Warum ist es in Baden-Württemberg so schön und in Thüringen nicht?

Die Gewerk­schaf­ten sind tra­di­tio­nell die Ver­tre­ter der abhän­gig Beschäf­ti­gen. Wer sonst könn­te die­se Auf­ga­be in die­ser glo­ba­li­sier­ten Welt übernehmen?

HS230625

Horst Schulte

7 Minute/n


Merken

2

Der Bei­trag von Report, Mainz „Kol­le­gen zwei­ter Klas­se“ hat mir eine Fra­ge frisch ins Bewusst­sein zurück­ge­bracht, die für mich als Rent­ner nicht mehr so rele­vant ist.

Für die aktu­ell berufs­tä­ti­gen Men­schen dürf­te der Frust über wach­sen­de Ungleich­heit bei der Bezah­lung für glei­che und ver­gleich­ba­re Arbeit immer wei­ter stei­gen. Die Trag­wei­te die­ser kon­kre­te Situa­ti­on wirkt sich zudem auf die spä­te­re Ren­ten­hö­he aus. Das wird spä­tes­tens dann rea­li­siert, wenn sie sich begin­nen, für die Ren­ten­in­fos zu interessieren.

Aber war­um haben sich die Löh­ne und Gehäl­ter in Deutsch­land so unter­schied­lich ent­wi­ckelt, dass im „Report“-Beitrag von „Kol­le­gen zwei­ter Klas­se“ berich­tet wird?

Mir ist klar, dass das Anse­hen der Gewerk­schaf­ten seit Jahr­zehn­ten gelit­ten hat. 2009 wur­de „Betriebs­rats­ver­seucht“ zum Unwort des Jah­res. Die Zahl der gewerk­schaft­lich orga­ni­sier­ten Arbeit­ge­ber hat sich zwar in Tei­len wie­der etwas erholt aber den gro­ßen Rück­halt genie­ßen die Gewerk­schaf­ten in der Bevöl­ke­rung nach mei­nem Ein­druck nicht mehr. Dafür mag es gute Grün­de und auch per­sön­li­che Erfah­run­gen geben. Ich kann das nicht beur­tei­len, weil mein per­sön­li­ches gewerk­schaft­li­ches „Enga­ge­ment“ schon zu Beginn der 1970er Jah­re endete.

Ich war wäh­rend mei­ner Aus­bil­dung in eine Gewerk­schaft ein­ge­tre­ten, weil mein Aus­bil­dungs­be­trieb aus dem Man­tel­ta­rif­ver­trag aus­ge­tre­ten war und die Gewerk­schaft wenigs­tens einen Haus­ta­rif­ver­trag ver­han­deln woll­te. Das gestal­te­te sich damals sehr schwie­rig. Es wur­de sei­tens der Gewerk­schaft gro­ßer Druck auf den Betrieb auf­ge­baut, der letzt­lich im Sin­ne der Gewerk­schaft auch erfolg­reich war. Die ande­re Sei­te war jedoch, dass es dem Unter­neh­men wirt­schaft­lich bereits sehr schlecht ging (es muss­te Ende der 1970er Jah­re Kon­kurs anmel­den). Obwohl ich es nicht genau weiß, aber ich neh­me an, dass der wesent­li­che Grund für die Kün­di­gung des Man­tel­ta­rif­ver­tra­ges bereits damals in den wirt­schaft­li­chen Schwie­rig­kei­ten des Unter­neh­mens zu suchen war.

Die heu­ti­ge Situa­ti­on der Unter­neh­men wird mit der dama­li­gen nicht mehr ver­gleich­bar sein. Inner­halb weni­ger Mona­te hat die Gewerk­schaft es geschafft, einen hohen Anteil der Beleg­schaft als Mit­glie­der zu gewin­nen. Die Men­schen waren sich ver­mut­lich im Kla­ren dar­über, dass ohne star­ke Inter­es­sen­ver­tre­tung durch die Gewerk­schaft ihre Chan­cen gegen Null gehen. Unab­hän­gig davon war der star­ke Betriebs­rat ein wich­ti­ger Fak­tor – auch für den Erfolg der Gewerkschaft.

Der Ton in den Betriebs­ver­samm­lun­gen war aggres­siv und laut. Die Posi­tio­nen der Arbeit­neh­mer wur­den gehört und führ­ten zum Teil zu Ergeb­nis­sen mit denen damals „alle“ leben konn­ten. Obwohl mich die­se Aus­ein­an­der­set­zung beein­druckt und für die Gewerk­schaft ver­ein­nahmt hat, hin­der­ten mich die posi­ti­ven Erfah­rung nicht dar­an, mei­ne Mit­glied­schaft 1977 zu been­den. Damals habe ich das Unter­neh­men ver­las­sen und war in einer ande­ren Bran­che tätig. Seit­dem habe ich mich nicht wie­der gewerk­schaft­lich orga­ni­siert. Ich habe vie­le Jah­re in einem klei­nen Unter­neh­men ohne Betriebs­rat und gewerk­schaft­li­che Bin­dung gear­bei­tet. Eine Gewerk­schaft habe ich dort nie ver­misst. Das war ein Ver­dienst mei­nes dama­li­gen wun­der­ba­ren Chefs.

Nur fra­ge ich mich ange­sichts der Schil­de­run­gen und Erfah­run­gen ande­rer Men­schen, ob Arbeit­neh­mer nicht bes­ser bera­ten wären, wenn sie sich wie­der gewerk­schaft­lich orga­ni­sie­ren wür­den? Aller­dings neh­me ich wahr, wie unter­schied­lich Gewerk­schaf­ten und Betriebs­rä­te heut­zu­ta­ge gese­hen wer­den. Die Sicht auf die­se Inter­es­sen­ver­tre­tung ist oft gleich­gül­tig oder sogar ableh­nend. Wahr­schein­lich sind die ritua­li­sier­ten Abläu­fe dafür mit­ver­ant­wort­lich, die in den letz­ten Jahr­zehn­ten dazu geführt haben, dass sich vie­le abge­wandt haben.

Ich möch­te es in die­ser klei­nen For­mel zusam­men­fas­sen: For­de­rung, Gegen­an­ge­bot, Warn­streik, Streik, Eini­gung. Dann gibt es die Pro­tes­te gegen Werks­schlie­ßun­gen oder Stand­ort­auf­ga­ben, die von Gewerk­schafts­sei­te über­aus laut kri­ti­siert wur­den, die aber schließ­lich trotz­dem erfolgt sind. Der Frust der enga­gier­ten Mit­ar­bei­te­rIn­nen, natür­lich auch wenn die­se gewerk­schaft­lich orga­ni­siert waren, war deut­lich lei­ser als die unmit­tel­ba­re Reak­ti­on irgend­wel­cher Funk­tio­nä­re, gleich nach der Bekannt­ga­be durch die Vor­stän­de oder Firmenchefs.

Das wur­de von vie­len Men­schen als unehr­lich und am Ende auch als sinn­los ange­se­hen. Wahr­schein­lich selbst dann, wenn durch­aus Teil­erfol­ge für die betrof­fe­nen Beleg­schaf­ten erzielt wurden.

Die­se Abläu­fe erin­nern mich stark an poli­ti­sche Debat­ten, die all­zu häu­fig in ähn­lich ritua­li­sier­ter Form ablau­fen. Regie­rung vs. Oppo­si­ti­on oder koali­ti­ons­in­ter­ne Strei­tig­kei­ten, die zu gern (war­um eigent­lich?) fast prin­zi­pi­ell öffent­lich aus­ge­tra­gen wer­den. Wenn eine Oppo­si­ti­ons­par­tei einen Antrag stellt, soll­ten sich ande­re (ideo­lo­gie­über­grei­fend) doch anschlie­ßen kön­nen, wenn das Ziel es wert wäre und die Posi­tio­nen nahe bei­ein­an­der­lie­gen. Aber nein. Obwohl FDP und AfD in gewis­sen Fra­gen ähn­li­che Anträ­ge in den Bun­des­tag ein­ge­bracht haben, eine Zusam­men­ar­beit wird grund­sätz­lich ver­wei­gert, weil es sich um die AfD han­delt. Ich fin­de die­se „stan­dar­di­sier­te“ Hal­tung der Par­tei­en furcht­bar. Außer­dem ist es unde­mo­kra­tisch und am Ende auch unglaub­wür­dig. Ich gehe noch wei­ter: Wenn die so genann­ten eta­blier­ten Par­tei­en den­ken, die AfD damit auf Abstand hal­ten zu kön­nen, wer­den sie viel­leicht eines Schlech­te­ren belehrt. Sol­che Ver­hal­tens­mus­ter, durch­sich­tig wie sie nun ein­mal sind, wer­den von erwach­se­nen und poli­tisch inter­es­sier­ten Bür­ge­rIn­nen nicht gou­tiert. Es för­dert die Demo­kra­tie­ver­dros­sen­heit und – unnö­ti­ger­wei­se – die AfD.


Im Bei­trag von „Report“ wer­den Bei­spie­le ange­führt, die ver­mut­lich nicht alle Aspek­te behan­deln, die zu die­sen gro­ßen Gehalts­un­ter­schie­den füh­ren. Die Bedin­gun­gen in Thü­rin­gen sind höchst­wahr­schein­lich ein wenig anders als in Baden-Würt­tem­berg. Die Wett­be­werbs­be­din­gun­gen und ande­re Para­me­ter der hier ver­gli­che­nen Betrie­be, also auch der Ein­kom­men ihrer Mit­ar­bei­ter, sind schwer vergleichbar.

Dass ein Mann in Baden-Würt­tem­berg mit ca. 3.200 Euro (brut­to) für ver­gleich­ba­re Arbeit in einem 3 – Schicht­sys­tem das Dop­pel­te ver­dient wie die Frau in Thü­rin­gen, 1.600 Euro (brut­to), ist so ein­fach nicht zu erklä­ren. Ich hal­te das schlicht für skandalös.

Die unter­schied­li­chen Bedin­gun­gen, die sich natür­lich auch auf die Ren­ten­an­sprü­che bei­der aus­wir­ken, sind so gra­vie­rend, dass unse­re Gesell­schaft dar­über nicht hin­weg­ge­hen soll­te. Es gibt Gesprächs- und Hand­lungs­be­darf – zumal für immer mehr Men­schen die Gefahr besteht, auf die Ver­lie­rer­stra­ße zu gera­ten! Der Baden-Würt­tem­ber­ger erhält neben sei­ner gesetz­li­chen Ren­te durch sei­ne pri­vi­le­gier­te Posi­ti­on in einem gewerk­schaft­lich orga­ni­sier­ten Unter­neh­men eine zusätz­li­che Betriebs­ren­te von ≈ 1.200 Euro. D.h., er erhält ca. 3.500 Euro Ren­te, wäh­rend die Thü­rin­ge­rin am Ende ihres Arbeits­le­bens nur ca. 1.100 Euro Ren­te erhal­ten wird.

Für die Ver­tre­tung von Arbeit­neh­mer­inter­es­sen sind tra­di­tio­nell die Gewerk­schaf­ten zustän­dig. Aber so, wie unse­re Gesell­schaft dazu neigt, das Ver­trau­en in alle Insti­tu­tio­nen zu ver­lie­ren, sind auch die Gewerk­schaf­ten von einem gro­ßen Ver­trau­ens­ver­lust betrof­fen. Wie ich schon geschrie­ben habe, haben die ritua­li­sier­ten Abläu­fe bei Ver­hand­lun­gen zwi­schen Arbeit­ge­bern und Gewerk­schaf­ten ver­mut­lich dazu bei­getra­gen. Ich habe nicht die Fan­ta­sie, wie die Inter­es­sen der Arbeit­neh­mer in einer zuneh­mend glo­ba­li­sier­ten Welt erfolg­ver­spre­chend ohne Gewerk­schaf­ten ver­tre­ten wer­den soll­ten. Ich erin­ne­re mich an eine Pha­se der so genann­ten New Eco­no­my, in der sich Mit­ar­bei­ter einer gro­ßen IT-Fir­ma in Ber­lin sehr über­heb­lich über Gewerk­schaf­ten und Betriebs­rä­te geäu­ßert haben. Man wol­le und kön­ne dies indi­vi­du­ell „aus­han­deln“ und für sich bes­ser regeln, als irgend­wel­che Betriebs­rä­te. Die Fir­ma ist längst Ver­gan­gen­heit bzw. in ande­ren Hän­den. Heu­te gibt es dort – soweit ich weiß einen Betriebs­rat. Immerhin.

Ich bin für star­ke Gewerk­schaf­ten. Auf die Poli­tik kön­nen wir uns nicht ver­las­sen, wenn es dar­um geht, flä­chen­de­cken­de Tarif­ver­trä­ge durch­zu­set­zen. Auch die SPD hat das ihre dazu bei­getra­gen, die Posi­ti­on der Arbeit­neh­mer gegen­über den­je­ni­gen, die Geld und Macht haben, zu schwä­chen. Hartz IV und die Fol­gen der Agen­da 2010 haben den abhän­gig Beschäf­tig­ten schwer zuge­setzt. Und zwar nicht nur dann, wenn sie unmit­tel­bar von den aso­zia­len Refor­men Schrö­ders betrof­fen wur­den. Das ist nicht das Land, in dem wir gut und ger­ne leben, Frau Merkel!

Diesen Beitrag teilen:
0CDD5CFF 182F 485A 82C6 412F91E492D0
Horst Schulte
Rentner, Blogger & Hobbyfotograf
Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe seit meiner Geburt (auch aus Überzeugung) auf dem Land.

Schlagworte: Neoliberalismus

Quelle Featured-Image: Standardbild...

Letztes Update:

Anzahl Wörter im Beitrag: 1246
Aufgerufen gesamt: 37 mal
Aufgerufen letzte 7 Tage: 2 mal
Aufgerufen heute: 1 mal

2 Gedanken zu „Warum ist es in Baden-Württemberg so schön und in Thüringen nicht?“

  1. Das Ver­hal­ten der Par­tei­en bei Anträ­gen gilt nicht nur in Rich­tung AFD! Es war eine der ers­ten Lern­erfah­run­gen der Pira­ten, dass es sinn­los ist, ein­fach so Anträ­ge ein­zu­brin­gen, wenn man will, dass sie auch ver­ab­schie­det wer­den. Das gilt auch, wenn sie inhalt­lich der Mehr­heits­mei­nung ent­spre­chen! Man muss zuvor bei den ande­ren Par­tei­en auf­schei­nen und die Mög­lich­keit eines gemein­sa­men Antra­ges aus­lo­ten – nur dann kann es gehen. Denn nur dann kann sich nicht nur die bean­tra­gen­de Par­tei den Orden an die Brust heften…

    Und ansons­ten gilt sowie­so der Frak­ti­ons- und Koalitionszwang.

Lass deinen Gedanken freien Lauf


Hier im Blog werden bei Abgabe von Kommentaren keine IP-Adressen gespeichert! Deine E-Mail-Adresse wird NIE veröffentlicht! Du kannst anonym kommentieren. Dein Name und Deine E-Mail-Adresse müssen nicht eingegeben werden.


✅ Beitrag gemerkt! Favoriten anzeigen
0
Share to...
Your Mastodon Instance