Die Bundesregierung hat sich gestern auf eine Reihe von Reformen geeinigt, die mehr sind als bloß politische Routine. Sie markieren einen Stimmungsumschwung, eine neue Sicht auf die Dinge. Wo in den vergangenen Jahren das Leitmotiv „Vertrauen in den Bürger“ galt, dominiert nun wieder das alte Wort von der „Pflicht“.

Das Ende des Bürgergeldes
Allen voran steht das Ende des Bürgergeldes – zumindest dem Namen nach. Es soll künftig Grundsicherung für Arbeitssuchende heißen. Eine symbolische Umbenennung, hinter der sich ein inhaltlicher Schwenk verbirgt: weniger Milde, mehr Kontrolle, mehr Gängelei.
Beim bisherigen Bürgergeld sind Sanktionen gestaffelt. Bei unentschuldigtem Nicht-Erscheinen können Jobcenter zeitweise zehn Prozent des Regelsatzes kürzen, dann 20 Prozent und schließlich 30 Prozent. Bislang mussten vorher aber Ermahnungen verschickt werden. Diese Sanktionsstufen entfallen, härtere Regeln sollen einfacher und schneller greifen: Wer zwei Termine beim Jobcenter verpasst, verliert 30 Prozent der monatlichen Leistung. Wer den dritten Termin nicht wahrnimmt, soll die Geldleistung komplett verlieren. Wenn Beziehende auch im Monat darauf nicht erscheinen, streicht das Jobcenter alle Leistungen inklusive Zahlungen für Miete und Heizung.
Künftig wird gestrichen, wer Termine versäumt. Beim zweiten Mal sinkt die Leistung um dreißig Prozent, beim dritten Mal entfällt sie ganz – auch Miete und Heizkosten. Härtefälle sollen ausgenommen bleiben, doch der Ton ist gesetzt: Wer empfängt, soll sich fügen.
Das Schonvermögen, einst gedacht als kleiner Schutz vor dem sozialen Absturz, wird gekürzt und stärker an die sogenannte „Lebensleistung“ gebunden – ein Begriff, der zugleich mahnt und bewertet. Die Botschaft ist klar: Hilfe ja, aber bitte nur für die Angepassten.
Das Märchen von den Milliarden
Was mich an diesem Vorgehen besonders irritiert, ist die Diskrepanz zwischen Ankündigung und Realität. Von den großspurigen Aussagen über ein riesiges Sparpotenzial bleibt kaum etwas übrig. CDU-Fraktionschef Frey sprach von 30 Milliarden Euro, Merz erst von zehn, dann von sechs, schließlich von fünf Milliarden.
Am Ende wird es wohl nicht einmal eine Milliarde sein, die tatsächlich eingespart wird.
Der Effekt ist also überschaubar. Und dafür all der politische Lärm? Viele Bürger werden ernüchtert feststellen, dass ihr neu entdecktes „Gerechtigkeitsgefühl“ – sorgfältig gepflegt von Springer, Boulevard und Teilen der Politik – an dieser Zahl zerbricht.
Diese Reform ist kein ökonomischer Befreiungsschlag, sondern ein symbolisches Muskelspiel. Sie soll Härte zeigen, wo längst Klarheit herrschte: Nur sehr wenige missbrauchen das System. Die vermeintliche Milliardenreform entpuppt sich als Beweis politischer Unglaubwürdigkeit – vor allem für Merz und seine vollmundigen Versprechen, die im Licht der Realität verdampfen.
Ein Signal – aber für wen?
Vielleicht, so könnte man argumentieren, brauchte es ein Signal. Nur trifft es, wie so oft, nicht die Richtigen. Wer nie im Zielkreuz der moralischen Empörung stand, trägt nun die Kosten.
Hier entsteht ein neuer sozialer Ton: strenger, kälter, moralisch aufgeladen. Der Sozialstaat wird wieder zum Aufseher, nicht zum Partner. Und die Erzählung von der „Eigenverantwortung“ dient dabei als freundliche Verpackung für Kontrolle.
E-Autos und die neue Umverteilung
Parallel dazu beschloss die Regierung eine kleinere Kaufprämie für Elektroautos.
Klingt unscheinbar, ist aber Teil einer größeren Verschiebung. Die Förderung richtet sich gezielt an Haushalte mit geringen und mittleren Einkommen – weniger Tesla, mehr Twingo mit Stecker. Finanziert wird das Ganze aus dem Klima- und Transformationsfonds, ergänzt durch EU-Mittel.
Der Staat zieht sich also nicht zurück, er verteilt nur anders: weniger Almosen für die Bedürftigen, mehr Subventionen für die Anpassungswilligen. Die soziale Belohnung wandert – von der Existenzsicherung zur Lebensstilförderung. Das kann man doch so sagen oder nicht?
Reformroutine mit Symbolkraft
Daneben laufen Reformen, die das Gesamtbild abrunden: Eine neue Aktivrente soll älteren Menschen erlauben, bis zu zweitausend Euro monatlich steuerfrei hinzuzuverdienen.
Infrastrukturprojekte sollen beschleunigt, Baurecht entbürokratisiert werden. Und das große Thema Verkehr? Weiter offen. Die Koalition bleibt sich uneins über das Verbrenner-Aus 2035 – eine Uneinigkeit, die längst zum Markenzeichen geworden ist. All das fügt sich zu einem politischen Gesamtbild: Aktivität statt Mut, Bewegung ohne Richtung.
Die Regierung will zeigen, dass sie handelt – koste es, was es wolle, und sei es nur Vertrauen.
Der neue alte Sozialstaat
Die Botschaft hinter all dem ist klarer als jeder Gesetzestext: Der Sozialstaat will wieder straffer führen. Nicht mehr nur absichern, sondern antreiben. Wer arbeitet, soll mehr behalten; wer nicht arbeitet, soll es deutlicher spüren.
Das klingt nach Pragmatismus, riecht aber nach einem Rückfall in alte Denkmuster. Wo früher von „Chancen“ die Rede war, heißt es nun wieder „Pflichten erfüllen“. Das ist nicht unbedingt schlecht – aber es ist auch kein Fortschritt.
Härte als Tugend
Ob dieser neue Realismus tatsächlich Gerechtigkeit schafft oder nur das Klima gesellschaftlicher Härte verstärkt, bleibt abzuwarten. Im Moment wirkt es, als hätte die Regierung ihren Frieden gemacht – nicht mit den Menschen, sondern mit der Idee, dass Härte wieder populär sein darf. So haben also all die Hetzer und Kritiker des Sozialstaats ihren Punkt gemacht. Aber die wahren Ursachen für soziale Verwerfungen im Land wurden damit nicht einmal angedacht, viel weniger berücksichtigt.



Ätzend, was da so alles passiert – und NICHT passiert! Ich bezweifle auch die eine Milliarde Einsparung bei der „Grundsicherung“:
“ Wer zwei Termine beim Jobcenter verpasst, verliert 30 Prozent der monatlichen Leistung. Wer den dritten Termin nicht wahrnimmt, soll die Geldleistung komplett verlieren. Wenn Beziehende auch im Monat darauf nicht erscheinen, streicht das Jobcenter alle Leistungen inklusive Zahlungen für Miete und Heizung.“
Härtefälle (krank, sonstige „Hemmnisse“) soll das nicht treffen.
Wie viele werden es denn wohl soweit kommen lassen? Die Leute sind doch nicht blöd!
Garnicht debattiert werden die Unsummen, die an Arbeitgeber fließen, wenn sie Langzeitarbeitslose (= mehr als 12 Monate) einstellen – ich zitiere mal einen Kommentar aus der TAZ:
Im Haushaltsjahr 2024 wurden insgesamt 3,676 Milliarden Euro für „Leistungen zur Eingliederung in Arbeit“ ausgegeben. Wieviel davon als Lohnkostenzuschuss auf Arbeitgeber entfiel, dazu scheint es keine Zahlen zu geben (seltsam!). Der Zuschuss kann bei längerer Arbeitslosigkeit auch deutlich höher und länger ausfallen als hier im Kommentar benannt.
An sich sind diese Zuschüsse gut gedacht und im Einzelfall hilfreich. Aber das bloße Abgreifen und dann Entlassen, wenn die Förderung endet – das macht sie im Grunde zur Wirtschaftsförderung, und zwar zu einer, die den Missbrauch geradezu herausfordert!
@ClaudiaBerlin:
Ich auch! Aber so etwas von…
Die Maßnahmen gegen Bürgergeldempfänger mögen bei dem einen oder anderen Torfkopp ankommen bzw. gut gefunden werden. Sie ändert an den hohen Kosten fürs Bürgergeld nichts. Besser gesagt, um Einsparungen ging es nur in Reden. Die Wahrheit kannten viele, manche sind wohl in Ohnmacht gefallen, als Frey von 30 Mrd. Einsparungspotenzial schwadronierte. Den Leuten geht Missbrauch auf den Keks, von dem ständig in den Medien geredet wird. Sozialmissbrauch in Duisburg oder dass wir uns den Sozialstaat nicht mehr leisten können, andererseits aber migrantische Familien von einer Villa in die andere umgesiedelt und dafür vom Amt Tausende von Euros bezahlt werden. Oder die Clans, die ihre „Geschäfte“ mit Mitteln unseres Sozialstaates tätigen. Das wären Aufgaben, denen sich die Regierung widmen könnte. Na, tun sie bzw. die Landesbehörden, die nun dafür zuständig sind. Aber von „Einsparungen“ hören wir nichts. Nur von den Missständen. Typisch für dieses Land. Warum setzt der Staat nicht mehr Steuerprüfer ein oder widmet sich den Cum-Ex-Geschäften der vielen reichen Arschlöcher im Land? Da wären viele Milliarden zu holen. Stattdessen drangsaliert man die Leute am anderen Ende.
Der Sozialstaat muss reformiert werden. Das wäre das erste. Dann würde man sehen, ob die Effizienzgewinne nicht an sich schon Milliarden an Einsparungen bringen. Stattdessen beginnt man, um sich zu schlagen und trifft die, die sich schon jetzt kaum was leisten können. Hoffentlich kommen wir hinsichtlich der Reformbemühungen voran. Ich hörte, dass bis Ende des Monats konkrete Vorschläge unterbreitet werden sollen.
Während die beiden großen, rosa Elefanten namens „Steuerhinterziehung“ und „Vermögenssteuer“ nach wie vor regungslos im Raum stehen.
Das is aber etwas, was einfache Leute begreifen. Daher der Lärm. Dank entsprechender, parteiübergreifender Vorabeit seit den 90ern ist der arbeitsscheue Sozialschmarotzer ein zwar abgelutschtes, aber immer noch wirkungsvolles Feindbild, dessen man sich gerne bedient.
Was man bei Cum Ex und Cum Cum alleine einsparen könnte (das sind ja noch längst nicht alle Spielarten der Trickbetrüger – Pardon, – eherenhaften Unternehmer)!
Wie war das noch mal mit der Sondersteuerbehörde mit erweiterten Befugnissen, kurz nachdem sie die einzige Staatsanwältin, die dafür bereit war, dass sogar ohne neue Behörde in Angriff zunehmenm, hinaus -äh- komplimentiert haben? Was haben nicht nur die sich halb totgelacht. Putin sicher auch.
Viel offener lässt sich eine Bananenrepublik kaum illustrieren.
Was die Journaille gerne dabei nicht erwähnt, ist, dass das Bürgergeld nur der erste Streich ist. Hier trifft es ja die „Richtigen“, also lässt sich das entsprechend werbewirksam nutzen.
Wenn man selbst viel einsacken möchte und nebenbei noch Kriege führen möchte, auch den gegen Russland, der muss sich halt Gedanken um deren Finanzierung machen. Nicht umsonst ähneln die „journalistischen“ Veröffentlichungen dieser Tage frappierend dem Schmerzmaterial von Goebbels.
Wenn dann schon mal ein richtiger, bundespolitischer Vorstoß passiert, nämlich, dass es vielleicht günstiger wäre, nicht jeden Schwarzfahrer eizuknasten, dann wird das von den Bundesländern und Kommunalhelden abgewehrt. Übrig bleibt dann irgendwas mit Containern.
Das kann man sich gar nicht mehr ausdenken, sowas.
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„(…) Heute stehen rund 160 russische Divisionen an unserer Grenze. Seit Wochen finden dauernde Verletzungen dieser Grenze statt, nicht nur bei uns, sondern ebenso im hohen Norden wie in Rumänien. Russische Flieger machen es sich zum Vergnügen, unbekümmert diese Grenzen einfach zu übersehen, um uns wohl dadurch zu beweisen, daß sie sich bereits als die Herren dieser Gebiete fühlen. (…)“
(aus „Proklamation an das deutsche Volk“ vom 22. Juni 1941)
@juri nello: Ich kann in unseren Medien bislang kein „Schmerzmaterial von Goebbels“ erkennen. Dass viele Redaktionen – besonders im öffentlich-rechtlichen Bereich – zu oft mit dem politischen Mainstream mitschwingen oder ihre Berichterstattung an Regierungserklärungen erinnert, ist sicher ein berechtigter Kritikpunkt. Dennoch halte ich Vergleiche mit der Propaganda eines Verbrechers wie Goebbels für völlig unangebracht.
Wir erleben schwierige Zeiten, und jede Regierung muss letztlich den Weg gehen, von dem sie überzeugt ist. Dass viele Menschen sich damit schwertun – teils aus ideologischen, teils aus ganz persönlichen Gründen – ist verständlich. Dieses Spannungsfeld wird uns als Gesellschaft noch eine Weile begleiten. Ich befürchte, dass wir die konkreten Folgen und Einschnitte schon bald deutlicher zu spüren bekommen werden.
@Martin: Im Idealfall wird sich auch bei diesen Themen etwas tun. Schließlich ist der Regierung bewusst, dass die sogenannten Zumutungen gerecht verteilt werden müssen. Wollen wir hoffen, dass diese Gerechtigkeit der Lasten tatsächlich berücksichtigt wird und vor allem auch sichtbar ist.