Im kommenden Jahr feiern meine Frau und ich, so Gott will, unseren 50. Hochzeitstag. Wir sind uns einig: Wir hatten ein schönes Leben, es hat uns an nichts gefehlt. Neid oder den Druck, ständig etwas optimieren zu müssen, haben wir nie empfunden. Auch ein Haus haben wir nicht gebaut – obwohl es möglich gewesen wäre. Es hat uns schlicht nicht gefehlt.
Natürlich verstehe ich, dass viele Menschen ihr Leben nach Zielen ausrichten, die von Erwartungen oder von einem subtilen Vergleichsdruck geprägt sind. Für uns war das nie ein Maßstab.
Über Nostalgie und die Vergangenheit
Mit nostalgischen Rückblicken tue ich mich schwer. Ich kann sie nachvollziehen, wirklich sympathisch sind sie mir aber nicht. Übrigens auch dann nicht, wenn ich solchen Gedanken selbst verfalle, was gelegentlich vorkommt. Nostalgie gehört in die Vergangenheit – und manche scheinen genau das auszublenden.
In den 1980er-Jahren habe ich mich oft gefragt, wohin uns dieses permanente „Mehr“ führt: mehr Autos, mehr Abfall, immer höhere Ansprüche.
Der Individualismus und der daraus entstandene Egoismus sind in meinen Augen die zerstörerischen Begleiterscheinungen dieser Entwicklung.
Gedanken zur Wiedervereinigung
Rückblickend erinnere ich mich gerne an die Bonner Jahre. Damals stellte die Bundesrepublik keine Führungsansprüche – diese Zurückhaltung empfand ich als äußerst angenehm (Nostalgie). Heute fällt mir auf, dass manche Ostdeutsche die Wiedervereinigung als das Ergebnis von Fremdbestimmung wahrnehmen.
Diese Sichtweise verbindet sich mit der Klage über dauerhafte Benachteiligung und bildet das Fundament für das populistische Narrativ, wir lebten längst nicht mehr in einer Demokratie. Das schießt so weit übers Ziel hinaus, dass ich mich jedes Mal aufrege, wenn ich es lese.
Ich sehe mit Sorge, dass sich dieses Stimmungsbild verschärfen könnte, wenn unser Sozialstaat angesichts knapper werdender Mittel weniger leisten kann. Das steht uns aber unweigerlich bevor. Wie wollen wir eine solche Krise erfolgreich bestehen, wenn die Menschen schon jetzt, bevor sie wirklich Realität ist, Zeter und Mordio schreien?
Die Repräsentanz Ostdeutscher
Übrigens ist die Repräsentanz von Ostdeutschen im Bundestag gar nicht schlecht: Rund 21 % der Abgeordneten stammen von dort. Dass es in anderen Bereichen wie Wirtschaft, Medien oder Kultur noch Nachholbedarf gibt, bleibt unbestritten. Einfluss im politischen Spektrum haben Ostdeutsche allerdings sehr wohl. Nutzen sie diesen oder beklagen sie sich lieber?
Vielleicht zeigt sich in meiner Einstellung, dass ich in mancher Hinsicht wirklich konservativ ticke: In der alten Bundesrepublik habe ich mich wohler gefühlt. Diese Empfindung wollte ich einmal festhalten – wohl wissend, dass sie nicht allen gefallen wird.



Ich bin überzeugt davon, dass genug Mittel da wären! Allerdings ist es nicht gewünscht.
@SuMu: Die Leute werden immer darüber streiten, ob es an den nicht zur Verfügung stehenden Mitteln oder nur an der Verteilung vorhandener Ressourcen liegt. Es ist eine Frage der Prioritäten. Und die legen leider nicht wir fest, sondern die da oben. Es sei denn… man wählt andere.
Kleine Bemerkung am Rande: Daß wir uns weniger leisten können ist eine Mär. Wer sich immer weniger leisten kann – wenn man davon überhaupt reden mag – ist der am wenigstens finanzstarke Teil der Bevölkerung.
Ghandi an dieser Stelle: There is enough for everyone’s need, but not for everyone’s greed.
Wo bleibt die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, zum Beispiel? Stattdessen wird über eine Reform des Bürgergeldes salbadert. Nichts neues unter der Sonne …
@Nachtkatze: Was die unterschiedlichen Sichtweisen auf diese Frage anlangt: Ich wäre froh, ich wäre so sicher wie du es offenbar bist. Da wird von Springer bemängelt, dass Milliarden für Entwicklungshilfeprojekte ausgegeben werden und hier die Haushaltslöcher nicht mehr geschlossen werden. Dem schließen sich die Leute freilich sofort an, weils so bequem ist und irgendwie einleuchtend. Aber was ist mit den internationalen Verträgen und mit unserer moralischen Verantwortung im Zusammenhang mit solchen Fragen? Muss uns das jetzt nicht mehr interessieren? Wie krass wird die Wirkung des nun einmal weltweiten Klimawandels auf unser Leben werden? Wollen wir uns in Fatalismus üben, statt das zu tun, was ja eigentlich fest verabredet war?
Ich bin für Vermögenssteuer. Nur auch die Änderung der Erbschaftssteuer und die Vermögenssteuer wird nichts an unseren finanziellen Problemen ändern. Gesagt wird uns etwas anders. Aber wie viele Mrd. werden wir tatsächlich zusätzlich frei machen, wenn diese Steuern kämen und wohin würde das Geld fließen?
Ein schöner Blogpost! Ich beziehe mich mal auf die Kommentare, die inhaltlich für viele stehen: Mich wundert zunehmend der verengte Blick, der bezüglich der Kosten des Sozialstaats so vehement nur auf mögliche mengenmäßige Umverteilung schaut. Das gibt es also Superreiche und noch immer viele Besserverdiener: Warum nicht einfach von ihnen mehr Steuern erheben und so die vorhandenen und weitere Sozialausgaben bestreiten? Förderungen für Wirtschaftsunternehmen erscheinen so gesehen ebenfalls als blödsinnige Ausgaben für die Falschen, während hierzulande Rentner Flaschen sammeln… etc. usw.
(Von rechts wird ganz ähnlich argumentiert, nur dass man hier bei Ausländern, Migranten und den Ausgaben im Rest der Welt die Axt ansetzen will.)
Aber für jetzt nur zur linken Denke: Deutschland ist keine von der Restwelt abgeschottete Insel und „Kapital ist flüchtig“. Letztendlich zahlt allein „die Wirtschaft“ sämtliche staatlichen und somit auch die sozialstaatlichen Ausgaben. Wenn die Bedingungen für die Wirtschaft zu schlecht werden (Steuern, Sozialabgaben, Bürokratie) schwächelt und schrumpft sie, es gibt Entlassungen, Bankrotte, Verlagerungen nach anderswo – in den letzten 3 Jahren konnte und kann man das sehen. Auch Individuen verlassen das Land, besonders häufig sind es Selbstständige, Fachkräfte und Akademiker, die anderswo bessere Bedingungen für sich sehen.
Die Möglichkeiten, mehr Geld von „den Reichen“ einzusammeln, sind also begrenzt, will man keine Negativeffekte anstoßen, die das Einnahmeplus in den Schatten stellen und zudem andere unerwünschte Nebeneffekte haben können. Besteuert man z.B. die „arbeitende Erbschaft“ deutlich mehr, also die in Familien vererbten Firmenvermögen, kann das die Erben zum Verkauf zwingen – womöglich an einen ausländischen „Investor“ (z.B. Hedge Fonts, „Heuschrecken“ etc.), der kein Interesse am Erhalt hat, sondern nur an einer maximalen Rendite seines Geschäfts.
Das wollte ich schon lange mal schreiben, dein Blogpost und die Kommentare dazu hat mir nun den Anlass geboten!
@ClaudiaBerlin: Danke für deinen ausführlichen und interessanten Kommentar!
Du kennst die Zahlen im Zweifel besser als ich. Ich sehe allerdings, dass auch die Reichen und Besserverdienenden einen erheblichen Anteil an der Finanzierung unseres Staates leisten. Was mir aber nicht gefällt, sind die aktuellen Regelungen bei der Erbschaftssteuer und auch der Vermögenssteuer. Dass Kapitalerträge immer noch mit nur 25 % besteuert werden, ist ein Skandal! Allerdings mache ich mir (im Gegensatz zu den Linken) keine Illusionen über die Größenordnungen. Anders als sie gehe ich nicht davon aus, dass die zusätzlichen Einnahmen so hoch sind, wie man es von dort häufig hört (Reichinek/Schwerdtner). Ich habe von beidne Werte gehört, die vollkommen illusorisch sind. Mir fällt bei solchen Diskussionen immer der Name Gérard Depardieu ein.
Man könnte mehr Steuerprüfer/Fahnder einsetzen. Aber wir sehen, was im Cum-Ex-Verfahren passierte. Die Politik möchte dies offenbar nicht, obwohl dort viele Milliarden zu holen wären. Das riecht streng, aber es interessiert kaum jemanden.
Die Staatsanwältin, die deutschlandweit mit dem Thema betraut hat, hat aufgrund mangelnder politischer Rückendeckung ihr Amt aufgegeben. Man würde andersherum alle rechtsstaatlichen Mittel ausschöpfen und bräuchte Steuerflucht aus den von dir genannten Gründen, vielleicht sogar weniger zu fürchten. Zwar wäre auf diese Art das Geld für die, die es irregulär behalten haben, auch futsch. Aber es hätte vermutlich andere Konsequenzen.
Wir geben Geld aus für humanitäre oder klimanützliche Zwecke, nicht nur im Ausland (was ja gerade wieder als Thema der Konservativen hochpoppt). Im Inland sind mehr Kommunen als je zuvor auch durch die hohe Zahl von Geflüchteten und von den Sozialsystemen Abhängigen finanziell so überfordert, dass durch wegbrechende Steuereinnahmen selbst in Städte und Gemeinden gravierende Finanzengpässe entstehen, die früher gut dastanden (Ingolstadt).
Von Naseweis Linnemann, CDU, lese ich heute, dass „er“ in den nächsten Wochen ein Konzept vorlegen will, dass viele Milliarden an Bürgergeld einsparen wird. Darauf bin ich mal gespannt.
@Horst Schulte: Die Vermögenssteuer wurde 1997 ausgesetzt. In den Debatten darüber höre ich immer, das läge daran, dass sie viel zu komplizierte Bewertungen benötigt (bis hin zu teurer Kunst etc.) und der Ertrag in keinem sinnvollen Verhältnis zum Aufwand stünde. Die Kapitalerstragssteuer beträgt derzeit 25% plus Soli und Kirchensteuer (auf die 25%). Die SPD will das auf 30% erhöhen. Ich fände es richtig, diese Erträge im Rahmen der Einkommenssteuer „einzurechnen“, sodass immer der Steuersatz gezahlt wird, der sich da insgesamt ergibt.
Mehr Steuerfander sollten wirklich sein! Wenn es einerseits Jobcenter-Mitarbeiter gibt, die zu Kontrollzwecken Bürgergeldempfänger zuhause aufsuchen, ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, hier „aufzurüsten“!
Das mit CumEx ist ein Skandal, stimmt. Wenn ich mich selbst betrachte: Das Thema war mir immer so komplex und widerlich, dass ich mich da garnicht eingelesen habe.
@ClaudiaBerlin: Wer weiß, ob das Verfassungsgericht einer erneuten Auflage der Vermögenssteuer überhaupt zustimmen würde? Zudem stimmt es ja, dass die Erhebung vermutlich so aufwendig wäre, dass sie sich im Endeffekt kaum lohnen würde. Das wiederum ist allerdings auch ein schönes Argument für diejenigen, die grundsätzlich dagegen sind.
Es werden so viele Milliarden an Steuern hinterzogen, dass man sich bloß wundern kann, dass der Staat selbst in dieser Lage nicht alles dafür tut, dass das aufhört. Aber wie sieht das die Branche der Rechtsanwälte und Steuerberater? Die lebt davon, dass gewisse Dinge möglich bleiben. Es hat System, dass das deutsche Steuerrecht das komplizierteste auf der ganzen Welt ist. Es kommt denen zugute, die viel haben und noch mehr „sparen“ können und trifft die, die mal einen kleinen Fehler in der Buchführung gemacht haben. Garantiert.