Ulrich Reitz’ verzerrte Rentendebatte: Unwille zur echten Auseinandersetzung

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von Horst Schulte

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Ulrich Reitz, Focus, stilisiert sich in seiner Video-Kolumne als Verteidiger des „Äquivalenzprinzips“ gegen angeblich radikale Ökonomen wie Marcel Fratzscher, verfehlt aber den Kern von Fratzschers Argumentation und ersetzt Analyse durch Alarmismus.​

Falscher Alarm um das Äquivalenzprinzip

Reitz suggeriert, eine künftige Rentenkommission werde das Äquivalenzprinzip „außer Kraft setzen“, als sei dies eine willkürliche Enteignungsstrategie zulasten der „arbeitenden Bevölkerung“. Tatsächlich kritisiert Fratzscher das Prinzip, weil es im Zusammenspiel mit ungleichen Lebenserwartungen dazu führt, dass die gesetzliche Rente von unten nach oben umverteilt: Menschen mit niedrigen Einkommen zahlen ein Leben lang ein, sterben aber früher und beziehen deutlich kürzer Rente. Indem Reitz diese empirische Schieflage unterschlägt, verteidigt er eine vermeintliche „Leistungsgerechtigkeit“, die real bereits systematisch die Schwächeren benachteiligt.​

Statt sich mit dieser Schieflage auseinanderzusetzen, reduziert Reitz die Debatte auf ein Schwarz-Weiß-Schema: hier die fleißigen Beitragszahler, dort „die Politik“, die angeblich das Äquivalenzprinzip „abschießen“ will. Dass das Bundesverfassungsgericht das Prinzip lediglich als Leitplanke, nicht als starres Dogma definiert und sozialpolitische Korrekturen ausdrücklich zulässt, blendet er vollständig aus. So entsteht eine Dramatisierung, die politisch mobilisiert, aber sachlich irreführend ist.​

Fratzschers Vorschläge statt Reitz’ Karikatur

Konkret schlägt Fratzscher mit seiner „Rentenpauschale“ eine moderate Umverteilungsmechanik vor: Ein fixer Zuschlag – etwa 50 EUR – für alle Rentner, der prozentual vor allem kleine Renten stärkt, während sehr hohe Renten relativ weniger gewinnen. Finanziert werden soll dies im Kern durch etwas geringere prozentuale Steigerungen hoher Renten, nicht durch eine zusätzliche Belastung der jüngeren Beitragszahler – eine Frage, über die man streiten kann, die aber jedenfalls präzise diskutiert werden müsste. Genau diese Differenzierung lässt Reitz weg und reduziert Fratzschers Ansatz auf eine pauschale Attacke gegen das System, statt eine nüchterne Debatte darüber zu führen, ob eine zeitlich befristete, zielgenaue Umverteilung innerhalb der Rentnerkohorte ein sinnvoller Übergangsschritt sein könnte.​

Selbst Kritiker von Fratzschers Pauschale – etwa Sebastian Dullien, Axel Börsch-Supan oder Bernd Raffelhüschen – argumentieren deutlich sachlicher, bemängeln Finanzierung, Zielgenauigkeit und Systembruch und setzen sich inhaltlich mit dem Vorschlag auseinander. Reitz übernimmt zwar Teile dieser Kritik, baut sie aber in ein Narrativ ein, in dem jeder Eingriff in die strikte 1:1-Kopplung von Beitrag und Leistung als Tabubruch erscheint, ohne zu erwähnen, dass gerade diese strikte Kopplung die dokumentierte Umverteilung von Arm zu Reich stabilisiert. ​

Ignorierte Generationengerechtigkeit

Fratzschers zentrale These lautet, dass das heutige System weder sozial noch generationengerecht ist, weil es Lasten unsystematisch verteilt und die demografische Entwicklung verdrängt. Er fordert eine Kombination aus:​

  • stärkeren Anreizen für längeres Arbeiten und flexibleren Renteneintritt,
  • gezielten Entlastungen für niedrige Einkommen und
  • behutsamer Aufweichung des Äquivalenzprinzips, um extreme Ungleichheiten abzufedern.​

Reitz dagegen präsentiert die Rentenpolitik vor allem als Machtspiel von „Rentnerparteien“ und blendet aus, dass genau die von ihm verteidigten Strukturen maßgeblich dazu beitragen, dass die Kosten der heutigen Versprechen bei den Jüngeren landen. Indem er Fratzscher als Teil eines vermeintlichen „Angriffs“ auf Beitragszahler darstellt, verschiebt er die Debatte von der Frage, wer heute tatsächlich verliert, zu einer gefühlten Bedrohung, die politisch nützlich, aber analytisch schwach ist.​

Selektive Systemkritik und blinde Flecken

Bemerkenswert ist, wie selektiv Reitz mit Risiken umgeht: Teure Energiepolitik und steigende Sozialbeiträge werden von ihm zurecht als Standortproblem benannt, doch die strukturelle Umverteilung im Rentensystem und die fehlende Einbeziehung von Beamten und vielen Selbstständigen bleiben in seiner Kolumne Randnotizen oder werden gar nicht adressiert. Fratzschers Vorschläge – einschließlich der Forderung, Altersarmut als gesamtgesellschaftliches Problem und nicht allein als Aufgabe der gesetzlichen Rentenversicherung zu behandeln – würden gerade diese Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen systematisch in den Blick nehmen. Indem Reitz diese Ansätze in eine einfache Gut-Böse-Erzählung presst, stabilisiert er politisch bequeme Illusionen, statt zur dringend nötigen, unbequemen Sachdebatte über die Zukunft des Systems beizutragen.​

Wer Rentenpolitik, Generationengerechtigkeit und Wettbewerbsfähigkeit ernsthaft diskutieren will, muss sich mit Vorschlägen wie der Rentenpauschale und der Reform des Äquivalenzprinzips auseinandersetzen. Genau diese wichtige Debatte vermeidet der Focus-Chefkorrespondent, indem er Vorschläge des eher progressiven Lagers und die von Marcel Fratzscher nicht fair prüft, sondern sie als Angstmacher darstellt und ewig destruktiv kommentiert.


Horst Schulte

Herausgeber, Blogger, Amateurfotograf

Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe auf dem Land.

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