Vielleicht ist es der 71-jährige (alte Sack) in mir. Vielleicht ist es aber auch nur gesunder Menschenverstand, der sich beim Lesen eines Artikels im Tagesspiegel ($) regt. Der Tenor: Höflichkeit, wie wir sie kannten, ist heute ein Ausdruck dressierter Seelenlosigkeit.

Na dann: Guten Appetit, Gesellschaft!

Ein Kind der guten Schule

Ich war ein schüchternes, braves Kind. Vielleicht sogar ein bisschen zu brav. Der Typ, der sich bei der Lehrerin entschuldigt hat, weil er einen halben Ton zu laut gehustet hat. Meine Schwester und ich wuchsen in einem liebevollen Elternhaus auf – ein Zuhause, das uns keine goldenen Löffel, aber goldene Werte mit auf den Weg gab. Allen voran: Höflichkeit.

„Bitte“, „Danke“, „Entschuldigung“ – diese Wörter waren keine Floskeln, sie waren Teil der Familien-DNA. Und ja, wir sagten sie auch dann, wenn wir nicht fühlten, was wir sagten. Wir sagten sie, weil sie dazugehören. Weil sie zeigen: Ich bin nicht allein auf der Welt. Es gibt andere, und die verdienen Respekt.

Floskel oder Fundament?

Heute sagen moderne Erziehungsratgeber: Wenn ein Kind nicht intrinsisch motiviert ist, soll es sich bitte nicht bedanken. Aha.

Was bitte ist das für eine Haltung? Soll der Nachwuchs demnächst auch nur noch dann grüßen, wenn er vorher ein Sinnfindungsseminar absolviert hat? Oder den Müll rausbringen, wenn er sich innerlich wirklich bereit dazu fühlt?

Nein, wirklich. Ich verstehe ja, dass Kinder heute selbstbewusster erzogen werden sollen. Aber Selbstbewusstsein ohne Rücksichtnahme ist einfach nur Ego mit WLAN.

Die Sache mit der Birne (und dem Holzscheit)

Ich erinnere mich noch genau an eine Szene aus meiner Kindheit. Mein bester Freund und ich hatten eine kleine… nennen wir’s „Uneinigkeit“. Es ging um eine Birne. Eine große, saftige, vom Baum gepflückte Birne. Ich hatte sie. Er wollte sie. Was folgte, war ein beherzter Schlag mit einem Holzscheit auf meinen Kopf.

Mein Vater nahm das nicht ganz so locker. Er zerrte mich samt Beule und Moralanspruch zum Vater meines Freundes. Er forderte eine Entschuldigung. Die Antwort meines Freundes? „Das muss ich mir aber noch mal überlegen.“

Und doch: Wir blieben Freunde. Vielleicht, weil es damals noch normal war, dass eine Entschuldigung nicht immer spontan, aber eben notwendig war. Und weil niemand auf die Idee gekommen wäre zu sagen: „Wenn du’s nicht fühlst, sag’s halt nicht.“

Die neue Unverbindlichkeit

Heute erleben wir es häufig: Kinder, die bei Geschenken nicht mal den Anstand haben, einen Blick über das Geschenkpapier hinaus zu riskieren. Das Präsent wird kommentarlos in die Ecke gelegt, zwischen das kaputte ferngesteuerte Auto und den Amazon-Karton von letzter Woche.

Ach ja, die gute alte Erklärung: “Die Eltern haben sich halt keine Mühe gegeben.” Stimmt. Das Geschenk kam ja nicht aus handgeschöpftem Filzpapier, sondern vom Wunschzettel. Und der kam von Amazon. Also: selbst schuld, liebe Großeltern.

Aber der eigentliche Skandal liegt nicht im Geschenk – sondern in der Grundhaltung. In einer Erziehung, die jegliches höfliche Verhalten nur gelten lässt, wenn es vermeintlich „echt“ ist. Wo sind wir denn da hingekommen?

Eltern, Experten und enthemmte Empathie

Die Erziehungsexperten unserer Zeit haben viele kluge Bücher geschrieben, aber offenbar wenige Holzscheite abbekommen. Sie sagen: „Erzwungene Höflichkeit ist keine.“

Ich sage: Erzwungene Höflichkeit ist besser als gar keine. Und vielleicht wird aus dem „Danke“, das zuerst nur eine soziale Pflicht war, irgendwann ein echtes. Weil man erlebt, dass Höflichkeit Türen öffnet, Herzen wärmt – und Beziehungen rettet.

Wir sind nicht nur Kopf und Bauch. Wir sind auch Gewohnheitstiere. Und wenn wir unseren Kindern beibringen, dass man andere grüßt, sich bedankt und sich auch mal ohne tieferliegende Sinnkrise entschuldigt, dann formen wir Menschen, die in einer Gemeinschaft bestehen können.

Fazit? Bitte. Danke. Gern geschehen.

Ich bleibe dabei: Manchmal ist eine Floskel doch besser als “moderne Erziehungsmethoden”. Und bevor wir die letzten Reste höflicher Umgangsformen auf dem Altar der Authentizität opfern, sollten wir uns vielleicht mal wieder gegenseitig daran erinnern, wie gut ein „Danke“ tut.

Und falls das jemandem zu oldschool ist – dem werfe ich keine Birne an den Kopf. Aber vielleicht einen Blick. Einen, der sagt: Ich wünsche mir ein bisschen mehr gegenseitigen Anstand. Nicht, weil ich’s fühle – sondern weil ich’s wichtig finde.

„Bitte“ und “Danke” waren gestern – Erziehung ohne Floskeln

Vielleicht ist es der 71-jährige (alte Sack) in mir. Vielleicht ist es aber auch nur gesunder Menschenverstand, der sich beim Lesen eines Artikels im Tagesspiegel ($) regt. Der Tenor: Höflichkeit, wie wir sie kannten, ist heute ein Ausdruck dressierter Seelenlosigkeit.

Na dann: Guten Appetit, Gesellschaft!

Ein Kind der guten Schule

Ich war ein schüchternes, braves Kind. Vielleicht sogar ein bisschen zu brav. Der Typ, der sich bei der Lehrerin entschuldigt hat, weil er einen halben Ton zu laut gehustet hat. Meine Schwester und ich wuchsen in einem liebevollen Elternhaus auf – ein Zuhause, das uns keine goldenen Löffel, aber goldene Werte mit auf den Weg gab. Allen voran: Höflichkeit.

„Bitte“, „Danke“, „Entschuldigung“ – diese Wörter waren keine Floskeln, sie waren Teil der Familien-DNA. Und ja, wir sagten sie auch dann, wenn wir nicht fühlten, was wir sagten. Wir sagten sie, weil sie dazugehören. Weil sie zeigen: Ich bin nicht allein auf der Welt. Es gibt andere, und die verdienen Respekt.

Floskel oder Fundament?

Heute sagen moderne Erziehungsratgeber: Wenn ein Kind nicht intrinsisch motiviert ist, soll es sich bitte nicht bedanken. Aha.

Was bitte ist das für eine Haltung? Soll der Nachwuchs demnächst auch nur noch dann grüßen, wenn er vorher ein Sinnfindungsseminar absolviert hat? Oder den Müll rausbringen, wenn er sich innerlich wirklich bereit dazu fühlt?

Nein, wirklich. Ich verstehe ja, dass Kinder heute selbstbewusster erzogen werden sollen. Aber Selbstbewusstsein ohne Rücksichtnahme ist einfach nur Ego mit WLAN.

Die Sache mit der Birne (und dem Holzscheit)

Ich erinnere mich noch genau an eine Szene aus meiner Kindheit. Mein bester Freund und ich hatten eine kleine… nennen wir’s „Uneinigkeit“. Es ging um eine Birne. Eine große, saftige, vom Baum gepflückte Birne. Ich hatte sie. Er wollte sie. Was folgte, war ein beherzter Schlag mit einem Holzscheit auf meinen Kopf.

Mein Vater nahm das nicht ganz so locker. Er zerrte mich samt Beule und Moralanspruch zum Vater meines Freundes. Er forderte eine Entschuldigung. Die Antwort meines Freundes? „Das muss ich mir aber noch mal überlegen.“

Und doch: Wir blieben Freunde. Vielleicht, weil es damals noch normal war, dass eine Entschuldigung nicht immer spontan, aber eben notwendig war. Und weil niemand auf die Idee gekommen wäre zu sagen: „Wenn du’s nicht fühlst, sag’s halt nicht.“

Die neue Unverbindlichkeit

Heute erleben wir es häufig: Kinder, die bei Geschenken nicht mal den Anstand haben, einen Blick über das Geschenkpapier hinaus zu riskieren. Das Präsent wird kommentarlos in die Ecke gelegt, zwischen das kaputte ferngesteuerte Auto und den Amazon-Karton von letzter Woche.

Ach ja, die gute alte Erklärung: “Die Eltern haben sich halt keine Mühe gegeben.” Stimmt. Das Geschenk kam ja nicht aus handgeschöpftem Filzpapier, sondern vom Wunschzettel. Und der kam von Amazon. Also: selbst schuld, liebe Großeltern.

Aber der eigentliche Skandal liegt nicht im Geschenk – sondern in der Grundhaltung. In einer Erziehung, die jegliches höfliche Verhalten nur gelten lässt, wenn es vermeintlich „echt“ ist. Wo sind wir denn da hingekommen?

Eltern, Experten und enthemmte Empathie

Die Erziehungsexperten unserer Zeit haben viele kluge Bücher geschrieben, aber offenbar wenige Holzscheite abbekommen. Sie sagen: „Erzwungene Höflichkeit ist keine.“

Ich sage: Erzwungene Höflichkeit ist besser als gar keine. Und vielleicht wird aus dem „Danke“, das zuerst nur eine soziale Pflicht war, irgendwann ein echtes. Weil man erlebt, dass Höflichkeit Türen öffnet, Herzen wärmt – und Beziehungen rettet.

Wir sind nicht nur Kopf und Bauch. Wir sind auch Gewohnheitstiere. Und wenn wir unseren Kindern beibringen, dass man andere grüßt, sich bedankt und sich auch mal ohne tieferliegende Sinnkrise entschuldigt, dann formen wir Menschen, die in einer Gemeinschaft bestehen können.

Fazit? Bitte. Danke. Gern geschehen.

Ich bleibe dabei: Manchmal ist eine Floskel doch besser als “moderne Erziehungsmethoden”. Und bevor wir die letzten Reste höflicher Umgangsformen auf dem Altar der Authentizität opfern, sollten wir uns vielleicht mal wieder gegenseitig daran erinnern, wie gut ein „Danke“ tut.

Und falls das jemandem zu oldschool ist – dem werfe ich keine Birne an den Kopf. Aber vielleicht einen Blick. Einen, der sagt: Ich wünsche mir ein bisschen mehr gegenseitigen Anstand. Nicht, weil ich’s fühle – sondern weil ich’s wichtig finde.

Masken, Macht und Milliarden: Ein politisches Vermächtnis des Jens Spahn?

Unterstelltes Motiv: Held der Pandemie wollte er werden.

Jens Spahn übernahm während der beginnenden Hochphase der Corona-Krise die Maskenbeschaffung im eigenen Ministerium – wohl aus einem Misstrauen gegenüber den üblichen Prozessen heraus. Weder dem Beschaffungsamt der Bundeswehr in Koblenz noch den erfahrenen Fachabteilungen des Hauses traute er zu, schnell und effektiv zu handeln. In der Not sei Tempo gefragt, so sein Argument – auch wenn der Preis hoch sei. Sehr hoch, wie sich zeigen sollte.

Das Misstrauen gegenüber dem Beschaffungsamt in Koblenz kann ich nachvollziehen.

Misstrauen als Regierungsmethode

Spahns Begründung wirkte in der pandemischen Ausnahmelage nachvollziehbar: Die etablierten Verfahren seien zu träge, bürokratisch, ineffizient. Man habe schließlich Leben retten müssen. Der Satz, der aus dieser Zeit hängen geblieben ist, lautet:

„Wenn das Angebot von jemand kommt, den man kennt und einschätzen kann, funktioniert es besser.“

Doch Vertrauen unter Umgehung aller Kontrollinstanzen ist ein gefährliches Spiel – besonders, wenn Milliarden fließen. Genau das passierte: Sein Ministerium organisierte ein sogenanntes Open‑House‑Verfahren, das jedem Anbieter Maskenkäufe zu einem festen Preis zusagte. Ohne Ausschreibung. Ohne klare Mengenbegrenzung. Ohne Strategie.

Eskalation in Zahlen

Am Ende standen über 11 Milliarden Euro an Bestellungen im Raum – davon etwa 7 Milliarden Euro zu viel. Rund die Hälfte aller gelieferten Masken wurde vernichtet. Nicht aus Qualitätsgründen – sondern weil sie schlicht nie gebraucht wurden.

Es wurden mehr als 22-mal so viele Masken bestellt, wie notwendig gewesen wären. Statt Krisenmanagement entstand eine Beschaffungsorgie – gesteuert aus einem Ministerium, das Fachleute ignorierte und zentrale Logistikfunktionen kurzerhand selbst übernahm.

Der Preis der politischen Hybris

Noch heute laufen etliche Gerichtsverfahren. Der Bundesrechnungshof sprach von mangelnder Kontrolle, Medien von einem beispiellosen Fall staatlichen Missmanagements. Die öffentliche Empörung ist nicht verklungen – zu frisch sind die Wunden.

War es politische Überforderung? Ein überzogener Ehrgeiz? Schlechte Kommunikation? Vielleicht alles zusammen. Fest steht: Jens Spahn verspielte mit dieser Strategie nicht nur Milliarden an Steuergeld, sondern auch seine politische Zukunft. Auf Nachsicht darf er kaum hoffen.

Denn was bleibt, ist nicht das Bild eines pragmatischen Machers in Krisenzeiten, sondern das eines Ministers, der Verantwortung zu stark auf sich zog und damit alles überforderte, was eigentlich kontrollierend wirken sollte.

Obwohl Abscheu und Ekel entflammt: Wie uns Hassrede vergiftet

Das Allerschlimmste an diesem digitalen Sumpf (siehe diese erschütternde Sammlung von Beispielen) ist: Er verunreinigt unsere Gedanken — auch jener, die halbwegs normal agieren oder dies zumindest vorhaben. Die schleichende Gefahr, von solchen permanenten Ausfällen infiziert zu werden, ist real – und dringlich genug, damit sich Soziologen und Medienwissenschaftler genauer damit auseinandersetzen. Sie tun das längst. Leider nur ohne Erfolg versprechende Ansätze. Ein Politiker hat kürzlich etwas von Lizenzerwerb für die asozialen Netzwerke gesagt. Da war aber was los! Sofort sind sich alle einig: Das ist ein Eingriff in die Meinungsfreiheit. Beurteilt selbst, was von dem Dreck, den Armin Wolf zusammengetragen hat, Grenzen des Sagbaren überschreitet. So ziemlich alles würde man meinen. Aber das findet statt. Jeden Tag und immer wieder aufs Neue. Und X, um nur ein besonders krasses Beispiel zu nennen, hat immer noch Millionen User.

Der Riss in der digitalen Gemeinschaft

Wir haben es nicht nur mit Beleidigungen zu tun: Es sind Verächtlichmachung, Hetze, offene Aufforderung zur Gewalt – täglich, anonym und ohne Konsequenzen. Wenn ein einzelner Nutzer auf X Worte wie „verlogene Drecksau“ oder „Nürnberg 2.0“ verschleudert, befeuert das nicht nur den Hass – es entmenschlicht ganz gezielt diejenigen, die sich dem widersetzen. (arminwolf.at)

Leider geht keine heilende Wirkung von Empörung, Ekel und Abscheu aus. Ich beobachte die unheilvolle Wirkung auch an mir selbst.

Der Teufelskreis der Anonymität

Was haben wir gelernt? Ob auf X, TikTok oder Facebook – die Plattformen verstecken sich hinter dem „Host-Privileg“ und verpflichten sich wenig. Selbst wenn ein eindeutiges Vergehen vorliegt, wird selten gelöscht, nicht selten bleibt der Täter anonym – völlig losgelöst von Recht oder Verantwortung. Ein Online-Hassposter kann weiter Textbomben abladen – grenzenlos und ungestraft.

Wie Gift zum Echo wird

Jetzt kommt der perfide Effekt: Wer täglich solche Texte liest, verändert sich. Empörung wird zu Aggression. In der Hoffnung, sich zu wehren, kehren „Normale“ die verbalen Geschütze um – sie wehren mit ähnlichen Worten zurück. Ironisch, dass der Hass selbst angetrieben wird über Gegenhass:

Dieser Teufelskreis verseucht Debatte und Diskurs – und bringt eine brutale Polarisierung – psychisch und sozial.

Die Wissenschaft muss hinsehen

Ich fordere nicht nur Empörung – in seiner Äußerung nichts weiter als eine Art Gratismut, den jeder kosten- und folgenlos einsetzt, sondern mehr Analyse und Selbstreflexion.

Aus soziologischer Sicht müssen wir verstehen:

– Wie funktioniert dieses stille Ansteckungsprinzip?

– Wer verändert sich zum digitalen Aggressor?

– Wie wirkt maskierte Anonymität auf unser Empfinden?

Warum fühlt sich ein normaler Mensch plötzlich ermutigt, Dinge zu sagen, die er im echten Leben nie äußern würde?

– Wo endet legitime Kritik – und wo beginnt digitaler Lynchmob?

Wo liegt die Grenze zwischen erlaubt und toxisch – und wie bringen wir sie durch Ausbildung, Gesetz oder Plattformkultur zurück ins Gleichgewicht?

Perspektiven: Was können wir tun?

Empathische Medienbildung wäre ein Anfang. Wir brauchen Schulungen, die uns für unsere Reaktionsmuster sensibilisieren: Was löst ein fremder Hass-Post bei mir aus?

Transparente Plattformpolitik ist ebenso gefragt. Gesetze wie der DSA müssen endlich wirksam umgesetzt werden. Betreiber und Regulierer dürfen sich nicht weiter hinter Worthülsen verstecken.

Das ursprüngliche Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) trat am 1. Oktober 2017 in Kraft und regelte Bußgelder für soziale Netzwerke bei strafbaren Inhalten. Es wurde bereits mehrfach überarbeitet – zuletzt am 6. Mai 2024 (Art. 29 G), was am 14. Mai 2024 in Kraft trat.

Ab Juni 2023 gewann auf EU‑Ebene der Digital Services Act (DSA) an Bedeutung. Damit gingen viele Regelungen des NetzDG auf einheitliche EU-Vorgaben über und ein Teil des NetzDG wurde obsolet – das Selbst­regulierungs-Gremium FSM stellte seine Arbeit ein.

Psychosoziale Bestandsaufnahmen könnten helfen, das Phänomen messbar zu machen. Wie viele Menschen fühlen sich durch die Sprache anderer zur Verrohung verleitet?

Und schließlich braucht es eine neue Art von Zivilcourage – nicht bloß Mut, sondern auch Medienkompetenz, Haltung und Reflexionsfähigkeit. In Schulen, Communitys, in digitalem Training.

Ein hoffnungsvoller Schluss

Wenn Wut auf Wut trifft, entsteht ein Flächenbrand. Aber wir dürfen nicht resignieren. Wenn Forscher, Plattformbetreiber, Medien, Justiz und wir alle gemeinsam hinschauen – strukturiert, systematisch, empathisch – dann können wir den giftigen Teich reinigen. Und die digitale Kultur zurückspulen in menschlichere Bahnen.

Denn: Abscheu muss uns nicht korrumpieren. Im Gegenteil: Sie kann uns Antrieb geben, einen echten, respektvollen Diskurs neu zu errichten – jenseits von Hass, jenseits von verbalen Ausfällen.

Wir könnten abwarten, bis unsere Resilienz, wie das heute so schön heißt, endlich ausgewachsen ist (gibt es das überhaupt?) und wir über den Dingen stehen. Wir könnten uns allerdings auch wehren. Wir müssen nicht den Organen der Rechtspflege trauen, die uns erzählen, dass dieser Staat nichts taugt und die Meinungsfreiheit mehr und mehr beschneiden möchte. Auf die müssen wir nicht hereinfallen und auch nicht übertrieben empfindlich reagieren, wenn die ihre juristischen Siege lautstark, beinahe frenetisch, feiern. “Compact” hätte für mich verboten bleiben können. Ein Gericht hat es anders entschieden. Damit müssen ich und all die klarkommen, die schon am nächsten vergeblichen Coup basteln, nämlich am Verbotsverfahren für die AfD.

Wolf Biermann (88)

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Wolf Biermann – 88 Jahre, Liedermacher, Poet, und unbeugsamer DDR-Dissident. 1968 schenkte er der Republik mit ‚Ermutigung‘ ein Stück Seelenbrot. 1976 wurde er ausgebürgert – ein Symbol des Aufbegehrens. Im Westen engagierte er sich weiter für Frieden, Umwelt und bürgerliche Freiheit. Bis heute prägt auch seine Stimme unseren Diskurs.

Ein Club der Bildungsbürgerlichen: Wer prägt Deutschlands Schulpolitik?

Das Bildungswesen in Deutschland funktioniert nicht besonders gut. Das war bereits vor der ersten PISA-Studie zu erkennen. Trotzdem taten schon vor 25 Jahren alle überrascht bis entsetzt. Nun dürfte vielleicht der Einfluss auf politische Entscheidungsträger selbst für Präsidenten des deutschen Lehrerverbandes nicht allzu groß sein. Trotzdem habe ich über den Kollegen ChatGPT mal die Grundüberzeugungen der Leute recherchieren lassen, die über die Jahre das Amt innehatten. Oh, ha, der politische Standpunkt aller Präsidenten war demnach konservativ.

NameAmtszeitPolitische Haltung / Schwerpunkt
Clemens Christians1969–1984Konservativ, staatsverbunden, antiextremistisch
Ernst Kiel1984–1987Pragmatistisch-konservativ, Bildung & Lehrerstatus im Fokus
Josef Kraus1987–2017Konservativ, föderal, zentralisierte Prüfungssysteme, Lehrerrechte
Heinz‑Peter Meidinger2017–2023Konservativ-ordnungsorientiert, klar pro Beamtenstatus, Ukraine, Demokratie
Stefan Düllseit 2023Konservativ-demokratisch, Sicherheit, Verfassungstreue, kritische Positionierung zur AfD


Die Präsidentenriege des Deutschen Lehrerverbandes wirkt fast wie ein kleiner Konvent der Bildungsbürgerlichen, ein Zirkel, der den klassischen Bildungskanon, den Beamtenstatus und das mehrgliedrige Schulsystem wie ein Kulturgut verteidigt. Ob das angesichts unserer Probleme im Land zielführend war? Jedenfalls nicht, wenn man die Ergebnisse betrachtet.

Ich kenne einige Lehrer, die ich als äußerst Meinungsstark beschreiben würde. Dass sie diese Meinungsstärke nicht nur qua Amt zeigen, liegt vermutlich in der Natur des Jobs. Dass die Präsidenten des Lehrerverbandes von diesem Schlage sind, sollte mich also nicht wundern.

Einen gewissen Hang zur Besserwisserei ist mir bei Leuten wie Josef Kraus aufgefallen. Rechte beschreiben ihn heute gern als streitbaren Publizisten. Nun wird er sein Handwerk als langjähriger Lehrer vertiefend erlernt haben. Ob die Schüler ihn gut gefunden haben? Die in meinen Augen eher einseitig und rechtskonservativen Texte, die er in regelmäßigen Beiträgen bei Tichys Einblick verfasst hat, lassen mich zweifeln.

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Achtung: Vorsicht beim Anschauen dieses Videos. Zwei alte Männer erzählen von der Dekadenz nachfolgender Generationen und vom “Sündenstolz” der Deutschen. Wie hat Höcke das doch gleich formuliert?

Gerade Persönlichkeiten wie Josef Kraus oder Heinz-Peter Meidinger waren und sind auch außerhalb der Bildungspolitik als konservative Stimmen präsent – mit pointierten Kommentaren etwa zur Migrationspolitik, Genderdebatte oder Cancel Culture. (Kraus schrieb z. B. Bücher wie „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt“.) Für linkes Gedankengut ist wenig Raum. Ob das als Indiz dafür gewertet werden kann, dass bildungstechnisch nichts in diesem Land vorankommt? Ich setze auf Frau Priem (CDU). Allerdings stellte die CDU in den letzten Jahrzehnten häufig die Bildungsminister.

ParteiAnzahl PeriodenZeiträume
CDU/CSU41969–1972, 2005–2009, 2009–2013, seit 2025
SPD11998–2005
FDP12021–2024
Grüne (Ampel)12022–2025 (Fam/Bildung)

Von Haus aus optimistisch stimmt mich diese Ausgangslage allerdings nicht.

Digitalisierung, Kompetenzorientierung, „Lernen ohne Noten“ – das alles wird vom Deutschen Lehrerverband oft kritisch oder skeptisch begleitet, weniger aus Technikfeindlichkeit, sondern aus Sorge um Bildungssubstanz und pädagogische Haltelinien.

800px General government total expenditure on education, 2023
800px General government total expenditure on education, 2023

Wahrscheinlich hatten sie zu wenig Einfluss auf die Bildungspolitik unseres Landes. Deshalb steckt die Karre jetzt wohl auch im Dreck. Oder ist es andersherum und das deutsche Bildungswesen steckt in der Krise, weil es solche Konservativen an wichtigen Schaltstellen gab?

Getarnte Risse im Bündnis: Der NATO-Gipfel und seine Konfliktlinien

Trump wirkte zufrieden. Immerhin hatte er mit dem König gefrühstückt. Außerdem hat er seinen “Partnern” beigebracht, wie teuer ein wehrfähiges Militär zu sein hat. Er stand damit im Einklang mit deutschen Militärexperten, die diese Frage quasi rund um die Uhr beschäftigen. Jedenfalls, wenn man deren mediale Präsenz als Maßstab nimmt.

Trump forderte aus dem hohlen Bauch heraus 5 % des jeweiligen BIP der NATO-Mitgliedsländer und die Führer der freien Welt folgen ihm. Wer hätte mit diesem Ergebnis angesichts dieser hingebungsvollen Arschkriecherei der “Partner” rechnen können?

Der unterwürfige Stil mag im Umgang mit einem egoistischen Präsidenten angebracht sein, doch gerade diese Notwendigkeit offenbart eine Brüchigkeit der transatlantischen Einheit. Trumps unverbindliche Launenhaftigkeit ist kein unbedeutender Charakterzug, der sich mit Schmeicheleien in den Griff bekommen ließe. Sie ist Ausdruck seiner Unfähigkeit, sich echte Partnerschaften auf Gegenseitigkeit zwischen Staaten vorzustellen. Er betrachtet andere Nato-Mitglieder als Vasallen und fühlt sich ihnen gegenüber nicht dauerhaft verpflichtet. Er empfindet weder Zuneigung noch Respekt für die Demokratie und fühlt sich in der Gesellschaft von Despoten wohl. Doch er verfügt auch über die militärische Macht, auf die die Sicherheit der europäischen Demokratien angewiesen ist und die auch noch eine Zeit lang angewiesen sein wird.

Quelle – The Guardian

Der NATO-Gipfel in Den Haag war von großer symbolischer Strahlkraft (so sollte es sein, nicht nur, wenn es nach Rutte ging) – und von nicht minder großen inhaltlichen Spannungen geprägt. Hinter der Fassade der Einigkeit brodelte es. Und wie so oft in diplomatischen Kreisen geschieht das Brodeln leise, aber mit langfristiger Sprengkraft. Wer weiß schon, was aus den Zusagen in den nächsten Jahren wird? Deutschland ist jedenfalls in den Augen Trumps der Musterschüler! Wir wollen schon 2029 soweit sein, dass wir den Spielraum unseres Jahresbudgets so einschränken, dass heute vermutlich noch niemand weiß, wo diese damit allokierten Finanzmittel sonst wo fehlen werden.

Spanischer Widerstand gegen 5-Prozent-Ziel

Die spektakulärste Verweigerung kam aus Madrid. Ja, diese Sozialisten. Trump droht, die Spanier zeigen sich (noch) unbeeindruckt. Spanien lehnt das angestrebte Ziel ab, bis 2035 fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Verteidigung zu stecken. Die Sorge um soziale Gerechtigkeit und ökonomische Stabilität wiegt dort offenbar schwerer als das Prinzip Bündnistreue. Auch Belgien und die Slowakei äußerten Zurückhaltung – aus haushaltspolitischem Kalkül.

Osteuropa drängt, Westen zaudert

Während die baltischen Staaten, Polen und Dänemark eine raschere Umsetzung fordern, mahnt insbesondere Deutschland zur Vorsicht. Der Graben zwischen denen, die an der Frontlinie Russlands leben, und jenen, die auf Diplomatie setzen, ist nicht neu – aber tiefer denn je.

Analyse von Politico Europe

Ukraine bleibt Randfigur – zum Ärger Selenskyjs

Die Enttäuschung des ukrainischen Präsidenten war mit Händen zu greifen. Die NATO signalisiert erneut keine klare Perspektive auf eine Mitgliedschaft. Stattdessen: vage Formulierungen, Solidaritätsrhetorik und Waffenhilfen nach Kassenlage.

Die Trump-Karte: Artikel 5 unter Vorbehalt?

Donald Trump, im Schlepptau des Wahlkampfes, sorgte mit alten Andeutungen für neue Unsicherheit. Die NATO versprach zwar erneut, Artikel 5 ernst zu nehmen – doch einige europäische Hauptstädte verließen den Gipfel mit einem flauen Gefühl im Magen. Was, wenn es nur Worte bleiben?

Hintergrund bei Reuters

Iran und die Gratwanderung der Worte

Ein weiteres Spannungsfeld bildete der Umgang mit dem Iran. Während Trump mit militärischen Erfolgen prahlte, wählten viele NATO-Partner vorsichtigere Formulierungen – aus Angst, den geopolitischen Flächenbrand weiter zu schüren.

Kommentar bei The Guardian

Strategische Autonomie: Wunsch oder Notwendigkeit?

Frankreich, Deutschland und die EU-Kommission drängen auf mehr Unabhängigkeit von den USA. Nicht aus Trotz, sondern aus wachsender Einsicht: Die transatlantische Verlässlichkeit ist keine Konstante mehr, sondern ein politischer Glücksfall – mit Ablaufdatum.

Gemeinsam, aber nicht geeint

Der NATO-Gipfel war mehr Ausdruck geopolitischer Unsicherheit als geschlossener Stärke. Die Uneinigkeit über Geld, Strategie und Haltung zu neuen wie alten Feinden zeigt: Die NATO steht – aber nicht immer auf festem Grund.

Weiterlesen:

Hier die Themen, über die man sich bewusst nicht auseinandergesetzt hat, obwohl der Dissens offenkundig ist.

ThemaHauptdissensBetroffene Länder
Verteidigungsbudget (5 %)España verweigert ZustimmungSpanien, + Belgien, Slowakei
ZeitplanEher 2035 vs. schneller UmstiegBaltische Staaten, Polen, Dänemark
UkraineBloße Partnerrolle – keine MitgliedsschaftUkraine, EU-Staaten
Artikel 5Zweifel an Washingtons ErnstUSA, europäische MAP
IranPolitische Unterstützung umstrittenIran, USA, Nato-Wording
RusslandStrategisches Signal fehltPolen, Baltikum
Strategische AutonomieDebatte über US‑UnabhängigkeitDeutschland, Frankreich, EU

„Bürgerlich“ voran. Die Union und ihr Kurs der Konfrontation

Was macht eine Opposition, die sich ihrer baldigen Rückkehr an die Macht gewiss war? Sie schärft ihr Profil. Zwei Oppositionsparteien, mit einem Hang zu extremen Positionen, werden dem Land in den nächsten Jahren wohl noch zu schaffen machen. Linke und AfD reiben sich an der Regierung, bis die Funken fliegen – schätze, die Demokratie wird leiden. Dass sich die Rechten darüber freuen, dass Faesers Entscheidung zum Compact-Verbot vom Bundesverwaltungsgericht zurückgenommen wurde, passt zur Lage. Ich bin gespannt, ob sich nun überhaupt noch jemand an ein AfD-Verbot herantraut.

Die Union hat sich im Schatten der Ampel neu sortiert – rhetorisch. Inhaltlich kam in meinen Augen eher wenig. Aber immerhin – es keimte Hoffnung, dass die Konservativen es besser machen als die Ampel-Regierung mit dem Störenfried erster Güte, namens FDP. In fast jedem Politikfeld erhob die Union den Zeigefinger: mal als Mahnerin, mal als Verteidigerin des gesunden Menschenverstands. Doch was steckt hinter den Worten von Friedrich Merz, Jens Spahn, Thorsten Frei, Johann Wadephul und Co.? Eine Sorge um das Land? Oder doch eher ein Katalog altbekannter Antworten auf neue Herausforderungen?

Wirtschaft: Die Ordnungspolitik als letzte Bastion

Der Begriff „Haushaltsdisziplin“ klingt wie aus einem anderen Jahrhundert. Die Union trägt ihn vor sich her, als sei er eine Monstranz im Krisenprozessionszug. Die Schuldenbremse? Sakrosankt. Sondervermögen? Teufelswerk. Investitionen in Digitalisierung oder Transformation? Ja, aber bitte ohne Umwege und mit spitzer Feder gerechnet. Wie sehr wurden in den paar Monaten seit der Machtübernahme solche Grundüberzeugungen geschrumpft? Egal! Mit dieser Haltung hat die Union die Ampel vor die Wand fahren lassen.

Die Kritik an der Ampel war NIE unbegründet – das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat ihre Finanzakrobatik entlarvt. Das war bereits der Anfang vom Ende. Doch was bietet die Union als Alternative? Steuererleichterungen für Unternehmen und Bürokratieabbau – nicht neu, nicht konkret, nicht visionär. Der Vorwurf bleibt: Man will zurück in eine Vergangenheit, die so nicht mehr existiert. Und dann dieser Schuldenaufbau, der insbesondere mit der Angst vor dem Russen begründet wird.

Migration: Ordnung über Humanität

Kein anderes Thema lässt die Union so leidenschaftlich auftreten wie die Migrationspolitik. Von „Kontrollverlust“ ist die Rede, von „Anreizsystemen“, die Menschen ins Land lockten. Die Ampel habe den Überblick verloren. Die Union fordert dagegen mehr Abschiebungen, Asylzentren in Drittstaaten, eine restriktive Einwanderungspolitik. Dass sie damit den rechten Rändern die Tür aufstößt, nimmt sie billigend in Kauf – oder kalkuliert es gar ein. Wie weit sind wir gekommen?

Besonders verstörend finde ich den Plan, die finanzielle Unterstützung privater Seenotretter einzustellen. Außenminister Johann Wadephul verteidigt die Maßnahme. Wörtlich:

Deutschland bleibe „immer der Humanität verpflichtet und wird auch immer sich an allen Plätzen, wo Menschen leiden, dafür einsetzen“.

Quelle

Das ist nicht nur kaltschnäuzig, sondern zynisch. Es geht hier um Menschenleben. Um Ertrinkende, die keine Stimme haben – außer derer, die sie retten. Die Kriminalisierung zivilgesellschaftlichen Engagements auf hoher See ist ein Armutszeugnis für jede Partei, die sich christlich nennt.

Was bedeutet es, wenn ein Staat nicht mehr willens ist, das Retten von Menschen aus dem Mittelmeer zu unterstützen? Es bedeutet, dass politische Härte über Moral gestellt wird. Dass Bilder vom Sterben im Mittelmeer offenbar weniger stören als die Vorstellung von „Pull-Faktoren“. Diese Debatte ist mehr als Symbolpolitik – sie zeigt, in welchem Geist konservative Migrationspolitik derzeit formuliert wird. Im Kampf gegen die Migration ist jedes Mittel recht. Auch, wenn die Begründung lautet, dass man durch diese Maßnahme etwas gegen professionelle Schlepperbanden unternehmen will. Man lässt Menschen bewusst sterben, weil man auch durch die Austrocknung finanzieller Ressourcen der Helfer Abschreckung erzeugen will. Was für eine Scheiße!

Klimapolitik: Gegen das „Heizungschaos“ – aber wofür?

Im Streit um das Gebäudeenergiegesetz hat sich die Union als „Anwalt der Eigentümer“ in Szene gesetzt. Gegen grüne „Verbote“, gegen Habecks „Heizungs-Hammer“. Dass sie selbst unter Merkel ein ähnliches Gesetz mitgetragen hätte? Schnee von gestern.

Statt echter Alternativen hört man nur Schlagworte: „Technologieoffenheit“, „realistische Übergänge“, „Bezahlbarkeit“. Alles richtig – aber auch alles unkonkret. Der konservative Kurs pendelt zwischen fossilem Beharren und grünem Misstrauen. Wer nach vorn will, schaut anders aus.

Bürgergeld: Fordern statt fördern

Die Ampel wollte mit dem Bürgergeld einen neuen Weg gehen. Die Union ruft zurück nach Hartz IV. In der jüngsten Debatte um Anpassungen an den Arbeitsmarkt tönt es wieder: Wer arbeiten könne, solle das auch tun – notfalls mit Zwang. Leistung müsse sich lohnen. Diese Mantren klingen bekannt – sie erinnern an 2005, nicht an 2025.

Der Blick der Union auf Armut ist technokratisch: Wer nicht leistet, wird sanktioniert. Die gesellschaftlichen Ursachen von Erwerbslosigkeit, prekärer Beschäftigung oder Bildungsferne bleiben im Schatten dieser Debatte.

Gesellschaft: Von Leitkultur bis „Wokeness“

Die Union tritt auch als Kulturkämpferin auf. Gendergerechte Sprache? Ein Irrweg. Diversität? Eine „Verirrung der Linken“. Die CDU pflegt den Mythos einer „bürgerlichen Normalität“, die man gegen gesellschaftlichen Wandel verteidigen müsse. Diese Tonlage zielt nicht auf Integration, sondern auf Polarisierung.

Rückwärtsgewandt mit gespitztem Zahn

Die Union präsentiert sich als letzte Bastion der Vernunft – doch ihre Rezepte sind meist Rezidive. Statt Antworten auf die großen Fragen der Zukunft liefert sie Abgrenzung, Moralisierung und technokratische Kälte.

Die Forderung, privaten Seenotrettern die Mittel zu entziehen, ist nicht nur ein Skandal. Sie ist ein Symptom. Ein Hinweis darauf, wie sehr sich eine Partei verrenken kann, um „bürgerliche Härte“ als Tugend zu verkaufen – auch wenn dabei Menschen auf der Strecke bleiben.

Der Preis solcher Politik? Eine Gesellschaft, die sich daran gewöhnt, dass Moral als Schwäche gilt – und Menschlichkeit als Gefahr.

Ausländische Erntehelfer sollen mit 80 % des Mindestlohnes abgespeist werden.

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500 gr. Erdbeeren bekommt man in diesem Jahr für ungefähr 4,90 €. Man kann sie auch selbst pflücken, wenn man ein Feld in der Nähe findet. Dann ist der Preis niedriger. Manche sind dann besonders clever und schlagen sich beim Pflücken den Bauch voll. Dass die anbietenden Bauern diese Methode nicht so töfte finden, verstehe ich.

Was ich nicht verstehe

Der Bauernverbandspräsident hat gefordert, dass der Mindestlohn für die überwiegend ausländischen Erntehelfer reduziert werden sollte. Das findest du im Hinblick auf die wohl bevorstehende Erhöhung des Mindestlohnes von 12,82 auf 15 €verständlich? Herr Rukwied sieht in der Absenkung des Mindestlohnes auf 80 % des aktuellen Wertes eine notwendige Maßnahme, um die Wettbewerbsfähigkeit unsere Bauern zu sichern. Ich will jetzt nicht ausfallend werden. Aber ist das dein Ernst oder doch nur der Franz, der die Kappe von Ernst aufhat?

Ich will mal so sagen: Dann esst eure Erdbeeren selbst.

Auge in Auge

Krabbenspinnen lauern oft gut getarnt in Blüten – genau dort, wo Schmetterlinge (und andere Insekten) auf Nahrungssuche sind. Wenn sich ein Schmetterling auf die Blüte setzt, um Nektar zu trinken, schnappt die Spinne blitzschnell zu – mit ihren kräftigen Vorderbeinen und Giftklauen. Sie lähmt ihre Beute und saugt sie dann aus.

Das Besondere:

Krabbenspinnen bauen keine Netze. Sie jagen „zu Fuß“ – und ihre Tarnung ist so perfekt, dass sie sich farblich sogar an manche Blüten anpassen können (z. B. gelb oder weiß). Das macht sie zu Meisterinnen des Überraschungsangriffs.

Worte, die verbinden – Gedanken gegen die gesellschaftliche Spaltung, unter der IMHO viele Menschen leiden

Es heißt, alles sei schon gesagt worden. Alle Sätze, alle Gedanken, alle Mahnungen. Ich erwähnte das in den letzten Tagen und bezog mich auf die Eskalationsbereitschaft, die wir in manchen Ländern derzeit erleben.

Als hätte die Menschheit das Vokabular ihrer Vernunft bereits erschöpft. Vielleicht ist es genau dieses Gefühl – der Eindruck, im Lärm der Wiederholungen nichts Neues mehr sagen zu können – das unsere Diplomatie entwertet hat. Worte wirken schal, wenn niemand mehr zuhören mag.

Und während die Welt komplexer wird, wird der Ton rauer. Die Schärfe in den Diskussionen ist kein Nebengeräusch mehr – sie ist zum Markenkern unserer Auseinandersetzungen geworden. Wo früher Streit ein Mittel zur Klärung war, ist heute oft das Ziel: Spaltung. Nicht das gemeinsame Ringen, sondern das gegenseitige Überbieten im Moralisieren, Abwerten, Bloßstellen.

Wie konnte es so weit kommen, dass selbst Familien an politischen Meinungsverschiedenheiten zerbrechen? Dass Freundschaften enden, weil die Wahl der Worte die Wahl des Menschen in Frage stellt? Vielleicht, weil wir Sprache nur noch als Waffe benutzen – nicht mehr als Brücke.

Doch Worte sind beides. Sie können verletzen – und heilen. Sie können Mauern bauen – und Wege bahnen. Sie sind nicht schuld an der Spaltung. Aber sie sind ihr Werkzeug.

Was wir tun können – ohne laut zu werden

Wie also gegensteuern, ohne gleich wieder eine neue Lautstärke zu erzeugen? Ein paar Ideen, leise, aber nicht machtlos:

1. Sprache entgiften

Was wäre, wenn wir unsere Streitkultur mit einem Korrektiv versähen – nicht durch Verbote, sondern durch Haltung? Wenn wir uns darin übten, Kritik zu üben, ohne zu entwerten? Wenn wir „Ich sehe das anders“ sagen, statt „Wie kann man nur so denken?“?

2. Zuhören üben

Zuhören ist vielleicht die meistunterschätzte Kulturtechnik unserer Zeit. Wer zuhört, gewinnt. Nicht die Oberhand, sondern Verständnis. Vielleicht sogar einen Gedanken, den man so nicht kannte. Zuhören ist kein Rückzug, sondern ein mutiger Akt der Zuwendung.

3. Medienverantwortung

Journalismus ist kein Boxkampf. Die Sucht nach Zuspitzung und Skandalisierung vergiftet das Klima, das wir atmen. Wir brauchen Medien, die Brücken bauen, nicht nur Klicks. Narrative, die Komplexität nicht für Quote opfern.

4. Räume schaffen

Diskurs braucht Orte. Analoge wie digitale. Plattformen, auf denen Menschen nicht nur recht haben, sondern auch wachsen dürfen. In denen Fehler erlaubt sind. Wo Reue nicht Schwäche, sondern Reife ist. Die Demokratie lebt nicht vom perfekten Argument, sondern vom Geduldsspiel.

5. Die Schulen des Herzens

Wenn wir von Bildung sprechen, meinen wir oft nur Wissen. Was wir aber brauchen, ist auch: Wärme. Respekt. Die Kunst, sich in andere hineinzuversetzen. Schulen sollten Orte sein, in denen Streitkultur genauso gelehrt wird wie Algebra.

Ein Plädoyer für die zweite Stimme

Es ist nicht schlimm, sich zu streiten. Es ist schlimm, es nicht mehr zu können. Oder nicht mehr zu wollen. Wir sollten lernen, unsere erste Stimme – die des Reflexes – von der zweiten zu unterscheiden: der Stimme der Reflexion.

Denn wer nur mit dem ersten Impuls spricht, spricht selten in ganzen Sätzen. Aber wir brauchen ganze Sätze. Wir brauchen das Halten von Pausen. Das Innehalten. Den Mut, nicht immer das letzte Wort zu haben.

Die Welt ist nicht fertig erzählt. Und auch wenn schon vieles gesagt wurde – vielleicht ist noch nicht alles verstanden. In diesem Sinne: Lasst uns weitersprechen. Mit Achtung. Und mit Hoffnung.

Mahnen reicht nicht – Wie Sprache zur Beihilfe wird

Kommentar zur Debatte über Israels Gaza-Offensive und die Rolle Deutschlands

wir mahnen einen menschenwürdigen Umgang mit den Menschen im Gazastreifen an, vor allem mit den Frauen, den Kindern und den Älteren.

sagte Merz – während von der israelischen Armee Menschen beim Kampf um Essen getötet werden.

Die Sendung im Überblick

In einer aktuellen politischen Diskussionssendung trafen der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter1 und die Nahost-Expertin Kristin Helberg aufeinander. Thema war der Krieg in Gaza – insbesondere die Frage, inwieweit die israelische Militärstrategie gegen die Hamas noch mit dem Völkerrecht vereinbar ist, und welche Verantwortung Deutschland trägt. Während Helberg mit klaren, dokumentierten Aussagen über die katastrophale humanitäre Lage aufwartete, bemühte sich Kiesewetter um Verständnis für Israels Handeln – bis hin zur Relativierung von zivilen Opfern.

Helbergs Position: Faktische Anklage – ohne ideologische Schlagseite

Kristin Helberg schilderte detailliert und gut belegt die dramatische Lage im Gazastreifen: Hunger, gezielte Tötungen von Kindern, die Zerstörung von Krankenhäusern, Schulen und Universitäten. Sie warf der israelischen Regierung vor, nicht nur gegen die Hamas zu kämpfen, sondern die gesamte palästinensische Zivilbevölkerung zu bestrafen. Die These einer ethnischen Säuberung sei angesichts der dokumentierten Strategie, Menschen in den Süden zu drängen und zugleich Hilfslieferungen zu blockieren, durchaus plausibel – das sagen auch renommierte Holocaust- und Völkerrechtsforscher.

Zentraler Punkt: Die Hamas ist ein brutales Regime – aber Israel handelt längst nicht mehr nur gegen die Hamas. Vielmehr wird kollektive Bestrafung betrieben, so Helberg. Humanitäre Hilfe wird als Kriegsinstrument missbraucht. Kinder sterben täglich – nicht als Kollateralschäden, sondern als kalkulierter Preis.

„Israel tötet statistisch eine Schulklasse Kinder – jeden Tag.“

Kiesewetters Position: Verteidigung mit doppeltem Maß

Roderich Kiesewetter hingegen blieb seiner Rolle innerhalb der CDU treu – und rechtfertigte Israels Vorgehen mit dem Verweis auf die Hamas, den Iran, die eigene Bedrohungslage und das Recht auf Selbstverteidigung. Auffällig war, dass Kiesewetter Begriffe wie „Kriegsverbrechen“ oder gar „Verhältnismäßigkeit“ im Zusammenhang mit Israels Vorgehen strikt vermied.

Er wiederholte das israelische Narrativ: Die Hamas benutze die Bevölkerung als Schutzschild. Wer hungert oder stirbt, ist letztlich Opfer der Hamas, nicht der israelischen Armee. Selbst die gezielte Tötung von 30 bis 40 Unbeteiligten zur Ausschaltung eines Hamas-Mitglieds rechtfertigte Kiesewetter erneut – trotz Nachfrage und Konfrontation mit völkerrechtlichen Grundsätzen.

„Ich stehe zu dieser Einschätzung.“

Kiesewetter gestand zwar ein, dass Israel mit einer rechtsradikalen Regierung agiert, sah darin aber keinen Anlass, die Waffenlieferungen Deutschlands infrage zu stellen oder gar politischen Druck aufzubauen. Auch der Begriff „Genozid“ sei für ihn nicht zutreffend – entgegen der Einschätzung vieler Experten.

Der sprachliche Offenbarungseid

Die Sendung offenbarte mehr als nur Meinungsverschiedenheiten. Sie zeigte, wie Sprachpolitik zur politischen Strategie wird. Während Helberg schmerzhaft konkret war, verlor sich Kiesewetter in diplomatischen Worthülsen und wohlfeilen Appellen. Die Sprachlosigkeit deutscher Außenpolitik spiegelt sich in Bundeskanzler Merz’ Satz:

„Wir mahnen einen menschenwürdigen Umgang mit den Menschen in Gaza an.“

Eine Mahnung, während Kinder mit Kopfschüssen getötet werden? Während Minister Netanyahus Koalitionspartner zur „Vernichtung Gazas“ aufrufen? Während Menschen im Kampf um Brot erschossen werden?

Diese Sprache ist keine Mahnung – sie ist Beschwichtigung. Sie ist Beihilfe durch Wegschauen. Und sie ist Ausdruck einer politischen Feigheit, die sich nicht traut, israelische Kriegsverbrechen klar zu benennen.

Die moralische Verwahrlosung der deutschen Debatte

Die Sendung zeigte ein zutiefst gespaltenes Bild deutscher Politik und Gesellschaft: Auf der einen Seite eine Stimme wie Helbergs, faktenbasiert, mutig, moralisch unmissverständlich. Auf der anderen Seite ein Vertreter einer christdemokratischen Außenpolitik, die sich hinter Schuld und Staatsräson verschanzt – und dabei Menschlichkeit vergisst.

Es reicht nicht, zu „mahnen“. Wenn 15.000 Kinder getötet werden, wenn Hunger als Kriegswaffe eingesetzt wird, wenn Krankenhäuser bombardiert und Ärzte mundtot gemacht werden, dann ist Mahnen nichts anderes als Schweigen zur Unzeit.

  1. Seit dem 24. März 2022 ist er stellvertretender Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums. Am 4. Juni 2025 wurde bekannt, dass Kiesewetter dem Parlamentarischen Kontrollgremium nicht mehr angehören wird, was ein Wunsch des Bundeskanzlers Friedrich Merz gewesen sein soll. Kiesewetter erklärte dazu: „Das ist der Preis, wenn man eine Haltung hat.“ Stattdessen soll Kiesewetter Obmann im Auswärtigem Ausschuss werden. ↩︎
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