Gießen im Ausnahmezustand: Protest, Polizei und Tichys Wut-Skript

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von Horst Schulte

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gewalt escalation giessen afd jugend proteste
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In Gießen hat sich am Wochenende entladen, was sich seit Langem im politischen Klima aufgebaut hat. Dazu zählen auch die Umfrageergebnisse für die AfD, die viele Menschen in unserem Land mit Sorge und letztlich mit Zorn erfüllen. Die gesellschaftlichen Konfliktlinien treten nun angesichts überbordender Probleme in so vielen Bereichen unseres Landes offen zutage. Ich fürchte, das markiert eher den Anfang als ein Ende. Sicher, dass Weimar sich nicht wiederholt? Normalerweise finden solche Auseinandersetzungen eher in Großstädten statt. Dort finden sie aus Gewöhnungsgründen weniger mediale Beachtung als die Vorgänge, die in Gießen samt dem gegebenen Anlass zu Gewaltexzessen und einer grandiosen Empörungswelle unter rechten Publizisten führten.

Eine Stadt im Ausnahmezustand, 25.000 bis 50.000 Menschen auf der Straße, eine neu gegründete AfD-Jugendorganisation in den Messehallen, Blockaden, Verletzte – und danach ein erbitterter Kampf um die Deutung der Ereignisse.

Während vor Ort Wasserwerfer, Schlagstöcke, Pyro und Steine im Einsatz waren, liefen im Netz schon die Narrative heiß. Eines der lautesten stammt – wenig überraschend – von Roland Tichy, der aus Gießen eine Mischung aus Bürgerkrieg und „linksterroristischem Umsturz“ bastelt und dabei die eigene Rolle im Eskalationsgeschehen geflissentlich ausspart.

Was in Gießen passiert ist

Der Anlass ist klar umrissen: In Gießen gründet die AfD ihre neue Jugendorganisation „Generation Deutschland“. Während drinnen der Nachwuchs des Rechtsaußen-Spektrums tagt, formiert sich draußen ein breites Bündnis aus Gewerkschaften, Kirchen, Parteien, antifaschistischen Gruppen, Studierendeninitiativen und bürgerlichen Bündnissen. Viele kommen, um Flagge zu zeigen, andere, um mit Blockaden den Ablauf zu stören.

Das Land Hessen spricht von rund 25.000 Gegendemonstrierenden bei 26 Gegenveranstaltungen, das Bündnis „Widersetzen“ von über 50.000 Teilnehmenden. In einer Pressemitteilung des Innenministeriums ist von 15 Blockaden die Rede, von denen fünf durch die Polizei aufgelöst wurden. Die Zahl der gewaltbereiten Personen beziffert Innenminister Roman Poseck (CDU) mit etwa 1.000. Die Bilanz des Innenministeriums gibt es hier.

Parallel berichten Medien von einer Einsatzkulisse, die eher an G20 erinnert als an eine mittlere Universitätsstadt: bis zu 5.000 Polizeikräfte, Wasserwerfer, Räumpanzer, Reiterstaffel. Laut Deutschlandfunk und ZDFheute wurden mehr als 50 Polizist:innen verletzt – durch Schläge, Tritte und Böllerwürfe.

Die Gegenseite spricht von einem hohen Preis: Der Landkreis Gießen meldet laut ZEIT mindestens 36 verletzte Demonstrierende, darunter ein gebrochenes Nasenbein und Kopfverletzungen; die Uniklinik Gießen-Marburg berichtet von 15 ambulant behandelten Verletzten. Das Bündnis „Widersetzen“ prangert „willkürliche und brutale Gewalt“ der Polizei an, dokumentiert in zahlreichen Videos, die im Netz kursieren und von Medien wie KATAPULT MV aufgegriffen werden.

Die Palette der Protestformen reicht vom Demokratiefest über eine Schülerdemo bis hin zu konsequenten Sitzblockaden rund um die Messe. Die taz spricht von einem „breiten Zeichen gegen rechts“, weist aber ebenso auf harte Polizeieinsätze gegen Blockierer:innen hin. Der Konfliktforscher Simon Teune bezeichnet die Blockaden in der Welt immerhin als „sehr geordnet“ – bei aller Schärfe des Konflikts.

Und mitten in diesem Gemenge aus Protestroutinen, Angst vor der AfD, Anspannung der Behörden und einer bis zum Anschlag aufgeheizten Debatte geschieht das, was dann symbolisch über allem schwebt: der Angriff auf das Team von Tichys Einblick. In einem Video, das der Verlag selbst verbreitet – etwa hier bei Facebook –, schildert Tichy den Vorfall: Ein Sprecher des Gegenbündnisses ruft angeblich dazu auf, das Team „von der Straße zu drängen“, dann wird der Kameramann angegriffen, die Kamera ins Gesicht geschlagen, die Gruppe bedrängt.

Dass dieser Angriff inakzeptabel ist, muss man eigentlich nicht dazusagen: Journalist:innen angreifen – egal, was man von ihrem Medium hält – ist ein Angriff auf die Pressefreiheit, Punkt. Ich schrieb über Paul Ronzheimers Erfahrungen, ebenfalls in Gießen, die ebenso wie der Angriff auf das TE-Team verabscheuungswürdig sind!

Die Deutungsschlacht: Erfolg, Skandal oder „linker Terror“?

Nach dem Wochenende prallen die Erzählungen so heftig aufeinander wie zuvor Polizeiketten und Blockaden. Die Landesregierung betont die Bedrohung, die von „linksextremistischen Gewalttätern“ ausgehe, und verteidigt den Einsatz als notwendigen Schutz der Versammlungsfreiheit – inklusive AfD-Jugendtreffen. In mehreren Statements, etwa gegenüber Deutschlandfunk und WELT, spricht Poseck von einem „erheblichen Gewaltpotenzial“ und einem insgesamt „erfolgreichen Einsatz“, der noch Schlimmeres verhindert habe.

Hessens Ministerpräsident Boris Rhein nennt die Szenen in Gießen in der WELT einen „linken Tiefpunkt“ und fordert von linken Parteien eine klare Distanzierung von der Gewalt.

Auf der anderen Seite kritisieren linke und zivilgesellschaftliche Akteure die Polizei scharf. Die Linken-Chefin Ines Schwerdtner nennt die Proteste in der WELT „absolut legitim“, staatliche Organe hätten durch Schlagstöcke und Pfefferspray unverhältnismäßig reagiert; sie fordert eine unabhängige Kommission zur Aufklärung der Polizeigewalt. Das Bündnis „Widersetzen“ bewertet die Blockaden als großen Erfolg: Man habe die Anreise von AfD-Funktionären erschwert und die Gründung der neuen Jugendorganisation deutlich verzögert, wie unter anderem Handelsblatt und WELT berichten.

Zwischen diesen Polen sitzen die Bilder: Wasserwerfer gegen frierende Blockierer:innen, Verletzte auf beiden Seiten, wütende Parolen, aber auch ein Demokratiefest, Familien, Chöre, Plakate. Die taz sieht „viele bunte, friedliche Aktionen“ – und eine Polizei, die an entscheidenden Punkten lieber räumt als deeskaliert. Die Süddeutsche Zeitung verweist auf die juristische Grauzone zwischen Versammlungsfreiheit, Blockaderecht und Polizeitaktik.

Kurz gesagt: Gießen war beides – beeindruckender Massenprotest gegen eine Partei, die viele als Gefahr für die Demokratie sehen, und ein Schauplatz von Gewalt, die niemand schönreden sollte.

Tichys Skript und die Frage nach der Verantwortung

Und dann ist da Roland Tichy. Sein großer Text zu den Ereignissen trägt den bezeichnenden Titel „Terror in Gießen, Angriff auf unseren Wohlstand – und ein Bundeskanzler, der beides schönredet“. Schon die Überschrift verrät, wohin die Reise geht: Gießen wird zur Chiffre für ein von „linksterroristischen Gruppen“ dominiertes Deutschland, in dem „planlose Polizei“, „willfährige Gerichte“ und ein „Bürgermeister, der den Angriff auf die Stadt koordiniert“, das Grundgesetz faktisch außer Kraft gesetzt hätten.

Um fair zu bleiben: Tichy und sein Team sind in Gießen tatsächlich angegriffen worden. Die Gewalt gegen das Kamerateam, die er in seinem Video und Text beschreibt, ist nicht wegzudiskutieren. Dass Journalist:innen – und seien sie noch so reaktionär – körperlich attackiert werden, ist ein klarer Tabubruch.

Aber wie Tichy diesen realen Angriff erzählt, ist eine Geschichte für sich. Tichy musste sich offenbar ein Skript zurechtlegen, um – aufgeregt wie er war – überhaupt die „richtigen“ Worte zu finden. Und dieses Skript kennt er gut: Es ist das immer gleiche Stück, in dem Gewerkschaften, Kirchen, linke NGOs und Politiker:innen als Handlanger eines „linken Straßenmobs“ erscheinen, der die Demokratie zerstören will.

Statt zu fragen, warum in Gießen tausende Menschen – auch weit jenseits „der Antifa“ – bereit sind, eine AfD-Jugendorganisation zu blockieren, statt einzuräumen, dass seine eigene Plattform seit Jahren mit Begriffen wie „Altparteien“, „Migrationsinvasion“, „linkem Terror“ und ähnlichem arbeitet, stellt Tichy sich und „sein“ Gießen als Opfer eines quasi-koordinierten Vernichtungsfeldzugs dar.

Schon Wochen vor dem Kongress inszeniert Tichys Einblick Gießen als Frontabschnitt. Im Artikel „Gießen: Generalmobilmachung gegen eine Jugendorganisation“ wird die erlaubte Demo gegen die AfD schon als Vorstufe zur Gewalt beschrieben, die „Gewalt gegen Andersdenkende“ wieder hoffähig mache. Später, nach den Ausschreitungen, folgen Videos mit Titeln wie „Gießen brennt, Altmedien pudern die Täter“ – die Dramatisierung nimmt den Platz der Analyse ein.

Dass es Gründe für die Wut und die Entschlossenheit vieler Menschen in Gießen gibt, kommt in dieser Dramaturgie nicht vor: die Radikalisierung der AfD, ihre Nähe zu extrem rechten Netzwerken, die Angst von Minderheiten, die Erfahrung mit rechtem Terror von Mölln bis Hanau. Wer so tut, als sei Gießen einfach ein von „linken Terrorbanden“ überfallenes Idyll, macht aus einer komplexen Eskalation ein bequemes Gut-Böse-Märchen.

Und ja: Zu dieser Eskalation haben Tichy und sein Produkt Tichys Einblick ihren Anteil. Wer über Jahre pausenlos von „linker Gesinnungsdiktatur“, „Terror der Antifa“ und „Verfassungsfeinden in Regierung und Kirchen“ schreibt, wer gewaltfreie Blockaden und brutale Angriffe in einen Topf wirft, der liefert die begriffliche Munition, mit der am Ende jede Form des Protests als „Terror“ markiert werden kann – und jede Gegenreaktion von rechts als Notwehr.

Das entschuldigt nicht die Gewalt gegen sein Team, genauso wenig wie sie die Tritte gegen Polizisten, die Attacken auf AfD-Politiker oder die Schlagstockeinsätze gegen Demonstrierende entschuldigt. Aber es rückt die Frage nach Verantwortung zurecht: Medien wie Tichys Einblick sind nicht neutrale Beobachter, die „unter Beschuss geraten sind“, sie sind – wie alle anderen publizistischen Akteure – Teil des Klimas, in dem Gießen eskaliert ist.

Vielleicht ist das Bitterste an dieser ganzen Episode, dass ausgerechnet diejenigen, die seit Jahren gegen „Hass und Hysterie“ in den „Mainstream-Medien“ wettern, selbst längst von der Empörung leben. Gießen bietet ihnen die perfekte Bühne: brennende Bilder im Kopf, dramatische Begriffe, das bequeme Narrativ vom „linken Terror“. Ein nüchterner Blick auf Ursachen, Fehler und Verantwortung auf allen Seiten stört da nur.

Wer aus Gießen lernen will, kommt um drei unbequeme Sätze nicht herum:


Erstens: Gewalt – egal von wem – schadet der Demokratie und spielt am Ende immer denen in die Hände, die auf Eskalation setzen.


Zweitens: Der Protest gegen die AfD in Gießen war in seiner Breite und Friedlichkeit ein starkes Signal – und genau das versuchen rechte Medien jetzt zu übertönen.


Drittens: Wer die Ereignisse nur nutzt, um die eigenen Feindbilder zu bedienen, wird die nächste Eskalation eher befeuern als verhindern.


Horst Schulte

Herausgeber, Blogger, Amateurfotograf

Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe auf dem Land.

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