektiv, aber der Sache nicht unbedingt dienlich. Aus einer handfesten inhaltlichen Differenz – 48 Prozent wie lange und mit welchen Kosten – wird ein moralischer Showdown: Wer spielt mit den Ängsten der Rentner, wer hintergeht wen, wer hält sich an den „Geist“ eines Vertrages und wer nicht?

Semantik, Angst und das böse Wort Rentenkürzung

Dabei ist die Sachebene eigentlich kompliziert genug. Lanz tut zwischendurch das einzig Vernünftige und lässt sich und das Publikum noch einmal in Ruhe erklären, worum es überhaupt geht. Nicht um Rentenkürzungen im Sinne sinkender Rentenbeträge. Sondern um die Frage, ob die Renten nach 2031 etwas langsamer steigen sollen als die Löhne.

Sinn sagt es sehr deutlich: Das Wort „Rentenkürzung“ wird hier missbräuchlich verwendet. Ein sinkendes Rentenniveau bedeutet, dass die Renten im Verhältnis zu den Löhnen zurückfallen – nicht, dass Omas Überweisung kleiner wird. Dass diese Unterscheidung in der öffentlichen Debatte konsequent verwischt wird, ist kein Zufall. Angst funktioniert besser als Mathematik.

Gleichzeitig erweitert Lauterbach das Bild: Für ärmere Menschen, die früher sterben, kann die gesetzliche Rente tatsächlich ein schlechtes Geschäft sein. Sie zahlen ein Leben lang ein und haben am Ende wenige Jahre oder gar nichts von ihrer Rente, während Besserverdienende länger leben und stärker profitieren. So wird aus dem Konflikt „jung gegen alt“ ganz nebenbei auch „arm gegen reich“ – eine Dimension, die in der Talkshow zwar kurz aufscheint, aber von der Schlagzeilenlogik schnell wieder überdeckt wird.

Der Berliner-Morgenpost-Moment

Und jetzt wird es (gegen Ende der Sendung) spannend. Sollte man die 120 Milliarden streichen, werde das 2032 „wie ein Fallbeil“ wirken, das Rentenniveau falle von 48 auf 47 Prozent, „dann müssen wir Renten kürzen“, sagt Lauterbach. Und Hans-Werner Sinn hatte darauf geantwortet: Da habe Lauterbach recht – ein seltener Fall von Übereinstimmung.

Auf den ersten Blick widerspricht das frontal dem, was Sinn zuvor bei Lanz so ausführlich erläutert hat. Erst erklärt er, warum „Rentenkürzung“ das falsche Wort ist – dann soll er plötzlich genau dieses Wort abnicken? Ich würde es so lesen: In der Talkshow selbst wechselt Sinn die Ebene.

Zuerst spricht er als Ökonom, präzise und begriffsstutzig im besten Sinne: Rentenniveau, Lohnentwicklung, Verhältnisgrößen. Später, in der zugespitzten Fallbeil-Szene mit Lauterbach, bewegt er sich in dessen politischem Frame. Wenn man 48 Prozent als heiliges Versprechen definiert, dann ist der Sprung auf 47 Prozent vom Erwartungshorizont her tatsächlich eine „Kürzung“. Nicht im technischen Sinn, aber in der Wahrnehmung. Und Sinn sagt in diesem Kontext: Ja, wenn ihr die Sache so definiert, dann hat er recht. Das ändert nichts an seiner ursprünglichen Diagnose, dass wir uns sprachlich ins Knie schießen, wenn wir jede Anpassung im System als „Kürzung“ bezeichnen.

Genau das macht diese Debatte so schwer erträglich. Wir hangeln uns von Frame zu Frame, von Bild zu Bild. Merz spricht davor vom „Unterbietungswettbewerb beim Rentenniveau“, als ginge es darum, wer die Rentner am brutalsten schröpft. Lauterbach malt das Fallbeil und die drohende Rentenkürzung, sollte man die 120 Milliarden nicht ausgeben. Die Junge Union warnt vor der „Milliardenbombe“ im Gesetz. Irgendwo dazwischen versucht Karina Mößbauer zu sortieren, Lanz mahnt, man möge doch bitte aufhören, mit der Angst älterer Menschen Politik zu machen.

Mein Problem mit den Schuldzuweisungen

Und die SPD bekommt in der Runde mehr als einen Schlag ab – mal als angeblich trickreiche Verhandlerin, mal als populistische Rentenpartei, die nur noch auf die 21 Millionen Rentner starrt. Mir missfällt diese Schuldverteilung. Nicht, weil die SPD sakrosankt wäre – sie ist es nicht. Auch nicht, weil ich die 48 Prozent über 2031 hinaus für eine geniale Idee hielte – tue ich nicht. Sondern, weil hier suggeriert wird, eine Seite habe „sauber gerechnet“ und die andere „unehrlich geschmuggelt“.

In Wahrheit sind beide in diesem System über Jahre gemeinsam unterwegs gewesen. Wer jetzt so tut, als sei die jeweilige Lieblingszahl zufällig vom Himmel gefallen und der Rest ein Betrug, schreibt die Geschichte um.

Die unbequeme Wahrheit: Es gibt keinen schmerzfreien Weg

Und irgendwo in einer Ecke steht Sinn und sagt nebenbei noch etwas sehr Unbequemes: Man könne die 48 Prozent übrigens auch halten, ohne weitere Milliarden in das System zu kippen – indem man das Renteneintrittsalter um „pi mal Daumen“ zehn Monate nach hinten schiebt. Das ist die Sorte Vorschlag, die in Deutschland reflexartig Empörung auslöst, egal wie ernst die Demografie ist. Vielleicht ist das der ehrlichste Moment der ganzen Debatte: Hier wird klar, dass es keinen schmerzfreien Weg gibt. Entweder zahlen wir mehr, arbeiten länger oder wir verabschieden uns von lieb gewonnenen Illusionen über ewiges Wachstum bei stabilen Prozentsätzen.

Was bleibt nach diesem Lanz-Abend? Ein Gefühl von Schieflage. Eine berechtigte Sorge der Jüngeren, dass man ihnen den Bundeshaushalt der 30er Jahre schon heute zubetoniert. Eine SPD, die sich an einem 48-Prozent-Versprechen festklammert, das ihr politisch Sicherheit geben soll, sie aber ökonomisch weiter in die Ecke treibt. Ein Kanzler, der laut Zitat lieber Wahlen gewinnen will, als ehrlich von belastenden Reformen zu sprechen. Und ein Diskussionsstil, in dem Schuldzuweisungen und Schlagworte lauter sind als der Versuch, die unterschiedlichen Interessen fair zu vermessen.

Vielleicht wäre ein erster kleiner Schritt schon gewonnen, wenn wir uns auf einen gemeinsamen Satz einigen könnten: Es gibt keine Rentenkürzung im Sinne niedrigerer Rentenbeträge – aber es gibt sehr wohl Verteilungskonflikte. Darüber kann man streiten, heftig und hart in der Sache. Nur vielleicht ohne dauernd so zu tun, als stecke auf der anderen Seite automatisch böser Wille. Das Umlagesystem trägt schon genug, es muss nicht auch noch alle unsere Unterstellungen schultern.


Horst Schulte

Herausgeber, Blogger, Amateurfotograf

Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe auf dem Land.

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Artikelinformationen

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2 Gedanken zu „Keine Kürzung? Viel Misstrauen! Die schiefe Debatte über unsere Rente.“

  1. Ich zitiere mal Herrn Mersmann:

    „Ein Blick in die Annalen würde zeigen, dass in den letzten dreißig Jahren ca. eine Billion Euro von unterschiedlichen Regierungen zu unterschiedlichen Zwecken aus den Rentenkassen genommen wurde, ohne jemals die Versicherten zu fragen. Und ein Blick auf die Struktur würde zeigen, dass die Einzahlung in das System nur für abhängig Beschäftigte verpflichtend ist. In Ländern, in denen es allgemein für jede Form der Erwerbstätigkeit obligatorisch ist, redet niemand von einer Krise und die tatsächlich gezahlten Renten sind signifikant höher. „

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