Gestern beim SPD-Sonderparteitag, dem ich bei Phoenix stundenlang folgte, habe ich in den Reden nur ein paar Passagen gehört, die mir wirklich gefallen haben. Die beste Rede war für mich die vom Jungstar der SPD, dem Jusovorsitzenden, Kevin Kühnert.
Sein Vortrag war, wie inzwischen schon gewöhnt, konsistent, selbstsicher und im Ton kämpferisch aber fair im Ton. Er ist halt auch nur 3 Jahre jünger als jener österreichische Politiker, der inzwischen zum Kanzler „aufgestiegen“ ist. Natürlich ist es schwierig, Sebastian Kurz mit Kevin Kühnert zu vergleichen. Kurz ist die Hoffnung des rechts-nationalen Lagers und die deutschen rechts-nationalen verehren Kurz über alle Maßen. So war die Kritik an Sandra Maischberger absehbar, die Kurz in ihrer Sendung zugegebenermaßen nicht gerade respektvoll behandelt hat. Manchen Zuschauern war dieser Umgang mit dem Regierungschef eines befreundeten Nachbarlandes geradezu peinlich.
Auch andere Juso-Mitglieder lieferten m.E. teilweise gute Redebeiträge. Ja, mich stimmt das froh, weil es zeigt, dass die SPD lebt – allen Unkenrufen zum Trotz. Die Jüngeren sollten mehr Verantwortung übernehmen und die Älteren sollten das nicht nur zulassen, sondern aktiv fördern.
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Die Rede von Martin Schulz war dagegen die große Enttäuschung des Tages. Mir war nicht erst zum Ende seiner einstündigen Rede klar, dass er gestern eine seiner vielleicht schlechtesten Reden überhaupt gehalten hat. Es sprang kein Funke über. Im Gegensatz zu anderen hat mich auch der Teil über „Europa“ nicht überzeugt, obwohl oder vielleicht weil er das Thema nach vorn gesetzt und mit sichtbar mehr Begeisterung vorgetragen hatte. Aber ist das wirklich ein Thema, das uns Bürger so bewegt? Ich glaube, es geht um andere Sachen.
Aus den Redebeiträgen hatte ich den Eindruck gewonnen, dass der Antrag des Parteivorstandes abgelehnt würde. Da war sie wieder, meine selektive Wahrnehmung. Aber ein deutliches Votum für den Antrag stellt die Mehrheit 56% der Delegiertenstimmen nicht dar. Wie soll die Parteiführung mit einer quasi in einer so entscheidenden Frage zerrissenen Partei erfolgreich Politik gestalten?
Die SPD war in dieser Beziehung schon immer besonders. Erinnern wir uns nur an die Querelen, mit denen selbst ein so angesehener Bundeskanzler wie Helmut Schmidt zu kämpfen hatte. Und er war nicht der einzige, dem es so oder ähnlich ergangen ist. Die Partei streitet gern. Auch mich hat die gestrige Debatte positiv beeindruckt, wie es viele Beobachter gestern ebenfalls erwähnten. Für die Debattenkultur im Land hat die SPD gestern einen sehr positiven Beitrag geleistet.
Wenn ich mir danach die Kommentare zu den üblichen Kurzberichten von ARD und ZDF durchgelesen habe, wurde ich schnell wieder auf den Boden unserer Debattenkultur in unseren „sozialen“ Netzwerken zurückgeholt.
Auch wenn das überheblich ist und bei vielen nicht gut ankommen dürfte: Ich finde, man muss nicht zu allem, was einem nicht passt, irgendeine Gemeinheit abgeben. Zumal, dann, wenn man offensichtlich von dem Thema, von dem gerade die Rede ist, keine Ahnung hat. Und wer jetzt findet, dass ich ja mit gutem Beispiel hätte vorangehen können, der soll mir bitte bei FB oder Twitter mal einen Kommentar schicken, der sich wenigstens halbwegs fair mit den Protagonisten auseinandersetzt! Einfach nur etwas in die Kommentarspalte hinzu“rotzen“ (Sorry) ist etwas wenig, meine Damen und Herren.
Steigen wir wieder in die Niederungen sozialdemokratischer Verwirrungen hinab und fragen, ob und wie die SPD-Parteiführung in den beginnenden Koalitionsverhandlungen die drei versprochenen Punkte durchsetzen wird.
Dazu müssen wir zunächst auf die Union schauen. Ich hatte gestern Abend den Eindruck, dass das Aufatmen in den Reihen der Union nach dem Beschluss des Sonderparteitages der SPD lauter war als das des SPD-Vorstandes. Für Merkels Kanzlerschaft hätte es eine Verschärfung der Krise bedeutet, wäre der Tag mit einem negativen Ergebnis des SPD-Sonderparteitages geendet. Ihr zweiter Versuch, eine Regierung zu bilden, wäre gescheitert.
Diese Situation wird landauf, landab von Journalisten hervorgehoben. Dabei wissen alle, dass nach dem Wahlergebnis vom 24.9.2017 und dem Ausstieg der SPD aus der GroKo am selben Abend die Voraussetzungen für eine Regierungsbildung nun einmal außerordentlich schwierig sein würden. Solche voreiligen Schlussfolgerungen verbunden mit der Neigung zum Quotenschielen liegen vielen Journalisten sehr. So ist es auch zu erklären, warum arrivierte Pressevertreter Martin Schulz immer und immer wieder danach fragen, wie er seiner Partei vermitteln wolle, warum er seine Meinung zur GroKo geändert habe. Augenscheinlich waren diese Journalisten in einem längeren Urlaub und es gab am Urlaubsort nicht mal „BILD“.
Aber auch in der Öffentlichkeit kursieren zu der hingelegten Volte Meinungen, die ich, gelinde gesagt, seltsam finde:
So hat sich der Parteivorstand selbst in diese Situation gebracht, auch wenn sie gestern versucht haben, die Schuld natürlich wieder auf andere Parteien zu schieben.
Quelle: Weiter wurschteln – zum SPD-Parteitag #spdbpt18 › Digital Diary – Claudia Klinger | LINK
Der Parteivorstand hat, das ist wahr, die Entscheidung getroffen, nicht wieder in eine GroKo einzusteigen. Dieses eindeutige Statement wurde von Martin Schulz selbst zu dem Zeitpunkt wiederholt, als die Jamaika-Sondierungen gescheitert waren. Während die Öffentlichkeit nach meiner Wahrnehmung die ersten Absage voll akzeptiert hat, geriet Schulz gleich nach dem Scheitern von Jamaika und der vielleicht voreiligen Wiederholung seiner Absage an eine erneute GroKo unter Druck.
Es folgten die Gespräche bei Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und das „Einlenken“ der Parteispitze der SPD. Was an diesem Prozess „unwürdig“ sein soll, muss man mir genauer erklären. Wie kommen Menschen überhaupt dazu, die SPD in diesem Zusammenhang als „Umfallerpartei“ zu diffamieren?
Bei Facebook ist die Meinung verbreitet, dass die SPD-Führung nur deshalb für Sondierungsgespräche und nun für Koalitionsgespräche war, weil sich die einzelnen Personen entsprechende Ministerämter sichern wollten. Wäre es in diesem Fall nicht einfacher gewesen, die Absage an eine neue GroKo gar nicht erst zu geben? Solche Logikbrüche sind bei Facebook inflationär.
Wahrscheinlich ist, dass der Druck auf die Parteiführung in der SPD nach diesem Sonderparteitag noch einmal stark gestiegen ist. Es wird so kommen, dass die drei dem Parteitag zugesagten Punkte in den Koalitionsverhandlungen so geregelt werden, dass die Parteien ohne Gesichtsverlust herauskommen und die SPD sagen kann, sie habe ihr Versprechen eingelöst. Ginge es nur nach der CDU, die, wie ich gestern bei „Anne Will“ gelernt habe, in dieser Regierung angeblich nur eine Scharnierfunktion (ohne Haltung) darstellt, so die Geschichte dazu, hätte die SPD es leicht. Die bayerischen Säbelzahntiger werden vor ihren Landtagswahlen was dagegen haben, dass die SPD an ihrem Profil kratzt.
Es wird schwierig, die Koalitionsverhandlungen können scheitern und was die 440k SPD-Mitglieder nach einem wider Erwarten doch erfolgreichen Ende der Koalitionsverhandlungen dazu meinen werden, ist völlig offen. Das Abstimmungsergebnis in Bonn verstehe ich als Indiz dafür, dass die SPD-Mitgliederschaft noch kritischer über die nächste GroKo denkt als dies schon bei den Delegierten der Fall gewesen ist.
Es stehen uns weitere spannende Wochen, wahrscheinlich eher Monate, ins deutsche Haus.
So sehr ich gehofft hatte, dass der Sonderparteitag gegen den Antrag des Vorstandes stimmen würde, so unsicher bin ich mir, ob diese Haltung staatspolitisch zu verantworten ist. Deutschland bleibt weiter ohne Regierung, und es gibt Witze darüber, wie positiv diese Tatsache bisher zu bewerten ist.
Aber um die staatspolitische Verantwortung für die Bildung einer stabilen Regierung geht es natürlich auch. Ich unterstelle, dass diese Vorstellung in allen Parteizentralen eine Bedeutung hat. Auf der anderen Seite bin ich enttäuscht darüber, dass der Mut, eine Minderheitsregierung zu bilden, nach all den Wochen mit dieser Menge an Unwägbarkeiten, nicht wenigstens etwas zugenommen hat.
Der SPD wird vorgeworfen, sie habe sich ihrer staatspoltischen Verantwortung entziehen wollen. Zum Hauptargument der SPD-Führung wurde nach und nach, dass die Partei die Oppositionsführerschaft einnehmen wolle, statt diese der AfD zu überlassen.
Ehrlicherweise hätte es aber heißen müssen, dass die Partei eine dringend Runderneuerung (programmatisch und personell) benötigt und dass dieser Prozess, wie Kevin Kühnert gestern dankenswerterweise auch erwähnte, über mehrere Jahre (2-3) andauern würde. Das wäre einen ernsthaften Versuch wert gewesen. In einer Regierung lassen sich diese Absichten meiner Meinung nach eher nicht umsetzen.
Ich nehme es der SPD nicht übel, dass sie nach dem Wahlergebnis an die eigene Erneuerung und nicht im ersten Schritt ans Land gedacht hat. Eine erneute GroKo birgt für unsere Demokratie offensichtliche Risiken, die nur mit anderen Lösungen / Koalitionen zu vermeiden sind.
Jamaika-Sondierungen: Die Grünen waren zu freundlich | Quelle
Freuen wir uns doch einfach darauf, dass wir (und die Medien) all diese Diskussionen in höchstens dreieinhalb Jahren wieder führen können. Denn bis dahin wird es weitgehend politischen Stillstand gegeben haben. Der wird dann zwar von ständigen Streitereien überdeckt worden sein, aber seine Folgen werden wir alle spüren.
Alle die großen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Baustellen, die seit Jahren beklagt und sorgenvoll thematisiert werden, können problemlos (und werden) noch viel größere Baustellen werden.
Da ist noch Luft nach ob… ähh… unten.
Ich fürchte, so könnte es kommen. Ich glaube auch nicht, dass Union und SPD wirklich verstanden haben.