Wenn ein Einzelfall zur moralischen Waffe wird – zur Focus-Kolumne von Julia Ruhs

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von Horst Schulte

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Wie schnell es sich in Deutschland mitunter erweist, dass stark rechte Positionen in diesem Land gefragt sind und ihre Protagonisten je nach Lage so etwas wie Heldenstatus einerseits und strikte Ablehnung andererseits erfahren. Julia Ruhs ist wohl ein „gutes“ Beispiel. Über sie habe ich bisher noch kein Wort verloren.

Der Hype, den Rechte um sie machen, hat mir nicht gefallen, die Reaktionen von Linken ebenso wenig. So, wie ich sagen muss, dass ich manche Position teile, die sie vertritt. Der Umgang, den der NDR in dieser Personalie offenbarte, hat auch mir nicht gefallen. Tatsache ist, ihr hat es einen Karrieresprung verschafft. Oder zumindest einen Schub für ihren Bekanntheitsgrad, was bei Journalisten in diesem Land nicht unwichtig zu sein scheint.

Der Reiz liegt doch leider zu oft im Randständigen. In einer Meinung, die sich gegen den Strom legt, weil sie sich als realistischer versteht als der Rest. Julia Ruhs nimmt in ihrer Focus-Kolumne genau diesen Platz ein – als Stimme der vermeintlichen Vernunft, die den Sozialstaat als Schieflage entlarven will.

Man muss solche Vorfälle nicht herunterspielen. Die Mietanfrage ukrainischer Geflüchteter, wird jedoch nur zu gern von Leuten, die dieses oder jenes doch nur einmal aussprechen wollen, zum Beweis für ein ganzes Systemversagen gehypt. Aus einer Episode wird schließlich ein Weltbild konstruiert. Es ist die alte Versuchung der Vereinfachung – und sie bleibt, trotz eloquenter Verpackung, durchschaubar.

Der Fall als Zündstoff – und die Falle der Generalisierung

Ruhs setzt auf Empörung: Ein Vermieter fühlt sich „veräppelt“, die „Anfrage zeigt mir das große Dilemma“. Wenn wir auch von mehreren Beispielen hörten, ein Fall bleibt ein Fall. Wer von solchen aus böswilligem Kalkül direkt auf Systemversagen schließt, übersieht viele Facetten:

  • Regionale Unterschiede (Mietniveau, Mietspiegel)
  • Rechtslage, Zuschüsse, Wohnraumförderung
  • individuelle Geschichte der Antragstellenden

Das Problem entsteht, wenn man von „der ukrainischen Familie“ sprunghaft zu „den Ukrainern“ oder „den Leistungsbeziehern“ übergeht. Dann werden Einzelfälle zur Symbolfigur – und mit Symbolfiguren lässt sich Politik betreiben.

Der Mythos vom auszubeutenden Staat

Ruhs’ zentrale Metapher: Der Staat ist nicht Retter, sondern Räuber er „schröpft“ die, die arbeiten. Diese Umkehrung verleiht dem Sozialstaat eine bedrohliche Gestalt.

Doch der Sozialstaat ist kein monolithisches Wesen, das nach Laune zuteilt und entzieht. Er ist ein Geflecht aus Gesetzen, Verfahren und Rechten – unvollkommen, aber getragen von der Idee der Solidarität.

Die Vorstellung, der Staat belohne „die, die nichts einzahlen“, ist eine moralische Verkürzung. Viele, die heute auf Unterstützung angewiesen sind, haben zuvor lange eingezahlt, Steuern getragen, Kinder großgezogen. Das alles verschwindet in Ruhs’ schneidiger Erzählung von „Belohnung und Strafe“.

Der Bürger als Opfer – und das politische Kalkül

Ruhs erzählt vom „fleißigen Bürger“, der sich abrackert, während andere angeblich abkassieren. Das klingt vertraut – es ist die alte Geschichte vom braven Steuerzahler gegen die angeblich Bevorzugten.

Die Linie, die sie zieht, trennt mehr, als sie erklärt. Das stützt rechte Narrative. Und Ruhs weiß das. Zwischen den Extremen aber liegen Millionen Menschen, die weder Opfer noch Profiteure sind.

Wer diese Komplexität ignoriert, befeuert genau jene Erzählungen, auf die rechtspopulistische Bewegungen setzen: dass Politik und Sozialstaat ein Kartell der Faulen schützen. So verschiebt sich das Gespräch – von Strukturen hin zu Schuldfragen.

Was fehlt – und worauf wir drängen sollten

Ein ehrlicher Diskurs über den Sozialstaat braucht mehr als anekdotische Empörung. Er braucht Maß, Kontext und Mut zur Differenzierung. Leider sind immer weniger Leute dazu bereit. Wenigstens scheint mir das der Fall zu sein.

  • Empirische Verhältnismäßigkeit: Wie häufig sind solche Extremfälle wirklich?
  • Kontext: Warum sind Wohnungen so teuer, warum gibt es kaum bezahlbaren Wohnraum?
  • Moralische Demut: Menschen im Leistungsbezug sind keine homogene Masse. Jeder Fall trägt eine Geschichte, oft auch Verletzungen.
  • Erinnerung an den Ursprung: Der Sozialstaat ist keine Belohnungsmaschine, sondern eine Versicherung gegen den Absturz.

Julia Ruhs will Missstände benennen, aber sie wählt den Weg der Dramatisierung. Ihr Text schiebt sich in jene Grauzone, in der Empörung die Empathie übertönt. Den Kern der kritisierten Sache blendet sie bewusst aus, um negative Stimmung zu verbreiten. Das ist auch das Prinzip von Demokratiefeinden.

Wer den Sozialstaat wirklich reformieren will, muss ihn zuerst verstehen – nicht als Kostenstelle, sondern als Ausdruck gemeinsamer Verantwortung.

Man darf die Augen vor Fehlentwicklungen nicht verschließen. Da wären wir uns einig. Und zu lange haben wir das in diesem Land praktiziert. Aber wer sie mit moralischem Hochmut anklagt, richtet schnell über Menschen, die längst am Rand stehen.

Ruhs suggeriert, sie würde Realismus verteidigen. Tatsächlich verteidigt sie nur ihr Misstrauen. Und das, so scheint mir, ist die wahre Schieflage.


Horst Schulte

Herausgeber, Blogger, Amateurfotograf

Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe auf dem Land.

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