US-Sanktionen gegen ICC-Richter: Wie Washington den Rechtsstaat stranguliert

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von Horst Schulte

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US-Sanktionen gegen Richter: Wenn Recht plötzlich bestraft wird

Die Konstellation ist so bizarr wie entlarvend: Vier Juristinnen und Juristen am Internationalen Strafgerichtshof – Kimberly Prost (Kanada), Nicolas Guillou (Frankreich), Nazhat Shameem Khan (Fidschi) und Mame Mandiaye Niang (Senegal) – wurden im Juni d.Js. von den USA auf die Sanktionsliste gesetzt, weil sie genau das tun, wofür Europa den ICC geschaffen hat: Kriegsverbrechen verfolgen, Haftbefehle erlassen, Ermittlungen auch gegen westliche Machtzentren zulassen. Im Hintergrund stehen der Haftbefehl gegen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu und den früheren Verteidigungsminister Yoav Gallant wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen in Gaza sowie die Entscheidung, US-Verbrechen in Afghanistan prinzipiell justiziabel zu machen. Dass ausgerechnet dieser Kernauftrag des Völkerrechts nun zum Auslöser massiver persönlicher Sanktionen wird, markiert eine monströse Abnormität US-amerikanischer Kumpanei mit Israel – und ein offenes Misstrauensvotum gegenüber der Idee einer unabhängigen Justiz.​

Was den vier Personen konkret widerfährt, ist keine symbolische Rüge, sondern ein am Alltag ansetzender Vernichtungsversuch. Laut US-Außen- und Finanzministerium werden Prost, Guillou, Khan und Niang als „Specially Designated Nationals“ geführt, was einer globalen Finanz‑Quarantäne gleichkommt: Vermögenswerte in US‑Zuständigkeit werden eingefroren, Geschäfte mit US‑Personen und ‑Unternehmen sind verboten, Transaktionen in US‑Dollar oder über US‑basierte Finanzinfrastruktur werden faktisch blockiert. Für die Betroffenen bedeutet das: keine Kooperation mit großen US‑Plattformen, extreme Hürden bei Flug‑ und Hotelbuchungen und ein permanentes Risiko, dass auch nicht‑amerikanische Banken aus Angst vor „Compliance‑Verstößen“ Konten schließen oder Transaktionen verweigern.​

Am drastischsten lässt sich das am Fall des französischen Richters Nicolas Guillou ablesen. Er war an der Vorverfahrenskammer beteiligt, die die Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant autorisierte, und wird nun zum Testfall, wie tief US‑Sanktionsrecht in europäische Lebenswirklichkeit hineinregiert. In Interviews berichtet Guillou, dass er von einem Tag auf den anderen aus weiten Teilen des globalen Bankensystems herauskatapultiert wurde: Konten bei oder in Verbindung mit US‑Unternehmen wie Amazon, Airbnb oder PayPal wurden geschlossen, Online‑Buchungen etwa bei Expedia storniert, Kreditkarten von Visa, Mastercard und American Express sind ihm de facto nicht mehr zugänglich. Noch gravierender ist, dass selbst europäische Banken bei Überweisungen zurückschrecken, sobald eine Dollar‑Clearing‑Kette oder ein US‑Dienstleister im Hintergrund auftaucht – in der Praxis eine fast totale finanzielle Isolation für jemanden, der weder Waffen verkauft noch Geld wäscht, sondern Recht spricht.​

Monströse Abnormität: US‑Kumpanei gegen den Rechtsstaat

Man muss sich klar machen, wofür diese vier Menschen zur Zielscheibe gemacht werden. Kimberly Prost wird sanktioniert, weil sie als ICC‑Richterin Ermittlungen zu mutmaßlichen Verbrechen von US‑Personal in Afghanistan mit ermöglicht hat; Guillou, weil er den Haftbefehl gegen Netanjahu und Gallant mitgetragen hat; Khan und Niang, weil sie als stellvertretende Ankläger die Linie des Gerichts gegenüber Israel fortführen. Die Botschaft aus Washington lautet: Wer es wagt, US‑Soldaten oder die politische Führung Israels unter den Maßstab internationalen Rechts zu stellen, wird persönlich ökonomisch bestraft – ganz gleich, ob er oder sie Europäer ist, in Den Haag arbeitet und Entscheidungen auf Grundlage eines von der EU mitgetragenen Statuts trifft.​

Für Europa ist diese Entwicklung doppelt beschämend. Zum einen, weil der ICC als Kind europäischer Rechtskultur gilt, von EU‑Staaten politisch und finanziell getragen wird und explizit jene Lücke schließen sollte, die entsteht, wenn mächtige Staaten ihre eigenen Kriegsverbrechen nicht verfolgen. Zum anderen, weil Brüssel und die Hauptstädte bislang nicht bereit oder in der Lage waren, den betroffenen Richterinnen und Richtern effektiven Schutz zu bieten – etwa durch europäische Gegenmaßnahmen, Schutzkonten oder eine gemeinsame Absicherung gegen US‑Sanktionsrecht. Dass ein französischer ICC‑Richter in Frankreich und den Niederlanden heute kaum noch normale Bankgeschäfte tätigen kann, weil in Washington ein Präsident mit Israel‑Lobby im Rücken sein Missfallen über ein Haftmandat artikuliert, ist ein Lehrstück darüber, wie wenig ernst die „regelbasierte Ordnung“ genommen wird, sobald ein Verbündeter betroffen ist.​

Das eigentliche Skandalöse an dieser monströsen Abnormität ist jedoch die Normalisierung der Kumpanei. In den USA wird der Sanktionskurs mit parteiübergreifenden Mehrheiten getragen, die Maßnahme als „Schutz der eigenen Soldaten“ und „Verteidigung Israels gegen eine feindliche, illegitime Institution“ verkauft; in Israel werden die Strafmaßnahmen offen bejubelt, in Teilen der US‑Medien wird der ICC als „Känguru‑Gericht“ verspottet. Je öfter dieses Narrativ wiederholt wird, desto selbstverständlicher erscheint es, dass Recht nicht mehr universal gilt, sondern dort endet, wo die Interessen Washingtons und seiner engsten Verbündeten beginnen – und dass Richter, die das infrage stellen, zu ökonomischen Gejagten erklärt werden dürfen. Wer in dieser Konstellation noch vom „Westen als Wertegemeinschaft“ spricht, beschreibt bestenfalls ein Ideal, das gerade vor den Augen der sanktionierten Juristen Prost, Guillou, Khan und Niang demontiert wird.

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Horst Schulte

Herausgeber, Blogger, Amateurfotograf

Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe auf dem Land.

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