Melancholie? Nicht unbedingt.

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Das Foto, das ich ges­tern bei einem Spa­zier­gang am See gemacht habe, erzählt eine Geschich­te – oder viel­leicht sogar eini­ge ganz ver­schie­de­ne. Denn je län­ger ich über die Sze­ne nach­den­ke, des­to mehr Mög­lich­kei­ten fal­len mir ein.

Ein alter Mann spa­ziert leicht nach vorn gebeugt. Er hat einen Strauß präch­ti­ger roter Rosen dabei. Klar, der nahe­lie­gen­de Gedan­ke ist, dass er sie zum Fried­hof bringt (der ist nicht weit ent­fernt), um sei­ner ver­stor­be­nen Frau einen Besuch abzu­stat­ten. Für mich ein nahe­lie­gen­der Gedan­ke – melan­cho­lisch, aber auf eine Art auch beru­hi­gend. Schließ­lich liegt in die­ser Ges­te etwas zutiefst Ver­trau­tes und Bestän­di­ges. Viel­leicht geht er die­sen Weg schon seit Jah­ren, jedes Mal mit einem Strauß in der Hand, immer die glei­chen Schrit­te, immer die glei­che Bank, an der er kurz innehält.

Aber es kann auch anders sein – ganz anders. Viel­leicht sind die Rosen gar nicht für das Grab sei­ner Frau, son­dern für sei­ne neue Flam­me! Ja, genau – war­um nicht? Er könn­te sich ganz bewusst die­se Bank aus­ge­sucht haben, um dort auf jeman­den zu war­ten. Viel­leicht hat er kürz­lich auf einem der vie­len Senio­ren­nach­mit­ta­ge eine char­man­te Dame ken­nen­ge­lernt, mit der er sich blen­dend ver­steht. Sie ver­ste­hen sich so gut, dass sie es kaum erwar­ten konn­te, ihn wie­der­zu­se­hen. Und er? Nun ja, er hat extra die schöns­ten Rosen aus­ge­sucht, um sie zu beein­dru­cken. Man ist ja schließ­lich auch im fort­ge­schrit­te­nen Alter nicht völ­lig aus der Übung, was das Wer­ben angeht.

Und dann gibt es natür­lich noch die Mög­lich­keit, dass der Mann ein­fach die Rosen aus dem Gar­ten einer Nach­ba­rin „gelie­hen“ hat, weil er schlicht kei­ne Lust hat­te, beim Blu­men­la­den anzu­ste­hen. Viel­leicht sitzt er jetzt auf der Bank und über­legt, ob es klug war, die­se Rosen mit­zu­neh­men, oder ob er beim nächs­ten Spa­zier­gang unan­ge­neh­me Fra­gen zu erwar­ten hat.

Es erin­nert mich an mei­nen Paten­on­kel, der nach dem Tod sei­ner Frau für lan­ge Zeit allein war. Auch bei ihm hät­ten die meis­ten gedacht, das Kapi­tel Lie­be sei für ihn abge­schlos­sen. Doch eines Tages mach­te er einen Aus­flug in die Eifel – ganz spon­tan und in sei­nem alten Audi 80. Der Grund? Er hat­te sich erin­nert, dass sei­ne Jugend­freun­din dort irgend­wo wohn­te. Jahr­zehn­te hat­te er kei­nen Kon­takt mehr zu ihr gehabt. Aber war­um nicht, dach­te er sich, und mach­te sich auf die Suche. Und sie­he da, er fand sie! Ihr Mann war mitt­ler­wei­le ver­stor­ben, und bevor sich jemand ver­sah, hat­ten die bei­den wie­der zuein­an­der gefun­den. Es folg­ten eini­ge glück­li­che Jah­re, die man so eher in einem Rosa­mun­de-Pilcher-Roman erwar­ten würde.

So kann es eben auch gehen. Die Rosen auf der Bank könn­ten also der Beginn eines neu­en Kapi­tels sein – viel­leicht sogar einer spä­ten Roman­ze. Oder, wer weiß, viel­leicht hat der Mann ein­fach nur sei­nen Hoch­zeits­tag ver­ges­sen und hofft, dass die Rosen alles wie­der gutmachen.

Am Ende erzählt das Foto viel­leicht nicht nur eine Geschich­te. Es hält die Türen zu vie­len ver­schie­de­nen Mög­lich­kei­ten offen – und jede davon hat ihren eige­nen, ganz spe­zi­el­len Charme.

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Horst Schulte
Rentner, Blogger & Hobbyfotograf
Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe seit meiner Geburt (auch aus Überzeugung) auf dem Land.

Schlagworte: Alter Leben

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4 Gedanken zu „Melancholie? Nicht unbedingt.“

  1. Lie­ber Horst
    Was für ein wun­der­ba­rer Blog­post. Wie schön hast Du das anrüh­ren Foto inter­pre­tiert. VG Susanne

  2. Was für eine schö­ne Beob­ach­tung und wei­te­re Gedanken! 

    Der Mann könn­te auch auf dem Weg zum ers­ten Tref­fen mit sei­ner bal­di­gen Schwie­ger­toch­ter sein. Er klin­gelt an der Haus­tür, sein Sohn öff­net, sieht die etwas unpas­sen­den roten Rosen, ver­dreht die Augen und sagt: „Papa, du bist schon wie­der pein­lich!“ Sei­ne Ver­lob­te kommt hin­zu, freut sich wahn­sin­nig und gibt ihm einen Stubs: „Die Blu­men dei­nes Vaters sind schö­ner als die, die du mir mit­ge­bracht hast. Denk da mal sel­ber nach!“ Und dann ver­schwin­den sie alle lachend in der Wohnung. 

    Es gäbe tau­send wei­te­re Möglichkeiten.

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