Vom Bürgergeld zur Pflicht – die Bundesregierung entdeckt die Disziplin

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von Horst Schulte

Lesezeit: 5 Min.

Die Bundesregierung hat sich gestern auf eine Reihe von Reformen geeinigt, die mehr sind als bloß politische Routine. Sie markieren einen Stimmungsumschwung, eine neue Sicht auf die Dinge. Wo in den vergangenen Jahren das Leitmotiv „Vertrauen in den Bürger“ galt, dominiert nun wieder das alte Wort von der „Pflicht“.

Friedrich Merz beim Versuch, die Last seiner eigenen Versprechen bergauf zu stemmen.
Friedrich Merz beim Versuch, die Last seiner eigenen Versprechen bergauf zu stemmen.

Das Ende des Bürgergeldes

Allen voran steht das Ende des Bürgergeldes – zumindest dem Namen nach. Es soll künftig Grundsicherung für Arbeitssuchende heißen. Eine symbolische Umbenennung, hinter der sich ein inhaltlicher Schwenk verbirgt: weniger Milde, mehr Kontrolle, mehr Gängelei.

Beim bisherigen Bürgergeld sind Sanktionen gestaffelt. Bei unentschuldigtem Nicht-Erscheinen können Jobcenter zeitweise zehn  Prozent des Regelsatzes kürzen, dann 20 Prozent und schließlich 30 Prozent. Bislang mussten vorher aber Ermahnungen verschickt werden. Diese Sanktionsstufen entfallen, härtere Regeln sollen einfacher und schneller greifen: Wer zwei Termine beim Jobcenter verpasst, verliert 30 Prozent der monatlichen Leistung. Wer den dritten Termin nicht wahrnimmt, soll die Geldleistung komplett verlieren. Wenn Beziehende auch im Monat darauf nicht erscheinen, streicht das Jobcenter alle Leistungen inklusive Zahlungen für Miete und Heizung.

Vorwärts

Künftig wird gestrichen, wer Termine versäumt. Beim zweiten Mal sinkt die Leistung um dreißig Prozent, beim dritten Mal entfällt sie ganz – auch Miete und Heizkosten. Härtefälle sollen ausgenommen bleiben, doch der Ton ist gesetzt: Wer empfängt, soll sich fügen.

Das Schonvermögen, einst gedacht als kleiner Schutz vor dem sozialen Absturz, wird gekürzt und stärker an die sogenannte „Lebensleistung“ gebunden – ein Begriff, der zugleich mahnt und bewertet. Die Botschaft ist klar: Hilfe ja, aber bitte nur für die Angepassten.

Das Märchen von den Milliarden

Was mich an diesem Vorgehen besonders irritiert, ist die Diskrepanz zwischen Ankündigung und Realität. Von den großspurigen Aussagen über ein riesiges Sparpotenzial bleibt kaum etwas übrig. CDU-Fraktionschef Frey sprach von 30 Milliarden Euro, Merz erst von zehn, dann von sechs, schließlich von fünf Milliarden.

Am Ende wird es wohl nicht einmal eine Milliarde sein, die tatsächlich eingespart wird.

Der Effekt ist also überschaubar. Und dafür all der politische Lärm? Viele Bürger werden ernüchtert feststellen, dass ihr neu entdecktes „Gerechtigkeitsgefühl“ – sorgfältig gepflegt von Springer, Boulevard und Teilen der Politik – an dieser Zahl zerbricht.

Diese Reform ist kein ökonomischer Befreiungsschlag, sondern ein symbolisches Muskelspiel. Sie soll Härte zeigen, wo längst Klarheit herrschte: Nur sehr wenige missbrauchen das System. Die vermeintliche Milliardenreform entpuppt sich als Beweis politischer Unglaubwürdigkeit – vor allem für Merz und seine vollmundigen Versprechen, die im Licht der Realität verdampfen.

Ein Signal – aber für wen?

Vielleicht, so könnte man argumentieren, brauchte es ein Signal. Nur trifft es, wie so oft, nicht die Richtigen. Wer nie im Zielkreuz der moralischen Empörung stand, trägt nun die Kosten.

Hier entsteht ein neuer sozialer Ton: strenger, kälter, moralisch aufgeladen. Der Sozialstaat wird wieder zum Aufseher, nicht zum Partner. Und die Erzählung von der „Eigenverantwortung“ dient dabei als freundliche Verpackung für Kontrolle.

E-Autos und die neue Umverteilung

Parallel dazu beschloss die Regierung eine kleinere Kaufprämie für Elektroautos.

Klingt unscheinbar, ist aber Teil einer größeren Verschiebung. Die Förderung richtet sich gezielt an Haushalte mit geringen und mittleren Einkommen – weniger Tesla, mehr Twingo mit Stecker. Finanziert wird das Ganze aus dem Klima- und Transformationsfonds, ergänzt durch EU-Mittel.

Der Staat zieht sich also nicht zurück, er verteilt nur anders: weniger Almosen für die Bedürftigen, mehr Subventionen für die Anpassungswilligen. Die soziale Belohnung wandert – von der Existenzsicherung zur Lebensstilförderung. Das kann man doch so sagen oder nicht?

Reformroutine mit Symbolkraft

Daneben laufen Reformen, die das Gesamtbild abrunden: Eine neue Aktivrente soll älteren Menschen erlauben, bis zu zweitausend Euro monatlich steuerfrei hinzuzuverdienen.

Infrastrukturprojekte sollen beschleunigt, Baurecht entbürokratisiert werden. Und das große Thema Verkehr? Weiter offen. Die Koalition bleibt sich uneins über das Verbrenner-Aus 2035 – eine Uneinigkeit, die längst zum Markenzeichen geworden ist. All das fügt sich zu einem politischen Gesamtbild: Aktivität statt Mut, Bewegung ohne Richtung.

Die Regierung will zeigen, dass sie handelt – koste es, was es wolle, und sei es nur Vertrauen.

Der neue alte Sozialstaat

Die Botschaft hinter all dem ist klarer als jeder Gesetzestext: Der Sozialstaat will wieder straffer führen. Nicht mehr nur absichern, sondern antreiben. Wer arbeitet, soll mehr behalten; wer nicht arbeitet, soll es deutlicher spüren.

Das klingt nach Pragmatismus, riecht aber nach einem Rückfall in alte Denkmuster. Wo früher von „Chancen“ die Rede war, heißt es nun wieder „Pflichten erfüllen“. Das ist nicht unbedingt schlecht – aber es ist auch kein Fortschritt.

Härte als Tugend

Ob dieser neue Realismus tatsächlich Gerechtigkeit schafft oder nur das Klima gesellschaftlicher Härte verstärkt, bleibt abzuwarten. Im Moment wirkt es, als hätte die Regierung ihren Frieden gemacht – nicht mit den Menschen, sondern mit der Idee, dass Härte wieder populär sein darf. So haben also all die Hetzer und Kritiker des Sozialstaats ihren Punkt gemacht. Aber die wahren Ursachen für soziale Verwerfungen im Land wurden damit nicht einmal angedacht, viel weniger berücksichtigt.


Horst Schulte

Herausgeber, Blogger, Amateurfotograf

Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe auf dem Land.

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Artikelinformationen

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6 Gedanken zu „Vom Bürgergeld zur Pflicht – die Bundesregierung entdeckt die Disziplin“

  1. Ätzend, was da so alles passiert – und NICHT passiert! Ich bezweifle auch die eine Milliarde Einsparung bei der „Grundsicherung“:
    “ Wer zwei Termine beim Jobcenter verpasst, verliert 30 Prozent der monatlichen Leistung. Wer den dritten Termin nicht wahrnimmt, soll die Geldleistung komplett verlieren. Wenn Beziehende auch im Monat darauf nicht erscheinen, streicht das Jobcenter alle Leistungen inklusive Zahlungen für Miete und Heizung.“
    Härtefälle (krank, sonstige „Hemmnisse“) soll das nicht treffen.

    Wie viele werden es denn wohl soweit kommen lassen? Die Leute sind doch nicht blöd!

    Garnicht debattiert werden die Unsummen, die an Arbeitgeber fließen, wenn sie Langzeitarbeitslose (= mehr als 12 Monate) einstellen – ich zitiere mal einen Kommentar aus der TAZ:

    „Wenn an den Bürgergeldausgaben, oder wie man es auch in Zukunft auch nennen mag, für unseren Bundeshaushalt sparen möchte, könnte die Regierung einmal den Missbrauch durch Arbeitgeber aufgrund unnötiger Beantragung von

    “ Wiedereingliederungshilfen “ bei Einstellung von Hilfskräfte für ihre Unternehmen ansetzen. Hier werden seit Jahrzehnten Langzeitabeitslose in sogenannte “ Eingliederungsmaßnahmen “ in Wirklichkeit handelt es sich eher um prekäre Beschäftigungen vermittelt. Die Arbeitgeber zahlen maximal den Mindestlohn für Hilfskräfte, die in ein-/ zwei Wochen eingearbeitet werden [ Auslieferungsfahrer, Verpacker usw. ] dafür werden dem Arbeitgeber dann im ersten Beschäftigungsjahr 75 % vom Jobcenter / Bürgergeld an Lohnkosten erstattet. Im zweiten Beschäftigungsjahr dann 50 % vom Lohn des neuen Hilfsarbeiter. Im Jahr 2023 nahmen Unternehmen, für ca 120.000 solcher Hilfskräfte, diese finanziellen Hilfen aus den Kassen des Bürgergelds / Jobcenter in Anspruch. Die Kosten / Subventionen an Unternehmen, gehen für uns als Staat in die Millionen / Milliarden Euro. Nach zwei Jahren nimmt der Unternehmer sich neue Bürgergeldempfänger und unser Karussell dreht sich munter weiter.“

    Im Haushaltsjahr 2024 wurden insgesamt 3,676 Milliarden Euro für „Leistungen zur Eingliederung in Arbeit“ ausgegeben. Wieviel davon als Lohnkostenzuschuss auf Arbeitgeber entfiel, dazu scheint es keine Zahlen zu geben (seltsam!). Der Zuschuss kann bei längerer Arbeitslosigkeit auch deutlich höher und länger ausfallen als hier im Kommentar benannt.

    An sich sind diese Zuschüsse gut gedacht und im Einzelfall hilfreich. Aber das bloße Abgreifen und dann Entlassen, wenn die Förderung endet – das macht sie im Grunde zur Wirtschaftsförderung, und zwar zu einer, die den Missbrauch geradezu herausfordert!

  2. Während die beiden großen, rosa Elefanten namens „Steuerhinterziehung“ und „Vermögenssteuer“ nach wie vor regungslos im Raum stehen.

  3. Das is aber etwas, was einfache Leute begreifen. Daher der Lärm. Dank entsprechender, parteiübergreifender Vorabeit seit den 90ern ist der arbeitsscheue Sozialschmarotzer ein zwar abgelutschtes, aber immer noch wirkungsvolles Feindbild, dessen man sich gerne bedient.
    Was man bei Cum Ex und Cum Cum alleine einsparen könnte (das sind ja noch längst nicht alle Spielarten der Trickbetrüger – Pardon, – eherenhaften Unternehmer)!

    Wie war das noch mal mit der Sondersteuerbehörde mit erweiterten Befugnissen, kurz nachdem sie die einzige Staatsanwältin, die dafür bereit war, dass sogar ohne neue Behörde in Angriff zunehmenm, hinaus -äh- komplimentiert haben? Was haben nicht nur die sich halb totgelacht. Putin sicher auch.
    Viel offener lässt sich eine Bananenrepublik kaum illustrieren.

    Was die Journaille gerne dabei nicht erwähnt, ist, dass das Bürgergeld nur der erste Streich ist. Hier trifft es ja die „Richtigen“, also lässt sich das entsprechend werbewirksam nutzen.
    Wenn man selbst viel einsacken möchte und nebenbei noch Kriege führen möchte, auch den gegen Russland, der muss sich halt Gedanken um deren Finanzierung machen. Nicht umsonst ähneln die „journalistischen“ Veröffentlichungen dieser Tage frappierend dem Schmerzmaterial von Goebbels.

    Wenn dann schon mal ein richtiger, bundespolitischer Vorstoß passiert, nämlich, dass es vielleicht günstiger wäre, nicht jeden Schwarzfahrer eizuknasten, dann wird das von den Bundesländern und Kommunalhelden abgewehrt. Übrig bleibt dann irgendwas mit Containern.
    Das kann man sich gar nicht mehr ausdenken, sowas.

    ____
    „(…) Heute stehen rund 160 russische Divisionen an unserer Grenze. Seit Wochen finden dauernde Verletzungen dieser Grenze statt, nicht nur bei uns, sondern ebenso im hohen Norden wie in Rumänien. Russische Flieger machen es sich zum Vergnügen, unbekümmert diese Grenzen einfach zu übersehen, um uns wohl dadurch zu beweisen, daß sie sich bereits als die Herren dieser Gebiete fühlen. (…)“
    (aus „Proklamation an das deutsche Volk“ vom 22. Juni 1941)

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