Der Beitrag von Report, Mainz „Kollegen zweiter Klasse“ hat mir eine Frage frisch ins Bewusstsein zurückgebracht, die für mich als Rentner nicht mehr so relevant ist.
Für die aktuell berufstätigen Menschen dürfte der Frust über wachsende Ungleichheit bei der Bezahlung für gleiche und vergleichbare Arbeit immer weiter steigen. Die Tragweite dieser konkrete Situation wirkt sich zudem auf die spätere Rentenhöhe aus. Das wird spätestens dann realisiert, wenn sie sich beginnen, für die Renteninfos zu interessieren.
Aber warum haben sich die Löhne und Gehälter in Deutschland so unterschiedlich entwickelt, dass im „Report“-Beitrag von „Kollegen zweiter Klasse“ berichtet wird?
Mir ist klar, dass das Ansehen der Gewerkschaften seit Jahrzehnten gelitten hat. 2009 wurde „Betriebsratsverseucht“ zum Unwort des Jahres. Die Zahl der gewerkschaftlich organisierten Arbeitgeber hat sich zwar in Teilen wieder etwas erholt aber den großen Rückhalt genießen die Gewerkschaften in der Bevölkerung nach meinem Eindruck nicht mehr. Dafür mag es gute Gründe und auch persönliche Erfahrungen geben. Ich kann das nicht beurteilen, weil mein persönliches gewerkschaftliches „Engagement“ schon zu Beginn der 1970er Jahre endete.
Ich war während meiner Ausbildung in eine Gewerkschaft eingetreten, weil mein Ausbildungsbetrieb aus dem Manteltarifvertrag ausgetreten war und die Gewerkschaft wenigstens einen Haustarifvertrag verhandeln wollte. Das gestaltete sich damals sehr schwierig. Es wurde seitens der Gewerkschaft großer Druck auf den Betrieb aufgebaut, der letztlich im Sinne der Gewerkschaft auch erfolgreich war. Die andere Seite war jedoch, dass es dem Unternehmen wirtschaftlich bereits sehr schlecht ging (es musste Ende der 1970er Jahre Konkurs anmelden). Obwohl ich es nicht genau weiß, aber ich nehme an, dass der wesentliche Grund für die Kündigung des Manteltarifvertrages bereits damals in den wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Unternehmens zu suchen war.
Die heutige Situation der Unternehmen wird mit der damaligen nicht mehr vergleichbar sein. Innerhalb weniger Monate hat die Gewerkschaft es geschafft, einen hohen Anteil der Belegschaft als Mitglieder zu gewinnen. Die Menschen waren sich vermutlich im Klaren darüber, dass ohne starke Interessenvertretung durch die Gewerkschaft ihre Chancen gegen Null gehen. Unabhängig davon war der starke Betriebsrat ein wichtiger Faktor – auch für den Erfolg der Gewerkschaft.
Der Ton in den Betriebsversammlungen war aggressiv und laut. Die Positionen der Arbeitnehmer wurden gehört und führten zum Teil zu Ergebnissen mit denen damals „alle“ leben konnten. Obwohl mich diese Auseinandersetzung beeindruckt und für die Gewerkschaft vereinnahmt hat, hinderten mich die positiven Erfahrung nicht daran, meine Mitgliedschaft 1977 zu beenden. Damals habe ich das Unternehmen verlassen und war in einer anderen Branche tätig. Seitdem habe ich mich nicht wieder gewerkschaftlich organisiert. Ich habe viele Jahre in einem kleinen Unternehmen ohne Betriebsrat und gewerkschaftliche Bindung gearbeitet. Eine Gewerkschaft habe ich dort nie vermisst. Das war ein Verdienst meines damaligen wunderbaren Chefs.
Nur frage ich mich angesichts der Schilderungen und Erfahrungen anderer Menschen, ob Arbeitnehmer nicht besser beraten wären, wenn sie sich wieder gewerkschaftlich organisieren würden? Allerdings nehme ich wahr, wie unterschiedlich Gewerkschaften und Betriebsräte heutzutage gesehen werden. Die Sicht auf diese Interessenvertretung ist oft gleichgültig oder sogar ablehnend. Wahrscheinlich sind die ritualisierten Abläufe dafür mitverantwortlich, die in den letzten Jahrzehnten dazu geführt haben, dass sich viele abgewandt haben.
Ich möchte es in dieser kleinen Formel zusammenfassen: Forderung, Gegenangebot, Warnstreik, Streik, Einigung. Dann gibt es die Proteste gegen Werksschließungen oder Standortaufgaben, die von Gewerkschaftsseite überaus laut kritisiert wurden, die aber schließlich trotzdem erfolgt sind. Der Frust der engagierten MitarbeiterInnen, natürlich auch wenn diese gewerkschaftlich organisiert waren, war deutlich leiser als die unmittelbare Reaktion irgendwelcher Funktionäre, gleich nach der Bekanntgabe durch die Vorstände oder Firmenchefs.
Das wurde von vielen Menschen als unehrlich und am Ende auch als sinnlos angesehen. Wahrscheinlich selbst dann, wenn durchaus Teilerfolge für die betroffenen Belegschaften erzielt wurden.
Diese Abläufe erinnern mich stark an politische Debatten, die allzu häufig in ähnlich ritualisierter Form ablaufen. Regierung vs. Opposition oder koalitionsinterne Streitigkeiten, die zu gern (warum eigentlich?) fast prinzipiell öffentlich ausgetragen werden. Wenn eine Oppositionspartei einen Antrag stellt, sollten sich andere (ideologieübergreifend) doch anschließen können, wenn das Ziel es wert wäre und die Positionen nahe beieinanderliegen. Aber nein. Obwohl FDP und AfD in gewissen Fragen ähnliche Anträge in den Bundestag eingebracht haben, eine Zusammenarbeit wird grundsätzlich verweigert, weil es sich um die AfD handelt. Ich finde diese „standardisierte“ Haltung der Parteien furchtbar. Außerdem ist es undemokratisch und am Ende auch unglaubwürdig. Ich gehe noch weiter: Wenn die so genannten etablierten Parteien denken, die AfD damit auf Abstand halten zu können, werden sie vielleicht eines Schlechteren belehrt. Solche Verhaltensmuster, durchsichtig wie sie nun einmal sind, werden von erwachsenen und politisch interessierten BürgerInnen nicht goutiert. Es fördert die Demokratieverdrossenheit und – unnötigerweise – die AfD.
Im Beitrag von „Report“ werden Beispiele angeführt, die vermutlich nicht alle Aspekte behandeln, die zu diesen großen Gehaltsunterschieden führen. Die Bedingungen in Thüringen sind höchstwahrscheinlich ein wenig anders als in Baden-Württemberg. Die Wettbewerbsbedingungen und andere Parameter der hier verglichenen Betriebe, also auch der Einkommen ihrer Mitarbeiter, sind schwer vergleichbar.
Dass ein Mann in Baden-Württemberg mit ca. 3.200 Euro (brutto) für vergleichbare Arbeit in einem 3 – Schichtsystem das Doppelte verdient wie die Frau in Thüringen, 1.600 Euro (brutto), ist so einfach nicht zu erklären. Ich halte das schlicht für skandalös.
Die unterschiedlichen Bedingungen, die sich natürlich auch auf die Rentenansprüche beider auswirken, sind so gravierend, dass unsere Gesellschaft darüber nicht hinweggehen sollte. Es gibt Gesprächs- und Handlungsbedarf – zumal für immer mehr Menschen die Gefahr besteht, auf die Verliererstraße zu geraten! Der Baden-Württemberger erhält neben seiner gesetzlichen Rente durch seine privilegierte Position in einem gewerkschaftlich organisierten Unternehmen eine zusätzliche Betriebsrente von ≈ 1.200 Euro. D.h., er erhält ca. 3.500 Euro Rente, während die Thüringerin am Ende ihres Arbeitslebens nur ca. 1.100 Euro Rente erhalten wird.
Für die Vertretung von Arbeitnehmerinteressen sind traditionell die Gewerkschaften zuständig. Aber so, wie unsere Gesellschaft dazu neigt, das Vertrauen in alle Institutionen zu verlieren, sind auch die Gewerkschaften von einem großen Vertrauensverlust betroffen. Wie ich schon geschrieben habe, haben die ritualisierten Abläufe bei Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften vermutlich dazu beigetragen. Ich habe nicht die Fantasie, wie die Interessen der Arbeitnehmer in einer zunehmend globalisierten Welt erfolgversprechend ohne Gewerkschaften vertreten werden sollten. Ich erinnere mich an eine Phase der so genannten New Economy, in der sich Mitarbeiter einer großen IT-Firma in Berlin sehr überheblich über Gewerkschaften und Betriebsräte geäußert haben. Man wolle und könne dies individuell „aushandeln“ und für sich besser regeln, als irgendwelche Betriebsräte. Die Firma ist längst Vergangenheit bzw. in anderen Händen. Heute gibt es dort – soweit ich weiß einen Betriebsrat. Immerhin.
Ich bin für starke Gewerkschaften. Auf die Politik können wir uns nicht verlassen, wenn es darum geht, flächendeckende Tarifverträge durchzusetzen. Auch die SPD hat das ihre dazu beigetragen, die Position der Arbeitnehmer gegenüber denjenigen, die Geld und Macht haben, zu schwächen. Hartz IV und die Folgen der Agenda 2010 haben den abhängig Beschäftigten schwer zugesetzt. Und zwar nicht nur dann, wenn sie unmittelbar von den asozialen Reformen Schröders betroffen wurden. Das ist nicht das Land, in dem wir gut und gerne leben, Frau Merkel!
Das Verhalten der Parteien bei Anträgen gilt nicht nur in Richtung AFD! Es war eine der ersten Lernerfahrungen der Piraten, dass es sinnlos ist, einfach so Anträge einzubringen, wenn man will, dass sie auch verabschiedet werden. Das gilt auch, wenn sie inhaltlich der Mehrheitsmeinung entsprechen! Man muss zuvor bei den anderen Parteien aufscheinen und die Möglichkeit eines gemeinsamen Antrages ausloten – nur dann kann es gehen. Denn nur dann kann sich nicht nur die beantragende Partei den Orden an die Brust heften…
Und ansonsten gilt sowieso der Fraktions- und Koalitionszwang.
Es ist ein Kreuz mit diesen Ritualen. Das zeigt wohl, wie groß der Reformbedarf ist. Die Verfahren machen die Politik in diesen Zeiten unglaubwürdig und schädigt viele ihrer Institutionen.