Melancholie? Nicht unbedingt.

Horst Schulte

3 Minuten

Das Foto, das ich gestern bei einem Spaziergang am See gemacht habe, erzählt eine Geschichte – oder vielleicht sogar einige ganz verschiedene. Denn je länger ich über die Szene nachdenke, desto mehr Möglichkeiten fallen mir ein.

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Alter Mann auf dem Weg zum Rendezvous.

Ein alter Mann spaziert leicht nach vorn gebeugt. Er hat einen Strauß prächtiger roter Rosen dabei. Klar, der naheliegende Gedanke ist, dass er sie zum Friedhof bringt (der ist nicht weit entfernt), um seiner verstorbenen Frau einen Besuch abzustatten. Für mich ein naheliegender Gedanke – melancholisch, aber auf eine Art auch beruhigend. Schließlich liegt in dieser Geste etwas zutiefst Vertrautes und Beständiges. Vielleicht geht er diesen Weg schon seit Jahren, jedes Mal mit einem Strauß in der Hand, immer die gleichen Schritte, immer die gleiche Bank, an der er kurz innehält.

Aber es kann auch anders sein – ganz anders. Vielleicht sind die Rosen gar nicht für das Grab seiner Frau, sondern für seine neue Flamme! Ja, genau – warum nicht? Er könnte sich ganz bewusst diese Bank ausgesucht haben, um dort auf jemanden zu warten. Vielleicht hat er kürzlich auf einem der vielen Seniorennachmittage eine charmante Dame kennengelernt, mit der er sich blendend versteht. Sie verstehen sich so gut, dass sie es kaum erwarten konnte, ihn wiederzusehen. Und er? Nun ja, er hat extra die schönsten Rosen ausgesucht, um sie zu beeindrucken. Man ist ja schließlich auch im fortgeschrittenen Alter nicht völlig aus der Übung, was das Werben angeht.

Und dann gibt es natürlich noch die Möglichkeit, dass der Mann einfach die Rosen aus dem Garten einer Nachbarin „geliehen“ hat, weil er schlicht keine Lust hatte, beim Blumenladen anzustehen. Vielleicht sitzt er jetzt auf der Bank und überlegt, ob es klug war, diese Rosen mitzunehmen, oder ob er beim nächsten Spaziergang unangenehme Fragen zu erwarten hat.

Es erinnert mich an meinen Patenonkel, der nach dem Tod seiner Frau für lange Zeit allein war. Auch bei ihm hätten die meisten gedacht, das Kapitel Liebe sei für ihn abgeschlossen. Doch eines Tages machte er einen Ausflug in die Eifel – ganz spontan und in seinem alten Audi 80. Der Grund? Er hatte sich erinnert, dass seine Jugendfreundin dort irgendwo wohnte. Jahrzehnte hatte er keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt. Aber warum nicht, dachte er sich, und machte sich auf die Suche. Und siehe da, er fand sie! Ihr Mann war mittlerweile verstorben, und bevor sich jemand versah, hatten die beiden wieder zueinander gefunden. Es folgten einige glückliche Jahre, die man so eher in einem Rosamunde-Pilcher-Roman erwarten würde.

So kann es eben auch gehen. Die Rosen auf der Bank könnten also der Beginn eines neuen Kapitels sein – vielleicht sogar einer späten Romanze. Oder, wer weiß, vielleicht hat der Mann einfach nur seinen Hochzeitstag vergessen und hofft, dass die Rosen alles wieder gutmachen.

Am Ende erzählt das Foto vielleicht nicht nur eine Geschichte. Es hält die Türen zu vielen verschiedenen Möglichkeiten offen – und jede davon hat ihren eigenen, ganz speziellen Charme.

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Horst Schulte
Herausgeber, Blogger, Autor und Hobby-Fotograf
Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 70 Jahre alt und lebe seit meiner Geburt in Bedburg, nicht weit von Köln entfernt. Meine Themen sind Politik und ihre Auswirkungen auf unsere Gesellschaft und ein wenig mehr.

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4 Gedanken zu „Melancholie? Nicht unbedingt.“

  1. Was für eine schöne Beobachtung und weitere Gedanken!

    Der Mann könnte auch auf dem Weg zum ersten Treffen mit seiner baldigen Schwiegertochter sein. Er klingelt an der Haustür, sein Sohn öffnet, sieht die etwas unpassenden roten Rosen, verdreht die Augen und sagt: „Papa, du bist schon wieder peinlich!“ Seine Verlobte kommt hinzu, freut sich wahnsinnig und gibt ihm einen Stubs: „Die Blumen deines Vaters sind schöner als die, die du mir mitgebracht hast. Denk da mal selber nach!“ Und dann verschwinden sie alle lachend in der Wohnung.

    Es gäbe tausend weitere Möglichkeiten.

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