Kann uns die Demokratie ver­lo­ren gehen?

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von Horst Schulte

Lesezeit: 20 Min.

Die USA sind heu­te nicht mehr in der Lage sich auf eine Wirklichkeit zu eini­gen und des­halb sind sie auch nicht mehr in der Lage Probleme zu erken­nen zu ana­ly­sie­ren und zu handeln.

(Klaus Brinkbäumer, ehe­ma­li­ger Spiegel-Chefredakteur, Autor des Buches:
«Im Wahn: Die ame­ri­ka­ni­sche Katastrophe»)

Was glau­ben Sie, wie weit Deutschland von die­ser trau­ri­gen Zustandsbeschreibung noch ent­fernt ist? Reden nicht vie­le auch bei uns gern von Polarisierung der Gesellschaft? Aber viel­leicht ist das nur eine Übertreibung bezo­gen auf die USA, ein vor allem durch die erra­ti­sche Politik Trumps her­vor­ge­ru­fe­nes Unwohlsein, das bei nähe­rer Betrachtung nicht standhält? 

Ich ver­ste­he von dem, was in den USA geschieht zu wenig, um mir dar­über ein Urteil erlau­ben zu kön­nen. Dass mich so man­cher Bericht (nicht nur die ein biss­chen über­trie­ben schei­nen­den von Elmar Theveßen) über die Vorgänge in den USA erschüt­tert hat, wer­den vie­le nach­voll­zie­hen kön­nen. Dass es in Europa und Deutschland vie­le Menschen gibt, die Trump und sein Wirken gut fin­den, über­rascht und pro­vo­ziert mich immer noch, obwohl ich mich inzwi­schen an ver­que­re Sichtweisen gera­de auch wäh­rend der Corona-Pandemie gewöhnt habe.

Jetzt auch in Europa und Deutschland

Ich sehe gegen­über der ame­ri­ka­ni­schen Demokratie ein paar Vorteile in Deutschland, die trotz mei­ner begrenz­ten Kenntnisse über US-Verhältnisse ins Auge ste­chen. Da wäre zunächst ein­mal das Mehrparteiensystem, das auch nicht nur posi­ti­ve Seiten auf­weist, das trotz der bei Republikanern und Demokraten exis­tie­ren­den brei­ten poli­ti­schen Strömungen viel­leicht weni­ger zu pola­ri­sie­ren­den Effekten tendiert. 

Ich fin­de es nicht gut, dass US-Präsidenten in der Regel aus Familien stam­men, die nicht nur Einfluss, son­dern auch wahn­sin­nig viel Geld besit­zen. Man kann sagen, in den USA wird nie­mand Präsident, der nicht sehr reich und des­sen Familie nicht über gro­ßen Einfluss ver­fügt. Vielleicht war Präsident Obama eine Ausnahme? In den letz­ten Jahrzehnten gibt es jeden­falls genug Beispiele, die mei­ne Behauptung stüt­zen können. 

Dass Präsident Reagan mit­hil­fe der Mafia ins Amt kam, ist nicht weni­ger erschüt­ternd als manch ande­re Personalie. Dass Leute, die an der Spitze der Nahrungskette ste­hen, für nor­ma­le Bürger wenig tun, klingt doch nur auf den ers­ten Blick nach bos­haf­ter Unterstellung eines Antikapitalisten. Warum konn­te Trump Präsident wer­den? Doch nur des­halb, weil bestimm­te Bevölkerungsgruppen in den USA von allen demo­kra­ti­schen Parteien seit Jahrzehnten grob ver­nach­läs­sigt wurden.

Für sol­che Dramen ist das poli­ti­sche System in Deutschland nicht gemacht. Der Vorteil der auf zwei Amtsperioden begrenz­ten Präsidentschaften in den Vereinigten Staaten dage­gen, fällt posi­tiv ins Gewicht. Angela Merkel ist immer noch Bundeskanzlerin. Es gibt nicht weni­ge im Land – auch mit Einfluss – die sich sogar heu­te noch eine wei­te­re Amtszeit Merkels vor­stel­len kön­nen. Ich fän­de es gut, wenn die Amtszeiten der deut­schen Regierungschefs eben­falls auf zwei Legislaturperioden begrenzt wären. 

Nur zwei Legislaturperioden für Spitzenpersonal

Dass wir in den letz­ten Jahren bei­na­he durch­gän­gig von einer Großen Koalition regiert wur­den, ist nicht nur aus demo­kra­tie­theo­re­ti­schen Gründen ein Problem. Wir haben bei wich­ti­gen Fragestellungen der letz­ten Jahre (Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Pandemie) schmerz­haf­te Erfahrungen gemacht. Der Einfluss der Opposition und der Parlamente war zwi­schen­durch sogar der­art redu­ziert, dass man die Unterstützung der GroKo-Parteien brauch­te, um die zah­len­mä­ßi­ge Unwucht etwas zu redu­zie­ren. Wie schlecht das funk­tio­niert, sehen wir am Verhalten der GroKo, wenn es um die Arbeit in Untersuchungsausschüssen geht – wenn die­se denn über­haupt kon­sti­tu­iert wurden.

Wer geglaubt hat, dass die GroKo immer die rich­ti­gen Antworten geben wird und des­halb zum Wohle unse­res Landes arbei­ten wür­de, der dürf­te inzwi­schen eines Besseren belehrt wor­den sein. Es ist, glau­be ich, schon etwas dar­an, dass wir Bürgerinnen und Bürger in Deutschland ein biss­chen zu viel dar­auf ver­trau­en, dass der Staat es schon rich­ten wird. 

Wir über­deh­nen den Sozialstaat, in dem wir immer mehr Geld hin­ein­ste­cken, auf der ande­ren Seite aber nur wenig dar­auf ach­ten, wie effi­zi­ent das vie­le Geld wirkt. Es dau­ert oft end­los lan­ge, bis auf Fehlentwicklungen reagiert wird. Inzwischen liegt die Größenordnung für den Sozialausgaben pro Jahr in Deutschland bei über einer Billion Euro! Diese Zahl stammt noch aus der Vor-Corona-Zeit! Jetzt scheint das Koordinatensystem (Schwarze Null) voll­stän­dig aufgehoben. 

Das Land, in dem Milch und Honig fließen

Für die Maßnahmen der Regierung habe ich Verständnis, ich fin­de es mit­un­ter jedoch befremd­lich, mit wel­cher Selbstverständlichkeit und Anspruchshaltung man­che Gruppen unse­rer Gesellschaft Forderungen an den Staat rich­ten. Kann das auf Dauer funk­tio­nie­ren? Was pas­siert, wenn die hohe Verschuldung trotz des noch «bil­li­gen» Geldes dazu führt, dass Sozialleistungen mas­siv gekürzt werden? 

Ich fin­de, von Roger Köppel (schwei­ze­ri­sche Weltwoche) kommt gewöhn­lich nicht all­zu viel Kluges. Aber er hat den Vorteil der direk­ten Demokratie in einem Beitrag ein­mal sehr schön zusammengefasst.

Im Vergleich mit Ländern wie Frankreich oder Deutschland brauch­te es kei­ne star­ken Führungspersönlichkeiten (Macron, Kurz), die zuerst ein­mal in ihre jewei­li­ge Position gebracht wer­den muss­ten, nach­dem das ste­ti­ge anschwel­len­de Missfallen und Rumoren der Gesellschaft nicht mehr über­hört wer­den konn­te. In der Schweiz wer­den sys­tem­be­dingt poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Wünsche nach Veränderungen behut­sam und inter­es­san­ter­wei­se auch schnel­ler nach vorn entwickelt.

Ein gro­ßer Vorteil der direk­ten gegen­über der par­la­men­ta­ri­schen Demokratie · Horst Schulte

Etwas mehr von der Schweiz

Das ist mein Traum. Nicht die poli­ti­schen Parteien wür­den nach ihrem Gusto regie­ren, son­dern sie hiel­ten sich dar­an, was der Souverän ver­langt. Dass es in Deutschland anders ist und die Wahlen – auch ganz unab­hän­gig von nied­ri­gen oder hohen Wahlbeteiligungen – nicht wirk­lich viel bewir­ken, soll­ten wir an der Zusammensetzung unse­res Parlaments erken­nen. Damit mei­ne ich nicht das Auftauchen der AfD, son­dern die Zustände, die durch die GroKo fast zemen­tiert wirken.

Finanzkrise

Auch wenn die­ser Text einen ande­ren Schluss nahe­legt, es ist nicht so, dass ich per­sön­lich ein Problem mit Merkels Regierung hät­te. Ich war für die Maßnahmen der Regierung wäh­rend der Finanzkrise. Allerdings bin ich sehr ent­täuscht davon, dass über Akutmaßnahmen hin­aus, nichts von einer zukunfts­wei­sen­den Politik inner­halb der Eurogruppe und der EU ins­ge­samt zu sehen ist. Deutschland spielt dabei kei­ne gute Rolle. Man woll­te mit den getrof­fe­nen Maßnahmen Zeit gewin­nen. Die hat man bekom­men, ziel­füh­ren­de Lösungsmodelle jedoch nicht. So wird das irgend­wann ein­tre­ten, was die mir sehr unlieb­sa­men Kassandras der Szene seit Jahr und Tag an die Wand malen. 

Energiepreise

Als Merkel die Energiewende mit dem Ausstieg aus der Kernenergie ein­ge­lei­tet hat, gab es kei­nen poli­ti­schen Widerstand. Man könn­te behaup­ten, Merkel habe das Momentum für die Entscheidung genutzt. Die Umfragen waren nach Fukushima ja völ­lig ein­deu­tig. Nur, dass sich dar­an kaum einer erin­nern will.

Dass wir heu­te in Deutschland die höchs­ten Strompreise welt­weit zah­len und die Regierungen manch ande­rer Länder die deut­sche Entscheidung mit Kopfschütteln quit­tie­ren, inter­es­siert den sie­ges­ge­wis­sen Mainstream nicht. 

Mit einer mil­li­ar­den­teu­ren Deckelung der EEG-Umlage hat die Bundesregierung deut­lich höhe­re Strompreise im nächs­ten Jahr ver­hin­dert – dau­er­haft spür­ba­re Entlastungen für Verbraucher und Firmen aber sind nicht in Sicht.

Dauerhafte Entlastung bei Strompreis nicht in Sicht – Wirtschaft welt­weit – Pforzheimer-Zeitung

Welche Implikationen mit die­ser Tatsache ver­bun­den sind, steht bei all­dem nicht im Fokus. Es wird nicht dar­über dis­ku­tiert, weil ja immer noch davon aus­ge­gan­gen wird (sowas wie eine Staatsdoktrin), dass Deutschland als Vorbild bei den erneu­er­ba­ren Energien gilt. 

Wie die Chinesen und Inder mit ihren Kohlekraftwerken, die schon allein des­halb nicht still­ge­legt wer­den, weil in die­ser Industrie Millionen von Menschen ihren Lebensunterhalt verdienen. 

Flüchtlingskrise

Auch in der Flüchtlingskrise bil­den wir uns ein, Vorbild sein zu müs­sen. Ich bin ganz ehr­lich. Ich hät­te alle Flüchtlinge von Moria auf­ge­nom­men. Ich hal­te die­se Hilfe für unse­re Pflicht als Menschen. Mein Wille schei­tert aber schon am Widerstand mei­ner Frau. Sie sagt: «Wir kön­nen nicht alle auf­neh­men». Was soll ich dar­auf erwi­dern? Wir hät­ten es bei den 15.000 bewen­den las­sen und uns dann gewei­gert, Flüchtlinge – sagen wir von Samos – auf­zu­neh­men? So ist das mit mei­nem gut­mensch­li­chen Gehabe. Einerseits wür­de ich (das ist mein Ernst) jedem Menschen in Not hel­fen, ande­rer­seits gibt es vie­le – nicht nur gute – Argumente gegen mei­ne Haltung. 

Das wäre auch ein kla­rer Fall für die direk­te Demokratie. Einem Votum wür­de ich mich unter­wer­fen. Aber dazu kommt es nicht, weil wir mit unse­ren etwas über 82 Millionen Einwohnern dafür angeb­lich ja nicht gestrickt sind. Ein paar ande­re ernst­zu­neh­men­de Gründe gegen direk­te Demokratie gibt’s sicher. Selbst dann, wenn sie von der fal­schen Seite kommen. 

Corona

Während der Pandemiebekämpfung erwarb sich unse­re Regierung einen guten Ruf. Inzwischen schei­nen doch lei­der vie­le eine Möglichkeit für sich ent­deckt zu haben, sich durch Fundamentalopposition ins «rech­te Licht» zu rücken. Zum Glück gibt es Meinungsumfragen. Sie zei­gen ein immer noch über­ra­schend kla­res Bild, das die Maßnahmen der Regierung ins­ge­samt trägt. Vielen scheint die Striktheit der Maßnahmen sogar noch nicht weit genug zu gehen. Vielleicht ist das typisch für eine Gesellschaft mit hohem Durchschnittsalter? In ande­ren euro­päi­schen Ländern (Frankreich, Italien und Spanien) ist das schein­bar auch so. 

Es gibt die Ebene der Politik und die des Volkes. Oppositionsparteien und regio­nal Zuständige offen­ba­ren in die­sen Zeiten nicht unbe­dingt Geschlossenheit. 

Premier Johnson glaubt übri­gens, dass die Corona-Lage in sei­nem Land des­halb so unter­schied­lich im Vergleich zu ande­ren euro­päi­schen Staaten wäre, weil die Briten beson­ders frei­heits­lie­bend sei­en. Wahr ist, dass in Großbritannien sehr unter­schied­li­che Maßnahmen gegen Corona prak­ti­ziert wer­den. Die Londoner Zentralregierung hat in vie­len Regionen des Landes kei­nen Einfluss mehr. Auch in Spanien ver­su­chen kon­ser­va­ti­ve Parteien der lin­ken Regierung am Zeug zu fli­cken – aller­dings ziem­lich erfolglos. 

Eine altern­de Bevölkerung im Land bedeu­tet nicht, dass sie weni­ger kri­tisch im Umgang mit den Anti-Corona-Maßnahmen wäre, sie ist nur defi­ni­tiv umsich­ti­ger und vor­sich­ti­ger. Der älte­re Teil der Bevölkerung steht den Maßnahmen ihrer Regierung eher posi­tiv gegen­über, wäh­rend vie­le jün­ge­re Leute eher kri­tisch dazu ste­hen. Daraus abzu­lei­ten, dass die einen Ja-Sager oder die ande­ren unver­ant­wort­li­che Idioten wären, spie­gelt lei­der ein typi­sches Beispiel für unse­re Zeit. 

Austausch von Meinungen, freie Meinungsäußerung

Die Demokratie lebt vom Austausch unter­schied­li­chen Meinungen, von der Balance zwi­schen Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit. Vor allem aber lebt sie von Demokraten. Nun könn­te man fra­gen, ob die Leute, die sich so für die «stren­gen» Maßnahmen der Regierung im Kampf gegen die Ausbreitung der Pandemie ins Zeug legen, Demokraten sind. Ich mei­ne, ange­sichts der staat­li­chen Eingriffe könn­te man auf die Idee kom­men, dass vie­len die­ser Leute ihre per­sön­li­che Sicherheit weit­aus wich­tig ist als ein paar demo­kra­ti­sche Grundrechte. Ich den­ke, sie alle han­deln auf der Basis eines gro­ßen Verantwortungsgefühls. 

Es sind vie­le, zuletzt über 30%, denen die Maßnahmen der Regierung noch nicht weit genug gehen. Vielleicht nimmt ange­sichts der zwei­ten Welle die Zahl derer ab, die wei­ter gegen die Maßnahmen sind und die des­halb das Gegenteil for­dern. Nämlich, dass sich der Staat gefäl­ligst nicht in die­ser bevor­mun­den­den Art und Weise ein­mi­schen soll. Wenn man den Umfragen glaubt, kann die Zahl derer, die eher für Freiheit und gegen staat­li­che Fürsorge sind, nicht so groß sein. Aber die sagen was ganz anderes. 

Dass vie­le Juristen sich zur Sache kri­tisch äußern, also zum Beispiel sagen, dass die «Regelungen» des Infektionsschutzgesetzes unzu­rei­chend sind, hilft all denen aufs Pferd, die aus die­ser Krise ihre ideo­lo­gi­schen Vorteile zie­hen wol­len. Der Frage, ob wir Bürgerinnen und Bürger dem Staat gegen­über «Gefolgsamkeit» schul­dig sind, lässt sich höchs­tens mit Umfragen begeg­nen. Außerdem haben der Staat und sei­ne Vertreter, unter­stützt durch vie­le Sachverständige eine Lage erzeugt, über die sich treff­lich strei­ten lässt. Der Historiker, Professor Nolte, sagt zum Beispiel: 

Das Verhältnis zwi­schen Bedrohung, Angst und dem Sicherheitsversprechen des Staates ist hei­kel. Vor allem dann, wenn die Bedrohungsdiagnose auch poli­tisch beför­dert wird.

Corona-Krise: Gefahr für die Demokratie? Interview mit Historiker Paul Nolte | Politik

Da hat er sicher einen Punkt. Im Interview erwähnt Nolte mit kei­nem Wort die Tatsache, dass über­all auf der Welt ähn­li­che Verhältnisse gel­ten – jeden­falls in den demo­kra­tisch ver­fass­ten Staaten. Aber das scheint für Juristen und Historiker offen­bar bedeu­tungs­los. Auch die Ärzte, die Gegenpositionen ein­neh­men – wie zuletzt der Ärztepräsident höchst selbst – schei­nen sich an einem Spezialwissen zu ori­en­tie­ren, das dem Otto-Normalbürger nicht zur Verfügung steht. Oft ist es aller­dings so, dass sich alle Empfehlungen dar­auf beschrän­ken, alle Maßnahmen der Regierung ein­fach fal­len zu las­sen. Das mag jeder bewer­ten wie sie oder er möch­te. Für mich ist die­ses Meckern ohne Alternativen zu nen­nen, ein­fach bloß daneben!

Asoziale Medien ver­än­dern die Demokratie

All die­se Herausforderungen fin­den in einer Umgebung statt, die sich durch die bru­ta­le Wettbewerbssituation zwi­schen her­kömm­li­chen und digi­ta­len Medien stark ver­än­dert hat. 

Entweder wer­den wie in den USA, Ungarn, Polen und der Türkei Demagogen ins Amt gewählt, die die Rechte von Minderheiten mit Füßen tre­ten, oder eine Regierung ver­schanzt sich, frei­heit­li­che Rechte garan­tie­rend, hin­ter tech­no­kra­ti­schen Entscheidungen – und ver­liert wie in Deutschland, Großbritannien und Frankreich zuneh­mend an Volksnähe.

Yascha Mounk, deutsch-ame­ri­ka­ni­scher Politologe

Politische und gesell­schaft­li­che Gewissheiten zer­brö­seln. Das för­dern die aso­zia­len Netzwerke nach Kräften.

Facebook nutzt die Profilbildung, um sie als Instrument zur Steuerung von Meinung sei­ner Nutzer zu nutzen. 

Dem Wahlkampfteam von Donald Trump stan­den 2016 bis zu 60.000 Datensätze pro Wähler (Quelle: Julius van de Laar, Strategieberater) zur Verfügung. Bei Obama waren es 2012 ca. 20.000 Datensätze je Wähler. Mit sol­chen Datenmengen las­sen sich in der Vorbereitung zu Wahlen sicher eini­ge Dinge über die poten­zi­el­le Wähler her­aus­fil­tern und für erfolg­rei­che Kampagnen zu nut­zen. ¯\_(ツ)_/¯

Wir wis­sen dar­über inzwi­schen genug, um die Gefahren rich­tig abschät­zen zu kön­nen. Konsequenzen aus die­sem Wissen zie­hen wir aber nicht. Es ist den meis­ten egal, wie der mani­pu­la­ti­ve Charakter der SN-Systeme auf die Demokratie wirkt. Das ist ein kras­ser und unlös­ba­rer Widerspruch zu der Diskussion um den Datenschutz bei der Corona-Warn-App. 

Das Politiker ver­su­chen, der Entwicklung durch die Bekämpfung von Symptomen (Hass) Einhalt zu gebie­ten, ist rüh­rend. Leider kann das aus mei­ner Sicht schon allein des­halb nicht gelin­gen, weil die Zahl der Nutzer und damit auto­ma­tisch auch der­je­ni­gen, die die­sen Hass pre­di­gen, schlicht und ein­fach zu hoch ist. Bei sol­chen Zahlen, mit denen wir es in den aso­zia­len Medien zu tun haben, fin­den sich kei­ne adäqua­ten Mitteln, um das Phänomen wirk­sam zu bekämp­fen. Diesen Kampf wahl­wei­se dem aso­zia­len Netzwerk oder dem Staat zu über­las­sen ist wahn­wit­zig und ist aus­sichts­los. Es besteht längst die Gewissheit, dass die Technik defi­ni­tiv zur Beeinflussung demo­kra­ti­scher Prozesse genutzt werden.

Auch dann, wenn es Radikalen in den genutz­ten aso­zia­len Netzwerken zu viel Restriktionen wer­den soll­ten, haben sie natür­lich Ausweichmöglichkeiten. Auch dann, wenn die Reichweite vor­erst gerin­ger ist als in Netzwerken wie Twitter und Facebook sind die unbot­mä­ßi­gen, men­schen­ver­ach­ten­den Botschaften unbe­hel­ligt dort zu plat­zie­ren. Die Betreiber schert das einen feuch­ten Kehricht. Sie ent­fal­ten auch bei Telegram, Tik Tok oder wie sie alle hei­ßen mögen ihre unheil­vol­le Wirkung. 

Neben den Problembereichen, die ich hier auf­ge­lis­tet und aus mei­ner Sicht kom­men­tiert habe, gibt es eine Vielzahl wei­te­rer Dinge, die die Menschen im Land sehr unter­schied­lich sehen und bewer­ten. Vielleicht ist es so, dass allein die Menge von Herausforderungen mit ihren dar­aus ent­ste­hen­den Unsicherheiten dazu führt, dass wir ganz anders dar­über dis­ku­tie­ren als das frü­her ™ der Fall gewe­sen ist. Wir sind unduld­sam und hören uns gegen­sei­tig nicht mehr in dem Maße zu, wie es in einem Diskurs von­nö­ten wäre. 

Poltische Magazine erklä­ren nicht, vor­zugs­wei­se pran­gern sie an

Eine Voraussetzung dafür, dass die Gesellschaft wie­der zusam­men­rückt, wäre zum einen die Reduktion einer immer nur wach­sen­den Komplexität. Das sagt sich so leicht. Außerdem könn­te man mir vor­hal­ten, dass die dabei irr­tüm­lich davon aus­ge­he, dass vie­le Menschen Ursachen und Zusammenhänge der vie­len Probleme nicht ver­ste­hen wür­den. Ist es so anma­ßend, das zu behaup­ten? Oder trifft es nicht einen wich­ti­gen Punkt?

Nehmen wir das Beispiel Klimawandel. In Bedburg Rhein-Erft-Kreis gibt es für die Grünen kei­ne Schnitte zu gewin­nen. Der Grund ist viel­leicht der, dass die Partei sich nicht an Beschlüsse vori­ger Regierungen gebun­den fühl­te und sich aus oppor­tu­nis­tisch wir­ken­den Gründen auf die Seite von Friday for Future schlug. Wir sehen, dass direk­te Betroffenheit von poli­ti­schen Maßnahmen Rückwirkungen aufs Wählerverhalten haben kann. In den vom Kohleausstieg betrof­fe­nen Gebieten in Ost-Deutschland (Lausitz) ist die­ser Zusammenhang noch viel deutlicher. 

Mainstream ist das Leid der anderen

Bei den Kommunalwahlen lagen die Ergebnisse der Grünen zwi­schen 5 und 8%. Die Zahlen sind auch, aber nicht allein, damit zu begrün­den, dass die Grünen es im Osten grund­sätz­lich schwe­rer hät­ten als hier im Westen. 

Es gibt den Zusammenhang zwi­schen dem Wahlverhalten der Menschen in den betrof­fe­nen Regionen und der Politik der Grünen. Es ist klar, dass das auch genau­so sein soll­te. So funk­tio­niert Demokratie. Da die Arbeitsplatzverluste in den Regionen nicht über­all glei­cher­ma­ßen wir­ken, sind die Ergebnisse der Grünen in umlie­gen­den Gebieten oft viel besser. 

Grüne

Die Grünen ste­hen mit ihrem Thema im Licht, also in der Gunst der Zuschauer. Vielleicht ist das so, weil sie es ver­stan­den haben. Die Volksparteien (angeb­lich ja ein Auslaufmodell) haben es von jeher als ihre Aufgabe gese­hen, die gro­ßen gesell­schaft­li­chen Themen unse­res Landes «abzu­de­cken». Inzwischen sind die­se Themen aber so kom­plex und undurch­dring­lich gewor­den, dass selbst Bundestagsabgeordnete zuge­ben, dass sie nicht wis­sen, wor­über sie eigent­lich abge­stimmt haben. Die Grünen haben sich nicht ver­zet­telt. Sie bear­bei­ten vor allem Umweltthemen. Wie weit das aller­dings trägt, bleibt abzu­war­ten. Spätestens, wenn sie als Teil der nächs­ten Bundesregierung Verantwortung tra­gen, wird sich zei­gen, wie es um ihre Substanz bestellt ist.

Veränderungen wecken Skepsis

Die Angst um Arbeitsplätze allein ist es jedoch nicht, die die Polarisierung auch bei die­sem Themenfeld so stark antreibt. Die Stimmen der­je­ni­gen wer­den lau­ter, die die Energiewende ins­ge­samt für eine grund­fal­sche Entscheidung hal­ten. Wir erle­ben, wie sich die Energiepreise ent­wi­ckeln. Wir neh­men in Europa längst die Spitzenposition ein. Diejenigen, die in dem aus sicher­heits- und kli­ma­po­li­ti­schen Gründen betrie­be­nen Projekt ihre ideo­lo­gi­sche Basis haben (also vor allem die Grünen) nut­zen die gro­ße Verunsicherung der Menschen in Sachen Klimawandel, um den kos­ten­träch­ti­gen Umbau, von dem nicht aus­ge­macht ist, wel­che Auswirkungen er auf lan­ge Sicht für unse­re wirt­schaft­li­che Wettbewerbsfähigkeit haben wird, durchzusetzen. 

Da die Umfragen und Wahlergebnisse der Grünen beacht­lich sind, zie­hen ande­re Parteien nach, weil sie von die­sem Trend pro­fi­tie­ren wol­len. Verfolgt man nun die Social-Media-Diskussionen, so bekommt man leicht den Eindruck, dass es mit die­ser gro­ßen Zustimmung zum ener­gie­po­li­ti­schen Projekt der Grünen viel­leicht doch nicht so weit her ist. 

Ich bin gespannt, wie die deut­sche Autoindustrie, deren Krise lan­ge vor Corona begon­nen hat, sich behaup­ten wird. Wer ver­mag wirk­lich zu sagen, wel­cher Teil die­se Krise ver­ur­sacht hat? Lag es am all­ge­mei­nen Schlechtreden der rück­stän­di­gen deut­schen Autoindustrie (vor allem in unse­ren Medien) oder dem hys­te­ri­schen Vorwurf, dass der Umbau zu ande­ren Antriebsformen poli­tisch nicht hin­rei­chend geför­dert wur­de. Wer auch immer zu ver­ant­wor­ten hat, dass wir viel­leicht die rund 800.000 Arbeitsplätze plus x durch die Auswirkungen irgend­wel­cher Fehler aus­glei­chen müs­sen, der Änderungsprozess ist im Gange. 

Stabil genug?

Ob sich die Politik in den umstrit­te­nen Sektoren als falsch erweist oder nicht, ist für die Frage nach der Stabilität unse­rer Demokratie nicht so rele­vant. Wir wis­sen, wie unter­schied­lich die Leute über die gro­ßen Linien der Politik den­ken. Wir nei­gen nicht wirk­lich dazu, unse­ren Standpunkte durch das Wirkenlassen ande­rer Argumente zu ändern. Wir strei­ten uns auf allen Social-Netzwerk-Kanälen; ich wünsch­te, es gäbe noch den Disput am Stammtisch. Der war oft nicht weni­ger bos­haft, dafür aber weit­aus gerin­ge­rer Durchschlagskraft. Akute Anfälle indi­vi­du­el­ler Dummheit blie­ben gewis­ser­ma­ßen isoliert. 

Für sich genom­men wer­den die unter­schied­li­chen Sichtweisen und die reak­ti­ven Wirkungen des Staates oder sei­ner Institutionen, egal wie restrik­tiv sie unter den jewei­li­gen zeit­li­chen Gegebenheiten auch sein mögen, nicht so wir­ken, dass die Demokratie ins Wanken gerät. Aber machen wir uns nichts vor: Sie gehö­ren zu den Elementen, die das Klima zwi­schen den am Diskurs betei­lig­ten Gruppen nach­hal­tig nega­tiv beeinflussen. 

Ich behaup­te, eine Demokratie bedingt einen funk­tio­nie­ren­den Sozialstaat. 

Wer kann bewei­sen, ob die USA des­halb kei­ne Demokratie ist, nur weil dort ein Sozialstaat in unse­rem Sinne NICHT exis­tiert? Viele euro­päi­sche Länder haben einen Sozialstaat. Dass die­se Sozialstaaten sehr unter­schied­lich aus­ge­prägt sind und wir­ken, liegt wohl vor allem dar­an, wie die jewei­li­gen Bevölkerungen ihn begrei­fen. Bürger in ande­ren euro­päi­schen Staaten mögen staat­li­che Bevormundung nicht. Allein die­ser Tatsache wer­den die Unterschiede geschul­det sein. 

Ich habe Schweden immer als beson­ders sozi­al­staat­lich orga­ni­sier­tes Land wahr­ge­nom­men. Während der Corona-Krise habe ich gele­sen, dass dort über 80jährige kei­ne Chance mehr haben, im Notfall auf die Intensivstation zu kom­men. In Großbritannien wer­den Menschen über 65 kei­ne neue Hüfte mehr bekom­men. Dort wird über die­se Besonderheiten über­haupt nicht dis­ku­tiert. Die Bevölkerung betrach­tet die bestehen­den Regeln als völ­lig nor­mal. Was bei uns in Deutschland los ist, wenn etwas in die­ser Art auch nur ange­spro­chen wur­de, haben Philipp Mißfelder oder Boris Palmer erlebt.

Mit Druck und Haltung ande­re Meinungen unterdrücken

Wenn davon gespro­chen wird, dass die Basis unse­rer Demokratie ero­diert, weil gro­ße Gruppen unse­rer Gesellschaft nicht mehr mit­ein­an­der dis­ku­tie­ren wol­len, stößt man aktu­ell auf den Begriff «Cancel Culture». Spätestens an die­sem Punkte soll­ten alle hell­hö­rig gewor­den sein. Dass vor allem Rechte sich dar­über bekla­gen, heißt nicht zwangs­läu­fig, dass der Vorwurf als sol­cher unbe­rech­tigt ist. Ich wer­de die Beispiele der letz­ten Zeit nicht auf­füh­ren. Aber es sind zu vie­le davon, als dass man die­ses Phänomen ein­fach igno­rie­ren oder bestrei­ten soll­te. Grüne und Linke tun das aber. 

Sie aner­ken­nen nicht, dass – egal wer – für sei­ne Äußerungen in Wort oder Bild nicht aus dem öffent­li­chen Angebot ent­fernt wer­den darf. Jedenfalls dann nicht, wenn man sich selbst als Demokrat bezeich­net. Mich erin­nern die Maßnahmen (über den Streit sind wir schon hin­aus) an die Bücherverbrennungen im drit­ten Reich. Nur, dass die­ses Sakrileg in unse­ren Zeiten nicht von der SA exe­ku­tiert wird, son­dern von vir­tu­el­len Trupps in den sozia­len Netzwerken. Und zwar, das kann ich mir nicht ver­knei­fen, meis­tens von denen, von denen ich es am wenigs­ten erwar­tet hat­te. Von Linken!

Ich möch­te wet­ten, dass es die glei­chen Leute sind, die damals unter laut­star­ken «Je suis Charlie»-Rufen die Solidarität mit Charlie Hebdo bekun­det haben, nun unlieb­sa­me Bücher mit gewis­sen Tendenzen zu unter­drü­cken suchen. Das ist indiskutabel!

All die­se Scharmützel ste­cken wir weg. Aber, wie ich schon schrieb, die Entwicklung unse­rer Diskursverhinderungskultur kann ein Klima berei­ten, das kei­ner von uns wol­len kann. 

Wenn es in Deutschland auf­grund von Corona und der wach­sen­den Digitalisierung zu Massenarbeitslosigkeit kommt, dürf­te eine intak­te Diskussionskultur von größ­tem Nutzen sein. Wenn die Sozialsysteme (Arbeitslosengeld, Hartz IV, Renten) kol­la­bie­ren, weil nicht mehr genü­gend Menschen sozi­al­ver­si­che­rungs­pflich­ti­ger Arbeit nach­ge­hen, ist der Weg für Feinde der Demokratie frei. In die­sem Fall wer­den uns auch all die furcht­ba­ren Erfahrungen unse­rer Vorfahren nicht mehr davor schüt­zen und die Institutionen (Verfassung, EU), in die wir (teil­wei­se) heu­te unser Vertrauen set­zen, wer­den es eben­falls nicht richten. 


Horst Schulte

Herausgeber, Blogger, Amateurfotograf

Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe auf dem Land.

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Artikelinformationen

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13 Gedanken zu „Kann uns die Demokratie ver­lo­ren gehen?“

  1. du könn­test doch aus­wan­dern, viel­leicht gefällt es dir woan­ders viel besser.

  2. Wenn ich dann von Qualitätskommentaren wie dei­nem ver­schont blie­be, wäre es eine Überlegung wert. Aber ich fürch­te, sol­che Sichten wie dei­ne sind universal.

    • Ach Horst, was hast Du denn da für einen komi­schen Otto ange­lockt? Sowas braucht doch niemand 😀

      Ich bin noch nicht fer­tig mit dem Lesen, den Rest hebe ich mir für heu­te Abend auf. Aber defi­ni­tiv ein rich­tig tol­ler Artikel!

  3. Wow, was für ein tol­ler Artikel! Es ist sel­ten, dass jemand mal den gro­ßen Rundumblick wagt! 

    Zu ein­zel­nen Punkten:

    Social Media: Wenn man die Umfragen mit dem per­sön­li­chen Eindruck ver­gleicht, den mensch auf Twitter von der Debattenkultur und der Anzahl von «Hasspostings» gewinnt, so zeigt sich regel­mä­ßig ein recht gro­ßer Unterschied: Die Zahl der «Hassprediger» ist bei wei­tem nicht so hoch, wie es scheint. Schon eine recht klei­ne Gruppe kann einen ordent­li­chen Shitstorm ent­fa­chen, wenn sie koor­di­niert (das geht auch recht spon­tan) vorgeht. 

    Ich habe ja selbst z.B. meh­re­re Twitter-Accounts (für diver­se Blogs einen je eige­nen), ohne es je dar­auf ange­legt zu haben, eine «Mengenwirkung» vor­zu­täu­schen. Denkt man das wei­ter, kann jeder «Hassprediger» locker 20 Accounts bedie­nen, zusam­men mit Gleichgesinnten mul­ti­pli­ziert sich das schnell – und wenn die alle in diessel­be Kerbe hau­en, erweckt das schnell den Eindruck, sie sei­en die Mehrheit oder zumin­dest «sehr viele». 

    Klimawandel/​Arbeitsplätze: Das ist ein lebens­welt­li­ches Dilemma, das die Politik nicht ein­fach lösen kann, egal wel­che Partei. Die «Substanz der Grünen» wird mit Sicherheit weni­ger sicht­bar, wenn sie in der Regierung sind – das ist zu erwar­ten und kaum verhinderbar. 

    Menschen mögen kei­ne Veränderungen und vie­le hän­gen an Arbeitsplätzen, selbst wenn die­se nicht beson­ders ange­nehm und umwelt­schäd­lich sind. Ich habe nie wirk­lich ver­stan­den, war­um in der Vergangenheit z.B. mehr Subventionen in die Kohle geflos­sen sind als es gekos­tet hät­te, alle dort Beschäftigten bis an ihr Lebensende zu bezah­len! Und selbst konn­te ich mich auch «arbeits­los» immer pro­blem­los beschäf­ti­gen, hat­te da sogar mei­ne poli­tisch aktivs­ten (und sogar wirk­sams­ten!) Zeiten. Aber ich muss akzep­tie­ren, dass das nicht reprä­sen­ta­tiv ist – also fällt mir auch nur ein, mög­lichst viel Unterstützung beim Umstieg und Ausstieg zu leis­ten (=Sozialstaat).

    Was du nicht beschrie­ben hast:
    Insgesamt ist der Handlungsspielraum unse­rer Regierenden sehr viel begrenz­ter als vie­le in der Bevölkerung den­ken! Was da oft für Forderungen kol­por­tiert wer­den, zeigt aus mei­ner Sicht ein mas­si­ves Defizit an poli­ti­scher Bildung. «Merkel muss weg» ist nur das kras­ses­te Beispiel, da gibts Leute, die echt glau­ben, dann wär «alles gut».
    Dass die Politik an Rechtsstaatlichkeit gebun­den ist – was das bedeu­tet und WIE die­se wei­ter ent­wi­ckelt wer­den kann, dar­über scheint wenig bekannt (Juristerei ist Herrschaftswissen, nach wie vor).
    Dass sie dar­über hin­aus ein­ge­bun­den ist in EU-Verträge (und dar­über hin­aus an inter­na­tio­na­les Recht), beschränkt den Handlungsspielraum sehr – und genau das ist ein Punkt, den rechts­ra­di­ka­le Kräfte mit Erfolg auf­grei­fen kön­nen. Polen und Ungarn haben den Anfang gemacht und sich um man­ches nicht geschert, was eigent­lich als EU-NoGo gilt. Was pas­siert? Wenig…
    Erdogan dreht gra­de wie­der durch – aber gibt es nicht immer noch die «Beitrittsperspektive» und ent­spre­chen­de Zahlungen? Ab und an wird da etwas zeit­wei­lig «aus­ge­setzt», wenn ich recht erin­ne­re… schon allein, dass ich (als fast News-Junky) es nicht weiß, spricht Bände!
    Manchmal den­ke ich, eine zwei­stu­fi­ge EU wäre mitt­ler­wei­le bes­ser: eine Kern-EU, die etwas strin­gen­ter agiert – und ande­re drum­her­um, mit denen man sich nicht über alles eini­gen muss. 

    So, erst­mal belas­se ich es dabei, es ist ja schier unmög­lich, zu allem was zu sagen, was du ange­spro­chen hast! (das schreckt ver­mut­lich auch eigent­lich Kommentierwillige ab – lass dich dadurch nicht demo­ti­vie­ren, der Artikel ist super und sehr anregend!

  4. Was ich noch ganz ver­ges­sen hat­te, aber unbe­dingt zum Thema gehört: Ist Demokratie über­haupt noch als obers­ter poli­ti­scher Wert anzu­se­hen? Was, wenn Demokratie das Nötige nicht mehr lie­fern kann, weil zu weni­ge mitmachen?
    Ich kom­me drauf, weil gera­de auf Twitter eine klei­ne Debatte über «Ökodiktatur» läuft.
    https://​twit​ter​.com/​B​e​r​d​S​a​l​z​/​s​t​a​t​u​s​/​1​3​2​1​4​2​1​0​0​6​6​2​4​4​6​0​801 (plus Kommenare). Beispiel-Argument:
    «Ökodiktatur ist unse­re ein­zi­ge Überlebenschance. Die Maßnahmen, die eigent­lich erfor­der­lich sind, wer­den nie­mals demo­kra­tisch durchgehen.»
    Das nur so als wei­te­re Ergänzung.

  5. So, Horst, ich habe es end­lich geschafft, den längs­ten Artikel ever™ zu lesen 🙂 Wie Claudia schon schrieb, ist es eigent­lich unmög­lich, auf alle Punkte ein­zu­ge­hen. Aber Du hast Einiges sehr gut herausgearbeitet.

    Als Grundprobleme der Entwicklungen – auch für die Demokratie – , wie sie seit eini­ger Zeit immer stär­ker her­vor­tre­ten, habe ich für mich per­sön­lich haupt­säch­lich 2 Dinge ausgemacht:

    1. Informationsüberflutung und Überkomplexität
    2. Bildungsdefizite

    Die Sozialen Netzwerke (SN) und über­haupt das World Wide Web haben es geschafft, inner­halb weni­ger Jahrzehnte die Informationsvielfalt um meh­re­re Zehnerpotenzen zu ver­viel­fa­chen. Was da an Informationen auf jeden Einzelnen nie­der­pras­selt, ist nicht mehr hand­le­bar und kann nur noch gefil­tert kon­su­miert wer­den. Diese Filter schafft sich ent­we­der jeder selbst oder sie wer­den ihm vom Algorithmus des jewei­li­gen SN vor­ge­ge­ben. Beides hat Nachteile: nicht jeder ist in der Lage, sinn­voll zu fil­tern und lebt in sei­ner Filterbubble – wenn aller­dings der Filter vom Sozialen Netzwerk kommt, ist es genau­so gefähr­lich, denn dann ent­schei­den ande­re, was Du und ich sehen sol­len. Eher schlich­te­re Gemüter kön­nen viel­leicht auch nicht über den Tellerrand hin­aus­schau­en und sind in einer Blase aus Hildmann, AgD, «Merkel muss weg!» und Klimaskeptizismus gefan­gen. Zumal dann noch die ent­spre­chen­den (oft­mals fal­schen) Telegram-Kanäle als media­le Sättigungsbeilage dazukommen.

    Das ist aber nicht nur ein deut­sches Problem, in ande­ren hoch­ent­wi­ckel­ten Industrienationen ist das ähn­lich. Die USA sind da ja mal echt die Krönung, da wur­de der Begriff «Infowars» begrün­det und er fin­det statt, tag­täg­lich. Die Rechtspopulisten in allen Ländern machen sich die­se Fakten-Explosion ger­ne zunut­ze, indem sie ein­fa­che Antworten auf immer kom­ple­xe­re Fragen anbie­ten, die sich aller­dings als kom­plet­te Luftnummer her­aus­stel­len, wenn es um die Wurst geht: was kam von der AgD denn Substanzielles wäh­rend der Corona-Krise? Außer einem Brandtner, der es total OK fin­det, ohne Maske im Zug zu fah­ren und sich auf dem Klo ein­zu­schlie­ßen, wenn die Polizei ihn fra­gen will, was der Scheiß soll. Mehr kommt da nicht. Ach ja, und natür­lich, dass sie grund­sätz­lich «dage­gen» sind. Gegen alles. Gegenvorschläge? Konstruktives? Fehlanzeige.

    Und schon sind wir bei der Komplexität. Was frü­her™ noch über­schau­bar war – man hat Zeitung gele­sen und die Tagesschau geguckt – ist heu­te unüber­sicht­lich und ver­wir­rend. Stündlich ändert sich die Welt und man erfährt davon in Echtzeit. Wo frü­her am Stammtisch, wie Du sehr pas­send geschrie­ben hast, mal die Fetzen geflo­gen sind, weil in der Blöd-Zeitung ein Aufreger-Artikel stand, sind es heu­te Strukturen und Systeme, die nicht mehr ver­stan­den wer­den kön­nen. Zumal nie­mand mehr weiß, wer denn eigent­lich noch «Recht hat». Ist es der Hildmann? Oder doch der Drosten? Gibt es eine Verschwörung im gro­ßen Stil? Oder weiß ein­fach nur nie­mand, wie zu agie­ren ist? (um mal beim Beispiel der Corona-Krise zu blei­ben). Aber kei­ne Sorge: die Blöd-Zeitung und die AgD wis­sen, wie’s geht!

    Dazu kommt die Dummheit der Menschen. Meine Mutter hat­te mal gesagt: «Früher in der Schule konn­te selbst das dümms­te Kind in unse­rer Klasse rich­tig lesen und schrei­ben.» Da ist was dran. Die abso­lu­ten Basics sind heu­te oft nicht vor­han­den, da kann dann auch nichts mehr draus erwach­sen. Die Leute ver­blö­den lei­der immer mehr.

    Jetzt bin ich aber auf das Thema Deines Artikels eigent­lich noch gar nicht ein­ge­gan­gen. Das wer­de ich jetzt nachholen 😉

    Um die Frage aus der Überschrift zu beant­wor­ten: eher nicht. Warum? Weil ich unse­re Demokratie in Deutschland, die nach dem 2. Weltkrieg «designt» wur­de, für ziem­lich resi­li­ent erach­te. Das par­la­men­ta­ri­sche System, die Gewaltenteilung und die Tatsache, dass es kei­nen all­mäch­ti­gen Kanzler oder Präsidenten gibt, sind schon ziem­lich har­te Waffen gegen ein Kapern der Demokratie durch extre­me Kräfte. Die Zustimmungswerte zu den Altparteien™ spre­chen ja auch eine kla­re Sprache. So schlimm kön­nen sie also nicht sein, denn sonst wür­den sie ja nicht gewählt wer­den. Die Extremen am rech­ten Rand haben zwar auch Prozente, aber zum Glück nicht genug, um zu regie­ren. Und das ist auch gut so.

    Wie kön­nen wir die Demokratie stär­ken? In mei­nen Augen durch Bildung und einen gut funk­tio­nie­ren­den Sozialstaat. Denn es war doch schon immer so: arme, kran­ke, arbeits­lo­se und abge­häng­te Menschen wäh­len extre­me oder popu­lis­ti­sche Parteien und Politiker, weil sie auf die Versprechen der Bauernfänger von Reichtum, Geld, Gesundheit und Anerkennung her­ein­fal­len. Siehe Trump und Bolsonaro. Die Realität sieht lei­der anders aus, denn außer blö­den Sprüchen und Großmaulerei kommt da schon wie­der nichts.

    Die Politik soll­te ins­ge­samt ver­bind­li­cher, mensch­li­cher, nach­voll­zieh­ba­rer und kon­se­quen­ter auf­tre­ten. Und ver­su­chen, kom­ple­xe Zusammenhänge ver­ständ­lich zu ver­mit­teln. Hier ist ein­fach Pädagogik gefragt, um Akzeptanz in der Bevölkerung zu errei­chen. Denn nur der, der die Dinge ver­steht, fällt nicht auf Lügen her­ein. Und das geht auch nur, wenn man die Sorgen der Bevölkerung ernst nimmt und bereit ist, in den Dialog zu tre­ten (aber Du weißt ja: man­geln­de Bildung, man­geln­des Interesse, etc. ste­hen dem wie­der ent­ge­gen – da beißt sich die Katze in den Schwanz).

    Zum Schluss noch ein Land, das mei­ner Meinung nach vie­les rich­tig macht: Neuseeland. Hier wur­de Jacinda Ardern mit gro­ßer Mehrheit bestä­tigt, weil sie eine mensch­li­che Politik macht, die außer­dem gut ver­ständ­lich ist. Für mich ist Neuseeland eines der gro­ßen Leuchtfeuer der moder­nen Demokratie.

    Keine Regierung und kei­ne Regierungsform sind per­fekt. Aber die Demokratie ist die mensch­lichs­te Art, zu regie­ren, den­ke ich. Und des­we­gen kann und darf und soll­te man zwar die Prozesse immer wie­der infra­ge stel­len und kri­ti­sie­ren, aber nicht die Demokratie als solche.

    Okay, mei­ne Zeilen hät­ten auch ein eige­ner Blogartikel wer­den kön­nen, so ist es ein Kommentar unter einem wirk­lich her­vor­ra­gen­den Artikel geworden! 🙂

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