Macht Deutschland die »dümmste Energiepolitik der Welt«?

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von Horst Schulte

Lesezeit: 6 Min.

„Das Wall Street Journal sagt zur deutschen Energiepolitik, es ist die dümmste der Welt.“

Die blonde Einpeitscherin in Diensten des Focus und Kollegin von Jan Fleischhauer (im Nebenberuf auch für Ulrich Reitz in gleicher Funktion tätig) kommentiert und provoziert den Herrn und Meister zur schaurigen Bespiegelung deutscher Politik. Für mich erscheint das Format etwas zu regelmäßig, aber offenbar kommt’s an. Ich stelle mir vor, wie viele Rechte und Frustrierte an den Bildschirmen sitzen und ihre Schenkel malträtieren – vor lauter Begeisterung über solche Sprüche wie den, dass unsere Energiepolitik die dümmste der Welt sei. Die Frage ist für mich noch nicht abschließend beantwortet.

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Die Dame hat jedenfalls ein gutes Gedächtnis, denn das Zitat ist schon sechs Jahre alt. Oder sie hat es irgendeinem der zigfachen und trotz fragwürdigster Aussagen weiter in Umlauf befindlichen rechten Memes entnommen. Das WSJ hat als Inbegriff kapitalistischer Grundüberzeugungen seine Gründe, die Dinge so zu sehen. Es ging allerdings nicht um die Ampel oder gar die Merz-Regierung, sondern um Merkels Regierung 2019, die mit diesen Worten attackiert wurde.

Das WSJ ist bekanntermaßen und wenig überraschend, kein Fan nicht wirtschaftskonformer Politik. So hatte der bis 2005 (sic?) auch für die Achse des Guten schreibende Spezialist für regierungsabgewandte Kommentare, Michael Miersch, deutsche Politik in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit und schlechter makroökonomischer Kennzahlen mit viel Häme Schröders Regierung bedacht. Und das, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits die Agenda 2010 – die fälschlicherweise hochgelobte – in Gang gesetzt war. Ihr haben wir Altersarmut (schlechte Renten) und einen immer noch erklecklich umfangreichen Niedriglohnsektor zu verdanken. Ich halte es mit Ulrike Herrmann, die wie ich überzeugt war, dass sich die wirtschaftliche Erholung mit der Zeit von selbst eingestellt hätte. Das ist dieses Mal anders, weil wir es mit einer Strukturkrise zu tun haben und nicht mit einem Durchhänger der Konjunktur.

Während die deutsche Gesellschaft unter Massenarbeitslosigkeit, Rekorddefiziten, mikroskopischem Wirtschaftswachstum und astronomischen Staatsschulden stöhnt, recyceln die Parteien die wirtschaftlichen Illusionen von gestern. Der Slogan für den diesjährigen Wahlkampf könnte lauten: Es sind die Emotionen, Dummkopf! Seit über zwei Jahren schreiben und sprechen die Medien fast ununterbrochen über Reformen. Jetzt, wo eine politische Transformation tatsächlich möglich ist, hat sich eine gewisse Ermüdung eingestellt. Es ist einfacher zu vergessen als zu verändern. Reformen sind etwas für Talkshows, nicht für die Realität und schon gar nicht für Wahlkampagnen. Die weiterhin regierenden Sozialdemokraten wollen ihre Popularität durch eine Zusatzsteuer für Reiche steigern – in einem Land, in dem die obersten 10 % der Einkommensbezieher bereits die Hälfte der gesamten Einkommenssteuer zahlen.
Quelle WSJ 2015

Hier der Begleittext zum aktuellen Video von Herrn Fleischhauer:

»Früher hatte die SPD Leute wie Klaus Wowereit und Gerhard Schröder, heute hat sie vor allem Genossen, denen es wichtiger ist, parteiintern Gegner fertigzumachen, als Wahlen zu gewinnen. Erst mal eine Landebahn für Privatflieger in den Urwald holzen. Und dann den dusseligen Europäern Milliarden an Klimahilfe aus der Tasche leiern. Willkommen bei der Klimakonferenz im brasilianischen Belém. Die Welt wartet auf die Premiere des großen Robert-Habeck-Films: Sichern Sie sich jetzt Ihr Ticket mit dem Schwarzen Kanal!«

Dumme Umweltpolitik ist in ganz Europa an der Tagesordnung – siehe Emmanuel Macrons Aufruhr auslösende Kraftstoffsteuer in Frankreich –, aber selbst nach diesem Maßstab ist Deutschlands neuer Plan, aus der Kohle auszusteigen, bemerkenswert. Nachdem unzählige Milliarden Euro für erneuerbare Energien verschwendet und deutschen Haushalten und Unternehmen einige der höchsten Energiepreise Europas auferlegt wurden, verspricht Berlin nun, die einzige zuverlässige Energiequelle, die Deutschland noch bleibt, zu zerstören.
Quelle WSJ 2019

Eine weitere Erklärung für das Wiederaufleben der Kohle ist die politische Ablehnung der grünen Linken in Deutschland gegenüber der Kernenergie, deren Anteil an der Stromerzeugung von 12,6 % auf 6,4 % sank, da drei Reaktoren abgeschaltet wurden und in diesem Frühjahr nur noch drei übrig blieben. Deutschland könnte seine Schiefergasreserven als sauberere Alternative zur Kohle nutzen, aber auch diese Option ist politisch toxisch. So sorgt Kohle in einer urkomischen grünen Ironie dafür, dass die Lichter nicht ausgehen.
Quelle2023

All das sind Aussagen der englischsprachigen Version des Wall Street Journal (WSJ).

Da stand sie, die Regierung aus Olaf Scholz (SPD), Robert Habeck (Grüne) und Christian Lindner (FDP) – als großer Abgesandter des Fortschritts, wie sie sich grandios im Koalitionsvertrag angekündigt hatte: „Klimaneutralität“, „Nachhaltigkeit“, „Vorreiter Europa“. Das waren die Ambitionen, die vom Verfassungsgericht und nicht zuletzt von Putin pulverisiert wurden. Mit welchen infamen Maßnahmen die Union die Vorhaben der vorherigen Regierung hintertrieben hat (ich sage nur Schuldenbremse), scheint längst vergessen. Obwohl die Umfragewerte der Merz-Regierung diesbezüglich etwas ganz anderes aussagen.

Immer noch präsent sind die Anpeitscher der politischen Erregung – jene Kommentatoren wie Fleischhauer, Ulrich Reitz und andere, die gern laut trommeln und deren Beliebtheit bei Lesern (jedenfalls des Focus) mich immer wieder irritiert. Was soll man angesichts der krass veränderten geopolitischen Weltlage anderes tun, als den Weg weiterzugehen, der unumkehrbar scheint?

Welche Änderungen hat die neue Regierung nach 6 Monaten vorgenommen, welche Abschwächung ursprünglicher Vorhaben gibt es?

  • Stromsteuer: Im Koalitionsvertrag war eine Senkung der Stromsteuer „für alle“ angekündigt. Beschlossen wurde, die Senkung nur für Industrie und Land-/Forstwirtschaft gelten zu lassen – nicht für alle Verbraucher
  • Entlastung der Industrie bei Strom: Es ist vorgesehen, energieintensive Unternehmen durch niedrigeres Strompreisniveau gezielt zu entlasten. Das kann bedeuten: Priorität für Industrie statt breite Bevölkerung
  • Heizung/Gebäudeenergiegesetz (GEG): Es gibt Berichte über Uneinigkeit und mögliche Abschwächung bei der Novellierung des Heizungs- und Gebäudereglements – Förderbedingungen, Austauschfristen oder Anforderungen könnten weniger strikt werden.  


Der Fokus scheint stärker auf Wirtschaftsentlastung und Industrieposition gelegt zu werden – also: Klimaschutzmaßnahmen werden nicht grundsätzlich gekippt, aber sie könnten zugunsten wirtschaftlicher/standortpolitischer Prioritäten gemildert werden.

Die USA, China und Russland waren bei der COP30 nicht präsent.

Studien verweisen darauf, dass große Produzentenländer ihre Pläne zur Steigerung der fossilen Brennstoffproduktion bis 2030 nicht nur nicht reduziert haben –sondern teilweise erhöhen: Laut dem „Production Gap Report“ sollen Staaten wie China, Indien, Russland und die USA Produktion von Kohle/Öl/Gas weit über das mit dem Pariser Abkommen verträgliche Niveau hinaus planen.

Offenbar glauben viele, dass Deutschland es genauso halten sollte. Sie verbinden damit offenbar die Hoffnung, die strukturellen Nachteile unseres Landes kompensieren zu können. Das ist so dumm, dass man es fast nicht glauben möchte. Andererseits frage ich mich, wie wir die eigene (möglichst günstigere) Stromversorgung vor dem Hintergrund der laufenden Debatten und Meinungsunterschiede sicherstellen wollen. Im Oktober gabs Dunkelflauten zuhauf. Wir haben Atomstrom aus Frankreich bezogen. Welche grundlastfähige Energie steht uns heute zur Verfügung? Es stellt sich weiterhin die Frage, ob das eine dauerhafte Lösung des Problems darstellt bzw. was wir machen müssen, um die fehlende Versorgung mit Strom für die Zukunft dauerhaft auszugleichen.


Horst Schulte

Herausgeber, Blogger, Amateurfotograf

Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe auf dem Land.

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