Zwischen Angst und Abwehr – Harald Martenstein und der Kulturkampf mit der AfD

Harald Martenstein kommentiert in der Welt die Aussage von Karin Prien, sie wolle Deutschland verlassen, sollte die AfD mitregieren. Sein Text entlarvt sich als rhetorische Abwehrschlacht, die berechtigte Ängste ins Lächerliche zieht. Eine Einordnung jenseits der Polemik.

Harald Martenstein hat in der Welt vom 19. Oktober die Aussage von Karin Prien, sie würde Deutschland verlassen, sollte die AfD politische Macht erlangen, zum Anlass genommen, über das Verhältnis von Angst, Übertreibung und politischer Wirklichkeit zu schreiben. Nur geht es ihm weniger um Verständnis als um Abrechnung. Seine These: Die Vorstellung, die AfD sei eine Art neue NSDAP, sei „eine wirklichkeitsfremde Idee der Ultralinken“, ein „Hit im Kulturkampf“. CDU und CSU, so Martenstein, ließen sich von dieser Sichtweise zu Schoßhündchen erziehen, die brav für die Linke „Bällchen apportieren“.

harald martenstein replik afd
harald martenstein replik afd

Das ist Polemik in Reinform. Kein Versuch, den Anlass zu verstehen, sondern ein Spiel mit Überzeichnung und Spott. Martenstein schiebt Karin Priens Angst in eine Ecke der Lächerlichkeit, indem er sie als Teil einer angeblichen linken Hysterie markiert. Dabei unterschlägt er, dass diese Angst kein Fantasieprodukt ist, sondern aus konkreten Erfahrungen resultiert – persönlichen wie politischen. Antisemitische Drohungen, rechtsextreme Netzwerke in Behörden, Angriffe auf jüdische Einrichtungen: Es ist nachvollziehbar, dass eine jüdische Ministerin angesichts solcher Entwicklungen sagt, sie wolle in einem Land, das einer offen nationalistischen Partei Macht gibt, nicht mehr leben.

Was Martenstein als „Kulturkampf“ beschreibt, ist in Wahrheit ein Streit um Realitätsdeutung. Er wirft der politischen Linken vor, die AfD zu dämonisieren, und betreibt gleichzeitig das Gegenteil: Er verniedlicht. Seine Metaphern – von „Schoßhündchen“ und „Bällchen“ – verwandeln eine ernsthafte politische Auseinandersetzung in ein Zirkusbild. So wird die Debatte nicht klüger, sondern zynischer. Ironie ist bei Martenstein oft Schutzschild und Waffe zugleich: Sie erlaubt den Rückzug, wenn’s ernst wird, und die Attacke, wenn’s Applaus geben soll.

Vielleicht liegt darin die eigentliche Tragik dieses Textes: Er verwechselt Distanz mit Erkenntnis. Indem er sich über Ängste erhebt, verliert er die Fähigkeit, sie zu prüfen. Es wäre produktiver, die Frage zu stellen, warum so viele Menschen in Deutschland – nicht nur Karin Prien – der AfD zutrauen, demokratische Institutionen zu beschädigen. Und warum andere diese Sorge als Übertreibung abtun.

Die Debatte um die AfD braucht Klarheit, nicht Spott. Sie braucht auch Widerspruch, aber einen, der das Gegenüber nicht entwertet. Martensteins Kolumne ist scharf formuliert, doch ihr Witz wirkt verbraucht. Man spürt, dass er nicht aufklären will, sondern provozieren. Vielleicht aus Gewohnheit, vielleicht aus Müdigkeit. Aber wer wie er den Verlust der Gesprächsfähigkeit beklagt, sollte sich fragen, welchen Anteil er selbst daran hat.


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Horst Schulte

Herausgeber, Blogger, Amateurfotograf

Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe seit meiner Geburt (auch aus Überzeugung) auf dem Land.

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