Kann uns die Demokratie verloren gehen?

Im Osten sind ja ohnehin viele BĂŒrgerInnen unzufrieden mit dem, was ihnen als Demokratie zugemutet wurde. Überhaupt werden die Kritiker des Systems lauter. Was zweifellos an den vielen Krisen liegen…

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HORST SCHULTE

Die USA sind heute nicht mehr in der Lage sich auf eine Wirklichkeit zu einigen und deshalb sind sie auch nicht mehr in der Lage Probleme zu erkennen zu analysieren und zu handeln.

(Klaus BrinkbÀumer, ehemaliger Spiegel-Chefredakteur, Autor des Buches:
«Im Wahn: Die amerikanische Katastrophe»)

Was glauben Sie, wie weit Deutschland von dieser traurigen Zustandsbeschreibung noch entfernt ist? Reden nicht viele auch bei uns gern von Polarisierung der Gesellschaft? Aber vielleicht ist das nur eine Übertreibung bezogen auf die USA, ein vor allem durch die erratische Politik Trumps hervorgerufenes Unwohlsein, das bei nĂ€herer Betrachtung nicht standhĂ€lt?

Ich verstehe von dem, was in den USA geschieht zu wenig, um mir darĂŒber ein Urteil erlauben zu können. Dass mich so mancher Bericht (nicht nur die ein bisschen ĂŒbertrieben scheinenden von Elmar Theveßen) ĂŒber die VorgĂ€nge in den USA erschĂŒttert hat, werden viele nachvollziehen können. Dass es in Europa und Deutschland viele Menschen gibt, die Trump und sein Wirken gut finden, ĂŒberrascht und provoziert mich immer noch, obwohl ich mich inzwischen an verquere Sichtweisen gerade auch wĂ€hrend der Corona-Pandemie gewöhnt habe.

Jetzt auch in Europa und Deutschland

Ich sehe gegenĂŒber der amerikanischen Demokratie ein paar Vorteile in Deutschland, die trotz meiner begrenzten Kenntnisse ĂŒber US-VerhĂ€ltnisse ins Auge stechen. Da wĂ€re zunĂ€chst einmal das Mehrparteiensystem, das auch nicht nur positive Seiten aufweist, das trotz der bei Republikanern und Demokraten existierenden breiten politischen Strömungen vielleicht weniger zu polarisierenden Effekten tendiert.

Ich finde es nicht gut, dass US-PrĂ€sidenten in der Regel aus Familien stammen, die nicht nur Einfluss, sondern auch wahnsinnig viel Geld besitzen. Man kann sagen, in den USA wird niemand PrĂ€sident, der nicht sehr reich und dessen Familie nicht ĂŒber großen Einfluss verfĂŒgt. Vielleicht war PrĂ€sident Obama eine Ausnahme? In den letzten Jahrzehnten gibt es jedenfalls genug Beispiele, die meine Behauptung stĂŒtzen können.

Dass PrĂ€sident Reagan mithilfe der Mafia ins Amt kam, ist nicht weniger erschĂŒtternd als manch andere Personalie. Dass Leute, die an der Spitze der Nahrungskette stehen, fĂŒr normale BĂŒrger wenig tun, klingt doch nur auf den ersten Blick nach boshafter Unterstellung eines Antikapitalisten. Warum konnte Trump PrĂ€sident werden? Doch nur deshalb, weil bestimmte Bevölkerungsgruppen in den USA von allen demokratischen Parteien seit Jahrzehnten grob vernachlĂ€ssigt wurden.

FĂŒr solche Dramen ist das politische System in Deutschland nicht gemacht. Der Vorteil der auf zwei Amtsperioden begrenzten PrĂ€sidentschaften in den Vereinigten Staaten dagegen, fĂ€llt positiv ins Gewicht. Angela Merkel ist immer noch Bundeskanzlerin. Es gibt nicht wenige im Land – auch mit Einfluss – die sich sogar heute noch eine weitere Amtszeit Merkels vorstellen können. Ich fĂ€nde es gut, wenn die Amtszeiten der deutschen Regierungschefs ebenfalls auf zwei Legislaturperioden begrenzt wĂ€ren.

Nur zwei Legislaturperioden fĂŒr Spitzenpersonal

Dass wir in den letzten Jahren beinahe durchgĂ€ngig von einer Großen Koalition regiert wurden, ist nicht nur aus demokratietheoretischen GrĂŒnden ein Problem. Wir haben bei wichtigen Fragestellungen der letzten Jahre (Finanzkrise, FlĂŒchtlingskrise, Pandemie) schmerzhafte Erfahrungen gemacht. Der Einfluss der Opposition und der Parlamente war zwischendurch sogar derart reduziert, dass man die UnterstĂŒtzung der GroKo-Parteien brauchte, um die zahlenmĂ€ĂŸige Unwucht etwas zu reduzieren. Wie schlecht das funktioniert, sehen wir am Verhalten der GroKo, wenn es um die Arbeit in UntersuchungsausschĂŒssen geht – wenn diese denn ĂŒberhaupt konstituiert wurden.

Wer geglaubt hat, dass die GroKo immer die richtigen Antworten geben wird und deshalb zum Wohle unseres Landes arbeiten wĂŒrde, der dĂŒrfte inzwischen eines Besseren belehrt worden sein. Es ist, glaube ich, schon etwas daran, dass wir BĂŒrgerinnen und BĂŒrger in Deutschland ein bisschen zu viel darauf vertrauen, dass der Staat es schon richten wird.

Wir ĂŒberdehnen den Sozialstaat, in dem wir immer mehr Geld hineinstecken, auf der anderen Seite aber nur wenig darauf achten, wie effizient das viele Geld wirkt. Es dauert oft endlos lange, bis auf Fehlentwicklungen reagiert wird. Inzwischen liegt die GrĂ¶ĂŸenordnung fĂŒr den Sozialausgaben pro Jahr in Deutschland bei ĂŒber einer Billion Euro! Diese Zahl stammt noch aus der Vor-Corona-Zeit! Jetzt scheint das Koordinatensystem (Schwarze Null) vollstĂ€ndig aufgehoben.

Das Land, in dem Milch und Honig fließen

FĂŒr die Maßnahmen der Regierung habe ich VerstĂ€ndnis, ich finde es mitunter jedoch befremdlich, mit welcher SelbstverstĂ€ndlichkeit und Anspruchshaltung manche Gruppen unserer Gesellschaft Forderungen an den Staat richten. Kann das auf Dauer funktionieren? Was passiert, wenn die hohe Verschuldung trotz des noch „billigen“ Geldes dazu fĂŒhrt, dass Sozialleistungen massiv gekĂŒrzt werden?

Ich finde, von Roger Köppel (schweizerische Weltwoche) kommt gewöhnlich nicht allzu viel Kluges. Aber er hat den Vorteil der direkten Demokratie in einem Beitrag einmal sehr schön zusammengefasst.

Im Vergleich mit LĂ€ndern wie Frankreich oder Deutschland brauchte es keine starken FĂŒhrungspersönlichkeiten (Macron, Kurz), die zuerst einmal in ihre jeweilige Position gebracht werden mussten, nachdem das stetige anschwellende Missfallen und Rumoren der Gesellschaft nicht mehr ĂŒberhört werden konnte. In der Schweiz werden systembedingt politische und gesellschaftliche WĂŒnsche nach VerĂ€nderungen behutsam und interessanterweise auch schneller nach vorn entwickelt.

Ein großer Vorteil der direkten gegenĂŒber der parlamentarischen Demokratie · Horst Schulte

Etwas mehr von der Schweiz

Das ist mein Traum. Nicht die politischen Parteien wĂŒrden nach ihrem Gusto regieren, sondern sie hielten sich daran, was der SouverĂ€n verlangt. Dass es in Deutschland anders ist und die Wahlen – auch ganz unabhĂ€ngig von niedrigen oder hohen Wahlbeteiligungen – nicht wirklich viel bewirken, sollten wir an der Zusammensetzung unseres Parlaments erkennen. Damit meine ich nicht das Auftauchen der AfD, sondern die ZustĂ€nde, die durch die GroKo fast zementiert wirken.

Finanzkrise

Auch wenn dieser Text einen anderen Schluss nahelegt, es ist nicht so, dass ich persönlich ein Problem mit Merkels Regierung hĂ€tte. Ich war fĂŒr die Maßnahmen der Regierung wĂ€hrend der Finanzkrise. Allerdings bin ich sehr enttĂ€uscht davon, dass ĂŒber Akutmaßnahmen hinaus, nichts von einer zukunftsweisenden Politik innerhalb der Eurogruppe und der EU insgesamt zu sehen ist. Deutschland spielt dabei keine gute Rolle. Man wollte mit den getroffenen Maßnahmen Zeit gewinnen. Die hat man bekommen, zielfĂŒhrende Lösungsmodelle jedoch nicht. So wird das irgendwann eintreten, was die mir sehr unliebsamen Kassandras der Szene seit Jahr und Tag an die Wand malen.

Energiepreise

Als Merkel die Energiewende mit dem Ausstieg aus der Kernenergie eingeleitet hat, gab es keinen politischen Widerstand. Man könnte behaupten, Merkel habe das Momentum fĂŒr die Entscheidung genutzt. Die Umfragen waren nach Fukushima ja völlig eindeutig. Nur, dass sich daran kaum einer erinnern will.

Dass wir heute in Deutschland die höchsten Strompreise weltweit zahlen und die Regierungen manch anderer LĂ€nder die deutsche Entscheidung mit KopfschĂŒtteln quittieren, interessiert den siegesgewissen Mainstream nicht.

Mit einer milliardenteuren Deckelung der EEG-Umlage hat die Bundesregierung deutlich höhere Strompreise im nĂ€chsten Jahr verhindert – dauerhaft spĂŒrbare Entlastungen fĂŒr Verbraucher und Firmen aber sind nicht in Sicht.

Dauerhafte Entlastung bei Strompreis nicht in Sicht – Wirtschaft weltweit – Pforzheimer-Zeitung

Welche Implikationen mit dieser Tatsache verbunden sind, steht bei alldem nicht im Fokus. Es wird nicht darĂŒber diskutiert, weil ja immer noch davon ausgegangen wird (sowas wie eine Staatsdoktrin), dass Deutschland als Vorbild bei den erneuerbaren Energien gilt.

Wie die Chinesen und Inder mit ihren Kohlekraftwerken, die schon allein deshalb nicht stillgelegt werden, weil in dieser Industrie Millionen von Menschen ihren Lebensunterhalt verdienen.

FlĂŒchtlingskrise

Auch in der FlĂŒchtlingskrise bilden wir uns ein, Vorbild sein zu mĂŒssen. Ich bin ganz ehrlich. Ich hĂ€tte alle FlĂŒchtlinge von Moria aufgenommen. Ich halte diese Hilfe fĂŒr unsere Pflicht als Menschen. Mein Wille scheitert aber schon am Widerstand meiner Frau. Sie sagt: „Wir können nicht alle aufnehmen“. Was soll ich darauf erwidern? Wir hĂ€tten es bei den 15.000 bewenden lassen und uns dann geweigert, FlĂŒchtlinge – sagen wir von Samos – aufzunehmen? So ist das mit meinem gutmenschlichen Gehabe. Einerseits wĂŒrde ich (das ist mein Ernst) jedem Menschen in Not helfen, andererseits gibt es viele – nicht nur gute – Argumente gegen meine Haltung.

Das wĂ€re auch ein klarer Fall fĂŒr die direkte Demokratie. Einem Votum wĂŒrde ich mich unterwerfen. Aber dazu kommt es nicht, weil wir mit unseren etwas ĂŒber 82 Millionen Einwohnern dafĂŒr angeblich ja nicht gestrickt sind. Ein paar andere ernstzunehmende GrĂŒnde gegen direkte Demokratie gibt’s sicher. Selbst dann, wenn sie von der falschen Seite kommen.

Corona

WĂ€hrend der PandemiebekĂ€mpfung erwarb sich unsere Regierung einen guten Ruf. Inzwischen scheinen doch leider viele eine Möglichkeit fĂŒr sich entdeckt zu haben, sich durch Fundamentalopposition ins „rechte Licht“ zu rĂŒcken. Zum GlĂŒck gibt es Meinungsumfragen. Sie zeigen ein immer noch ĂŒberraschend klares Bild, das die Maßnahmen der Regierung insgesamt trĂ€gt. Vielen scheint die Striktheit der Maßnahmen sogar noch nicht weit genug zu gehen. Vielleicht ist das typisch fĂŒr eine Gesellschaft mit hohem Durchschnittsalter? In anderen europĂ€ischen LĂ€ndern (Frankreich, Italien und Spanien) ist das scheinbar auch so.

Es gibt die Ebene der Politik und die des Volkes. Oppositionsparteien und regional ZustÀndige offenbaren in diesen Zeiten nicht unbedingt Geschlossenheit.

Premier Johnson glaubt ĂŒbrigens, dass die Corona-Lage in seinem Land deshalb so unterschiedlich im Vergleich zu anderen europĂ€ischen Staaten wĂ€re, weil die Briten besonders freiheitsliebend seien. Wahr ist, dass in Großbritannien sehr unterschiedliche Maßnahmen gegen Corona praktiziert werden. Die Londoner Zentralregierung hat in vielen Regionen des Landes keinen Einfluss mehr. Auch in Spanien versuchen konservative Parteien der linken Regierung am Zeug zu flicken – allerdings ziemlich erfolglos.

Eine alternde Bevölkerung im Land bedeutet nicht, dass sie weniger kritisch im Umgang mit den Anti-Corona-Maßnahmen wĂ€re, sie ist nur definitiv umsichtiger und vorsichtiger. Der Ă€ltere Teil der Bevölkerung steht den Maßnahmen ihrer Regierung eher positiv gegenĂŒber, wĂ€hrend viele jĂŒngere Leute eher kritisch dazu stehen. Daraus abzuleiten, dass die einen Ja-Sager oder die anderen unverantwortliche Idioten wĂ€ren, spiegelt leider ein typisches Beispiel fĂŒr unsere Zeit.

Austausch von Meinungen, freie MeinungsĂ€ußerung

Die Demokratie lebt vom Austausch unterschiedlichen Meinungen, von der Balance zwischen Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit. Vor allem aber lebt sie von Demokraten. Nun könnte man fragen, ob die Leute, die sich so fĂŒr die „strengen“ Maßnahmen der Regierung im Kampf gegen die Ausbreitung der Pandemie ins Zeug legen, Demokraten sind. Ich meine, angesichts der staatlichen Eingriffe könnte man auf die Idee kommen, dass vielen dieser Leute ihre persönliche Sicherheit weitaus wichtig ist als ein paar demokratische Grundrechte. Ich denke, sie alle handeln auf der Basis eines großen VerantwortungsgefĂŒhls.

Es sind viele, zuletzt ĂŒber 30%, denen die Maßnahmen der Regierung noch nicht weit genug gehen. Vielleicht nimmt angesichts der zweiten Welle die Zahl derer ab, die weiter gegen die Maßnahmen sind und die deshalb das Gegenteil fordern. NĂ€mlich, dass sich der Staat gefĂ€lligst nicht in dieser bevormundenden Art und Weise einmischen soll. Wenn man den Umfragen glaubt, kann die Zahl derer, die eher fĂŒr Freiheit und gegen staatliche FĂŒrsorge sind, nicht so groß sein. Aber die sagen was ganz anderes.

Dass viele Juristen sich zur Sache kritisch Ă€ußern, also zum Beispiel sagen, dass die „Regelungen“ des Infektionsschutzgesetzes unzureichend sind, hilft all denen aufs Pferd, die aus dieser Krise ihre ideologischen Vorteile ziehen wollen. Der Frage, ob wir BĂŒrgerinnen und BĂŒrger dem Staat gegenĂŒber „Gefolgsamkeit“ schuldig sind, lĂ€sst sich höchstens mit Umfragen begegnen. Außerdem haben der Staat und seine Vertreter, unterstĂŒtzt durch viele SachverstĂ€ndige eine Lage erzeugt, ĂŒber die sich trefflich streiten lĂ€sst. Der Historiker, Professor Nolte, sagt zum Beispiel:

Das VerhÀltnis zwischen Bedrohung, Angst und dem Sicherheitsversprechen des Staates ist heikel. Vor allem dann, wenn die Bedrohungsdiagnose auch politisch befördert wird.

Corona-Krise: Gefahr fĂŒr die Demokratie? Interview mit Historiker Paul Nolte | Politik

Da hat er sicher einen Punkt. Im Interview erwĂ€hnt Nolte mit keinem Wort die Tatsache, dass ĂŒberall auf der Welt Ă€hnliche VerhĂ€ltnisse gelten – jedenfalls in den demokratisch verfassten Staaten. Aber das scheint fĂŒr Juristen und Historiker offenbar bedeutungslos. Auch die Ärzte, die Gegenpositionen einnehmen – wie zuletzt der ÄrzteprĂ€sident höchst selbst – scheinen sich an einem Spezialwissen zu orientieren, das dem Otto-NormalbĂŒrger nicht zur VerfĂŒgung steht. Oft ist es allerdings so, dass sich alle Empfehlungen darauf beschrĂ€nken, alle Maßnahmen der Regierung einfach fallen zu lassen. Das mag jeder bewerten wie sie oder er möchte. FĂŒr mich ist dieses Meckern ohne Alternativen zu nennen, einfach bloß daneben!

Asoziale Medien verÀndern die Demokratie

All diese Herausforderungen finden in einer Umgebung statt, die sich durch die brutale Wettbewerbssituation zwischen herkömmlichen und digitalen Medien stark verÀndert hat.

Entweder werden wie in den USA, Ungarn, Polen und der TĂŒrkei Demagogen ins Amt gewĂ€hlt, die die Rechte von Minderheiten mit FĂŒĂŸen treten, oder eine Regierung verschanzt sich, freiheitliche Rechte garantierend, hinter technokratischen Entscheidungen – und verliert wie in Deutschland, Großbritannien und Frankreich zunehmend an VolksnĂ€he.

Yascha Mounk, deutsch-amerikanischer Politologe

Politische und gesellschaftliche Gewissheiten zerbröseln. Das fördern die asozialen Netzwerke nach KrÀften.

Facebook nutzt die Profilbildung, um sie als Instrument zur Steuerung von Meinung seiner Nutzer zu nutzen.

Dem Wahlkampfteam von Donald Trump standen 2016 bis zu 60.000 DatensĂ€tze pro WĂ€hler (Quelle: Julius van de Laar, Strategieberater) zur VerfĂŒgung. Bei Obama waren es 2012 ca. 20.000 DatensĂ€tze je WĂ€hler. Mit solchen Datenmengen lassen sich in der Vorbereitung zu Wahlen sicher einige Dinge ĂŒber die potenzielle WĂ€hler herausfiltern und fĂŒr erfolgreiche Kampagnen zu nutzen. ÂŻ\_(ツ)_/ÂŻ

Wir wissen darĂŒber inzwischen genug, um die Gefahren richtig abschĂ€tzen zu können. Konsequenzen aus diesem Wissen ziehen wir aber nicht. Es ist den meisten egal, wie der manipulative Charakter der SN-Systeme auf die Demokratie wirkt. Das ist ein krasser und unlösbarer Widerspruch zu der Diskussion um den Datenschutz bei der Corona-Warn-App.

Das Politiker versuchen, der Entwicklung durch die BekĂ€mpfung von Symptomen (Hass) Einhalt zu gebieten, ist rĂŒhrend. Leider kann das aus meiner Sicht schon allein deshalb nicht gelingen, weil die Zahl der Nutzer und damit automatisch auch derjenigen, die diesen Hass predigen, schlicht und einfach zu hoch ist. Bei solchen Zahlen, mit denen wir es in den asozialen Medien zu tun haben, finden sich keine adĂ€quaten Mitteln, um das PhĂ€nomen wirksam zu bekĂ€mpfen. Diesen Kampf wahlweise dem asozialen Netzwerk oder dem Staat zu ĂŒberlassen ist wahnwitzig und ist aussichtslos. Es besteht lĂ€ngst die Gewissheit, dass die Technik definitiv zur Beeinflussung demokratischer Prozesse genutzt werden.

Auch dann, wenn es Radikalen in den genutzten asozialen Netzwerken zu viel Restriktionen werden sollten, haben sie natĂŒrlich Ausweichmöglichkeiten. Auch dann, wenn die Reichweite vorerst geringer ist als in Netzwerken wie Twitter und Facebook sind die unbotmĂ€ĂŸigen, menschenverachtenden Botschaften unbehelligt dort zu platzieren. Die Betreiber schert das einen feuchten Kehricht. Sie entfalten auch bei Telegram, Tik Tok oder wie sie alle heißen mögen ihre unheilvolle Wirkung.

Neben den Problembereichen, die ich hier aufgelistet und aus meiner Sicht kommentiert habe, gibt es eine Vielzahl weiterer Dinge, die die Menschen im Land sehr unterschiedlich sehen und bewerten. Vielleicht ist es so, dass allein die Menge von Herausforderungen mit ihren daraus entstehenden Unsicherheiten dazu fĂŒhrt, dass wir ganz anders darĂŒber diskutieren als das frĂŒher ℱ der Fall gewesen ist. Wir sind unduldsam und hören uns gegenseitig nicht mehr in dem Maße zu, wie es in einem Diskurs vonnöten wĂ€re.

Poltische Magazine erklÀren nicht, vorzugsweise prangern sie an

Eine Voraussetzung dafĂŒr, dass die Gesellschaft wieder zusammenrĂŒckt, wĂ€re zum einen die Reduktion einer immer nur wachsenden KomplexitĂ€t. Das sagt sich so leicht. Außerdem könnte man mir vorhalten, dass die dabei irrtĂŒmlich davon ausgehe, dass viele Menschen Ursachen und ZusammenhĂ€nge der vielen Probleme nicht verstehen wĂŒrden. Ist es so anmaßend, das zu behaupten? Oder trifft es nicht einen wichtigen Punkt?

Nehmen wir das Beispiel Klimawandel. In Bedburg Rhein-Erft-Kreis gibt es fĂŒr die GrĂŒnen keine Schnitte zu gewinnen. Der Grund ist vielleicht der, dass die Partei sich nicht an BeschlĂŒsse voriger Regierungen gebunden fĂŒhlte und sich aus opportunistisch wirkenden GrĂŒnden auf die Seite von Friday for Future schlug. Wir sehen, dass direkte Betroffenheit von politischen Maßnahmen RĂŒckwirkungen aufs WĂ€hlerverhalten haben kann. In den vom Kohleausstieg betroffenen Gebieten in Ost-Deutschland (Lausitz) ist dieser Zusammenhang noch viel deutlicher.

Mainstream ist das Leid der anderen

Bei den Kommunalwahlen lagen die Ergebnisse der GrĂŒnen zwischen 5 und 8%. Die Zahlen sind auch, aber nicht allein, damit zu begrĂŒnden, dass die GrĂŒnen es im Osten grundsĂ€tzlich schwerer hĂ€tten als hier im Westen.

Es gibt den Zusammenhang zwischen dem Wahlverhalten der Menschen in den betroffenen Regionen und der Politik der GrĂŒnen. Es ist klar, dass das auch genauso sein sollte. So funktioniert Demokratie. Da die Arbeitsplatzverluste in den Regionen nicht ĂŒberall gleichermaßen wirken, sind die Ergebnisse der GrĂŒnen in umliegenden Gebieten oft viel besser.

GrĂŒne

Die GrĂŒnen stehen mit ihrem Thema im Licht, also in der Gunst der Zuschauer. Vielleicht ist das so, weil sie es verstanden haben. Die Volksparteien (angeblich ja ein Auslaufmodell) haben es von jeher als ihre Aufgabe gesehen, die großen gesellschaftlichen Themen unseres Landes „abzudecken“. Inzwischen sind diese Themen aber so komplex und undurchdringlich geworden, dass selbst Bundestagsabgeordnete zugeben, dass sie nicht wissen, worĂŒber sie eigentlich abgestimmt haben. Die GrĂŒnen haben sich nicht verzettelt. Sie bearbeiten vor allem Umweltthemen. Wie weit das allerdings trĂ€gt, bleibt abzuwarten. SpĂ€testens, wenn sie als Teil der nĂ€chsten Bundesregierung Verantwortung tragen, wird sich zeigen, wie es um ihre Substanz bestellt ist.

VerÀnderungen wecken Skepsis

Die Angst um ArbeitsplĂ€tze allein ist es jedoch nicht, die die Polarisierung auch bei diesem Themenfeld so stark antreibt. Die Stimmen derjenigen werden lauter, die die Energiewende insgesamt fĂŒr eine grundfalsche Entscheidung halten. Wir erleben, wie sich die Energiepreise entwickeln. Wir nehmen in Europa lĂ€ngst die Spitzenposition ein. Diejenigen, die in dem aus sicherheits- und klimapolitischen GrĂŒnden betriebenen Projekt ihre ideologische Basis haben (also vor allem die GrĂŒnen) nutzen die große Verunsicherung der Menschen in Sachen Klimawandel, um den kostentrĂ€chtigen Umbau, von dem nicht ausgemacht ist, welche Auswirkungen er auf lange Sicht fĂŒr unsere wirtschaftliche WettbewerbsfĂ€higkeit haben wird, durchzusetzen.

Da die Umfragen und Wahlergebnisse der GrĂŒnen beachtlich sind, ziehen andere Parteien nach, weil sie von diesem Trend profitieren wollen. Verfolgt man nun die Social-Media-Diskussionen, so bekommt man leicht den Eindruck, dass es mit dieser großen Zustimmung zum energiepolitischen Projekt der GrĂŒnen vielleicht doch nicht so weit her ist.

Ich bin gespannt, wie die deutsche Autoindustrie, deren Krise lange vor Corona begonnen hat, sich behaupten wird. Wer vermag wirklich zu sagen, welcher Teil diese Krise verursacht hat? Lag es am allgemeinen Schlechtreden der rĂŒckstĂ€ndigen deutschen Autoindustrie (vor allem in unseren Medien) oder dem hysterischen Vorwurf, dass der Umbau zu anderen Antriebsformen politisch nicht hinreichend gefördert wurde. Wer auch immer zu verantworten hat, dass wir vielleicht die rund 800.000 ArbeitsplĂ€tze plus x durch die Auswirkungen irgendwelcher Fehler ausgleichen mĂŒssen, der Änderungsprozess ist im Gange.

Stabil genug?

Ob sich die Politik in den umstrittenen Sektoren als falsch erweist oder nicht, ist fĂŒr die Frage nach der StabilitĂ€t unserer Demokratie nicht so relevant. Wir wissen, wie unterschiedlich die Leute ĂŒber die großen Linien der Politik denken. Wir neigen nicht wirklich dazu, unseren Standpunkte durch das Wirkenlassen anderer Argumente zu Ă€ndern. Wir streiten uns auf allen Social-Netzwerk-KanĂ€len; ich wĂŒnschte, es gĂ€be noch den Disput am Stammtisch. Der war oft nicht weniger boshaft, dafĂŒr aber weitaus geringerer Durchschlagskraft. Akute AnfĂ€lle individueller Dummheit blieben gewissermaßen isoliert.

FĂŒr sich genommen werden die unterschiedlichen Sichtweisen und die reaktiven Wirkungen des Staates oder seiner Institutionen, egal wie restriktiv sie unter den jeweiligen zeitlichen Gegebenheiten auch sein mögen, nicht so wirken, dass die Demokratie ins Wanken gerĂ€t. Aber machen wir uns nichts vor: Sie gehören zu den Elementen, die das Klima zwischen den am Diskurs beteiligten Gruppen nachhaltig negativ beeinflussen.

Ich behaupte, eine Demokratie bedingt einen funktionierenden Sozialstaat.

Wer kann beweisen, ob die USA deshalb keine Demokratie ist, nur weil dort ein Sozialstaat in unserem Sinne NICHT existiert? Viele europĂ€ische LĂ€nder haben einen Sozialstaat. Dass diese Sozialstaaten sehr unterschiedlich ausgeprĂ€gt sind und wirken, liegt wohl vor allem daran, wie die jeweiligen Bevölkerungen ihn begreifen. BĂŒrger in anderen europĂ€ischen Staaten mögen staatliche Bevormundung nicht. Allein dieser Tatsache werden die Unterschiede geschuldet sein.

Ich habe Schweden immer als besonders sozialstaatlich organisiertes Land wahrgenommen. WĂ€hrend der Corona-Krise habe ich gelesen, dass dort ĂŒber 80jĂ€hrige keine Chance mehr haben, im Notfall auf die Intensivstation zu kommen. In Großbritannien werden Menschen ĂŒber 65 keine neue HĂŒfte mehr bekommen. Dort wird ĂŒber diese Besonderheiten ĂŒberhaupt nicht diskutiert. Die Bevölkerung betrachtet die bestehenden Regeln als völlig normal. Was bei uns in Deutschland los ist, wenn etwas in dieser Art auch nur angesprochen wurde, haben Philipp Mißfelder oder Boris Palmer erlebt.

Mit Druck und Haltung andere Meinungen unterdrĂŒcken

Wenn davon gesprochen wird, dass die Basis unserer Demokratie erodiert, weil große Gruppen unserer Gesellschaft nicht mehr miteinander diskutieren wollen, stĂ¶ĂŸt man aktuell auf den Begriff „Cancel Culture“. SpĂ€testens an diesem Punkte sollten alle hellhörig geworden sein. Dass vor allem Rechte sich darĂŒber beklagen, heißt nicht zwangslĂ€ufig, dass der Vorwurf als solcher unberechtigt ist. Ich werde die Beispiele der letzten Zeit nicht auffĂŒhren. Aber es sind zu viele davon, als dass man dieses PhĂ€nomen einfach ignorieren oder bestreiten sollte. GrĂŒne und Linke tun das aber.

Sie anerkennen nicht, dass – egal wer – fĂŒr seine Äußerungen in Wort oder Bild nicht aus dem öffentlichen Angebot entfernt werden darf. Jedenfalls dann nicht, wenn man sich selbst als Demokrat bezeichnet. Mich erinnern die Maßnahmen (ĂŒber den Streit sind wir schon hinaus) an die BĂŒcherverbrennungen im dritten Reich. Nur, dass dieses Sakrileg in unseren Zeiten nicht von der SA exekutiert wird, sondern von virtuellen Trupps in den sozialen Netzwerken. Und zwar, das kann ich mir nicht verkneifen, meistens von denen, von denen ich es am wenigsten erwartet hatte. Von Linken!

Ich möchte wetten, dass es die gleichen Leute sind, die damals unter lautstarken „Je suis Charlie“-Rufen die SolidaritĂ€t mit Charlie Hebdo bekundet haben, nun unliebsame BĂŒcher mit gewissen Tendenzen zu unterdrĂŒcken suchen. Das ist indiskutabel!

All diese ScharmĂŒtzel stecken wir weg. Aber, wie ich schon schrieb, die Entwicklung unserer Diskursverhinderungskultur kann ein Klima bereiten, das keiner von uns wollen kann.

Wenn es in Deutschland aufgrund von Corona und der wachsenden Digitalisierung zu Massenarbeitslosigkeit kommt, dĂŒrfte eine intakte Diskussionskultur von grĂ¶ĂŸtem Nutzen sein. Wenn die Sozialsysteme (Arbeitslosengeld, Hartz IV, Renten) kollabieren, weil nicht mehr genĂŒgend Menschen sozialversicherungspflichtiger Arbeit nachgehen, ist der Weg fĂŒr Feinde der Demokratie frei. In diesem Fall werden uns auch all die furchtbaren Erfahrungen unserer Vorfahren nicht mehr davor schĂŒtzen und die Institutionen (Verfassung, EU), in die wir (teilweise) heute unser Vertrauen setzen, werden es ebenfalls nicht richten.

Horst Schulte

Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurĂŒck. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe seit meiner Geburt (auch aus Überzeugung) auf dem Land.

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Arbeitslose, corona, Demokratie, Deutschland, Energie, Klimawandel, Köppel, Meinungsfreiheit, Wahlkampf

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Merz und Lindner

13 Gedanken zu „Kann uns die Demokratie verloren gehen?“

    • Ach Horst, was hast Du denn da fĂŒr einen komischen Otto angelockt? Sowas braucht doch niemand 😀

      Ich bin noch nicht fertig mit dem Lesen, den Rest hebe ich mir fĂŒr heute Abend auf. Aber definitiv ein richtig toller Artikel!

      Antworten
  1. Wow, was fĂŒr ein toller Artikel! Es ist selten, dass jemand mal den großen Rundumblick wagt!

    Zu einzelnen Punkten:

    Social Media: Wenn man die Umfragen mit dem persönlichen Eindruck vergleicht, den mensch auf Twitter von der Debattenkultur und der Anzahl von „Hasspostings“ gewinnt, so zeigt sich regelmĂ€ĂŸig ein recht großer Unterschied: Die Zahl der „Hassprediger“ ist bei weitem nicht so hoch, wie es scheint. Schon eine recht kleine Gruppe kann einen ordentlichen Shitstorm entfachen, wenn sie koordiniert (das geht auch recht spontan) vorgeht.

    Ich habe ja selbst z.B. mehrere Twitter-Accounts (fĂŒr diverse Blogs einen je eigenen), ohne es je darauf angelegt zu haben, eine „Mengenwirkung“ vorzutĂ€uschen. Denkt man das weiter, kann jeder „Hassprediger“ locker 20 Accounts bedienen, zusammen mit Gleichgesinnten multipliziert sich das schnell – und wenn die alle in diesselbe Kerbe hauen, erweckt das schnell den Eindruck, sie seien die Mehrheit oder zumindest „sehr viele“.

    Klimawandel/ArbeitsplĂ€tze: Das ist ein lebensweltliches Dilemma, das die Politik nicht einfach lösen kann, egal welche Partei. Die „Substanz der GrĂŒnen“ wird mit Sicherheit weniger sichtbar, wenn sie in der Regierung sind – das ist zu erwarten und kaum verhinderbar.

    Menschen mögen keine VerĂ€nderungen und viele hĂ€ngen an ArbeitsplĂ€tzen, selbst wenn diese nicht besonders angenehm und umweltschĂ€dlich sind. Ich habe nie wirklich verstanden, warum in der Vergangenheit z.B. mehr Subventionen in die Kohle geflossen sind als es gekostet hĂ€tte, alle dort BeschĂ€ftigten bis an ihr Lebensende zu bezahlen! Und selbst konnte ich mich auch „arbeitslos“ immer problemlos beschĂ€ftigen, hatte da sogar meine politisch aktivsten (und sogar wirksamsten!) Zeiten. Aber ich muss akzeptieren, dass das nicht reprĂ€sentativ ist – also fĂ€llt mir auch nur ein, möglichst viel UnterstĂŒtzung beim Umstieg und Ausstieg zu leisten (=Sozialstaat).

    Was du nicht beschrieben hast:
    Insgesamt ist der Handlungsspielraum unserer Regierenden sehr viel begrenzter als viele in der Bevölkerung denken! Was da oft fĂŒr Forderungen kolportiert werden, zeigt aus meiner Sicht ein massives Defizit an politischer Bildung. „Merkel muss weg“ ist nur das krasseste Beispiel, da gibts Leute, die echt glauben, dann wĂ€r „alles gut“.
    Dass die Politik an Rechtsstaatlichkeit gebunden ist – was das bedeutet und WIE diese weiter entwickelt werden kann, darĂŒber scheint wenig bekannt (Juristerei ist Herrschaftswissen, nach wie vor).
    Dass sie darĂŒber hinaus eingebunden ist in EU-VertrĂ€ge (und darĂŒber hinaus an internationales Recht), beschrĂ€nkt den Handlungsspielraum sehr – und genau das ist ein Punkt, den rechtsradikale KrĂ€fte mit Erfolg aufgreifen können. Polen und Ungarn haben den Anfang gemacht und sich um manches nicht geschert, was eigentlich als EU-NoGo gilt. Was passiert? Wenig…
    Erdogan dreht grade wieder durch – aber gibt es nicht immer noch die „Beitrittsperspektive“ und entsprechende Zahlungen? Ab und an wird da etwas zeitweilig „ausgesetzt“, wenn ich recht erinnere… schon allein, dass ich (als fast News-Junky) es nicht weiß, spricht BĂ€nde!
    Manchmal denke ich, eine zweistufige EU wĂ€re mittlerweile besser: eine Kern-EU, die etwas stringenter agiert – und andere drumherum, mit denen man sich nicht ĂŒber alles einigen muss.

    So, erstmal belasse ich es dabei, es ist ja schier unmöglich, zu allem was zu sagen, was du angesprochen hast! (das schreckt vermutlich auch eigentlich Kommentierwillige ab – lass dich dadurch nicht demotivieren, der Artikel ist super und sehr anregend!

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  2. Was ich noch ganz vergessen hatte, aber unbedingt zum Thema gehört: Ist Demokratie ĂŒberhaupt noch als oberster politischer Wert anzusehen? Was, wenn Demokratie das Nötige nicht mehr liefern kann, weil zu wenige mitmachen?
    Ich komme drauf, weil gerade auf Twitter eine kleine Debatte ĂŒber „Ökodiktatur“ lĂ€uft.
    https://twitter.com/BerdSalz/status/1321421006624460801 (plus Kommenare). Beispiel-Argument:
    „Ökodiktatur ist unsere einzige Überlebenschance. Die Maßnahmen, die eigentlich erforderlich sind, werden niemals demokratisch durchgehen.“
    Das nur so als weitere ErgÀnzung.

    Antworten
  3. So, Horst, ich habe es endlich geschafft, den lĂ€ngsten Artikel ever™ zu lesen 🙂 Wie Claudia schon schrieb, ist es eigentlich unmöglich, auf alle Punkte einzugehen. Aber Du hast Einiges sehr gut herausgearbeitet.

    Als Grundprobleme der Entwicklungen – auch fĂŒr die Demokratie – , wie sie seit einiger Zeit immer stĂ€rker hervortreten, habe ich fĂŒr mich persönlich hauptsĂ€chlich 2 Dinge ausgemacht:

    1. InformationsĂŒberflutung und ÜberkomplexitĂ€t
    2. Bildungsdefizite

    Die Sozialen Netzwerke (SN) und ĂŒberhaupt das World Wide Web haben es geschafft, innerhalb weniger Jahrzehnte die Informationsvielfalt um mehrere Zehnerpotenzen zu vervielfachen. Was da an Informationen auf jeden Einzelnen niederprasselt, ist nicht mehr handlebar und kann nur noch gefiltert konsumiert werden. Diese Filter schafft sich entweder jeder selbst oder sie werden ihm vom Algorithmus des jeweiligen SN vorgegeben. Beides hat Nachteile: nicht jeder ist in der Lage, sinnvoll zu filtern und lebt in seiner Filterbubble – wenn allerdings der Filter vom Sozialen Netzwerk kommt, ist es genauso gefĂ€hrlich, denn dann entscheiden andere, was Du und ich sehen sollen. Eher schlichtere GemĂŒter können vielleicht auch nicht ĂŒber den Tellerrand hinausschauen und sind in einer Blase aus Hildmann, AgD, „Merkel muss weg!“ und Klimaskeptizismus gefangen. Zumal dann noch die entsprechenden (oftmals falschen) Telegram-KanĂ€le als mediale SĂ€ttigungsbeilage dazukommen.

    Das ist aber nicht nur ein deutsches Problem, in anderen hochentwickelten Industrienationen ist das Ă€hnlich. Die USA sind da ja mal echt die Krönung, da wurde der Begriff „Infowars“ begrĂŒndet und er findet statt, tagtĂ€glich. Die Rechtspopulisten in allen LĂ€ndern machen sich diese Fakten-Explosion gerne zunutze, indem sie einfache Antworten auf immer komplexere Fragen anbieten, die sich allerdings als komplette Luftnummer herausstellen, wenn es um die Wurst geht: was kam von der AgD denn Substanzielles wĂ€hrend der Corona-Krise? Außer einem Brandtner, der es total OK findet, ohne Maske im Zug zu fahren und sich auf dem Klo einzuschließen, wenn die Polizei ihn fragen will, was der Scheiß soll. Mehr kommt da nicht. Ach ja, und natĂŒrlich, dass sie grundsĂ€tzlich „dagegen“ sind. Gegen alles. GegenvorschlĂ€ge? Konstruktives? Fehlanzeige.

    Und schon sind wir bei der KomplexitĂ€t. Was frĂŒher™ noch ĂŒberschaubar war – man hat Zeitung gelesen und die Tagesschau geguckt – ist heute unĂŒbersichtlich und verwirrend. StĂŒndlich Ă€ndert sich die Welt und man erfĂ€hrt davon in Echtzeit. Wo frĂŒher am Stammtisch, wie Du sehr passend geschrieben hast, mal die Fetzen geflogen sind, weil in der Blöd-Zeitung ein Aufreger-Artikel stand, sind es heute Strukturen und Systeme, die nicht mehr verstanden werden können. Zumal niemand mehr weiß, wer denn eigentlich noch „Recht hat“. Ist es der Hildmann? Oder doch der Drosten? Gibt es eine Verschwörung im großen Stil? Oder weiß einfach nur niemand, wie zu agieren ist? (um mal beim Beispiel der Corona-Krise zu bleiben). Aber keine Sorge: die Blöd-Zeitung und die AgD wissen, wie’s geht!

    Dazu kommt die Dummheit der Menschen. Meine Mutter hatte mal gesagt: „FrĂŒher in der Schule konnte selbst das dĂŒmmste Kind in unserer Klasse richtig lesen und schreiben.“ Da ist was dran. Die absoluten Basics sind heute oft nicht vorhanden, da kann dann auch nichts mehr draus erwachsen. Die Leute verblöden leider immer mehr.

    Jetzt bin ich aber auf das Thema Deines Artikels eigentlich noch gar nicht eingegangen. Das werde ich jetzt nachholen 😉

    Um die Frage aus der Überschrift zu beantworten: eher nicht. Warum? Weil ich unsere Demokratie in Deutschland, die nach dem 2. Weltkrieg „designt“ wurde, fĂŒr ziemlich resilient erachte. Das parlamentarische System, die Gewaltenteilung und die Tatsache, dass es keinen allmĂ€chtigen Kanzler oder PrĂ€sidenten gibt, sind schon ziemlich harte Waffen gegen ein Kapern der Demokratie durch extreme KrĂ€fte. Die Zustimmungswerte zu den Altparteien™ sprechen ja auch eine klare Sprache. So schlimm können sie also nicht sein, denn sonst wĂŒrden sie ja nicht gewĂ€hlt werden. Die Extremen am rechten Rand haben zwar auch Prozente, aber zum GlĂŒck nicht genug, um zu regieren. Und das ist auch gut so.

    Wie können wir die Demokratie stĂ€rken? In meinen Augen durch Bildung und einen gut funktionierenden Sozialstaat. Denn es war doch schon immer so: arme, kranke, arbeitslose und abgehĂ€ngte Menschen wĂ€hlen extreme oder populistische Parteien und Politiker, weil sie auf die Versprechen der BauernfĂ€nger von Reichtum, Geld, Gesundheit und Anerkennung hereinfallen. Siehe Trump und Bolsonaro. Die RealitĂ€t sieht leider anders aus, denn außer blöden SprĂŒchen und Großmaulerei kommt da schon wieder nichts.

    Die Politik sollte insgesamt verbindlicher, menschlicher, nachvollziehbarer und konsequenter auftreten. Und versuchen, komplexe ZusammenhĂ€nge verstĂ€ndlich zu vermitteln. Hier ist einfach PĂ€dagogik gefragt, um Akzeptanz in der Bevölkerung zu erreichen. Denn nur der, der die Dinge versteht, fĂ€llt nicht auf LĂŒgen herein. Und das geht auch nur, wenn man die Sorgen der Bevölkerung ernst nimmt und bereit ist, in den Dialog zu treten (aber Du weißt ja: mangelnde Bildung, mangelndes Interesse, etc. stehen dem wieder entgegen – da beißt sich die Katze in den Schwanz).

    Zum Schluss noch ein Land, das meiner Meinung nach vieles richtig macht: Neuseeland. Hier wurde Jacinda Ardern mit großer Mehrheit bestĂ€tigt, weil sie eine menschliche Politik macht, die außerdem gut verstĂ€ndlich ist. FĂŒr mich ist Neuseeland eines der großen Leuchtfeuer der modernen Demokratie.

    Keine Regierung und keine Regierungsform sind perfekt. Aber die Demokratie ist die menschlichste Art, zu regieren, denke ich. Und deswegen kann und darf und sollte man zwar die Prozesse immer wieder infrage stellen und kritisieren, aber nicht die Demokratie als solche.

    Okay, meine Zeilen hĂ€tten auch ein eigener Blogartikel werden können, so ist es ein Kommentar unter einem wirklich hervorragenden Artikel geworden! 🙂

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