Prekäre Arbeitsverhältnisse in der Wissenschaft

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Heute stol­per­te ich über den Hashtag #IchbinHanna. Ich soll­te mir als alter wei­ßer Mann mit Hauptschulabschluss ver­knei­fen, die­ses Thema zu kom­men­tie­ren. Wenn ich aller­dings lese, wer sich alles zum Entzug des Doktortitels von Franziska Giffey (SPD) äußert, erlau­be ich mir das ein­fach mal. Dabei ist das Wie eine zusätz­lich «Inspiration».

Wie kann es sein, dass aka­de­mi­sche Grade an Leute ver­ge­ben wer­den und sich nach­her her­aus­stellt, dass sie unter Vorspiegelung fal­scher Tatsachen erwor­ben wurden? 

Ich spü­re ein ambi­va­len­tes Gefühl nach all der Häme gegen eine Politikerin, die aus mei­ner Sicht gute Arbeit abge­lie­fert hat. Und das, obwohl mir klar ist, dass Giffey sich das ganz allein zuzu­schrei­ben hat. Ich fra­ge mich trotz­dem, wie ange­mes­sen sorg­fäl­tig das Leitungspersonal unse­rer Unis bei Prüfungen von Doktorarbeiten und über­haupt bei Examensarbeiten vorgeht. 

In den Corona-Monaten habe ich den Eindruck gewon­nen, dass es um unse­re natio­na­le Wissenschaft gut bestellt ist. Nie kamen in einem so kur­zen Zeitraum so vie­le WissenschaftlerInnen zu Wort. Auch wenn es lei­der stän­dig dazu kam, dass arri­vier­te Wissenschaftler sich gegen­sei­tig dia­me­tral widersprachen. 

Professor Lesch gab kürz­lich in einer Talkshow eine Erklärung, die auch für ein schlich­tes Gemüt wie mei­nes, nach­voll­zieh­bar ist. 

Nach einem kur­zen und eher kom­pli­zier­ten Exkurs zum Thema Falsifizierung sprach er vom «Empor-Irren». So funk­tio­niert also Wissenschaft. Vor Corona und den Erfahrungen mit der Wissenschaft wäh­rend die­ser Zeit habe ich mir dar­über nie Gedanken gemacht. Warum auch? Es ist eine ande­re Welt, nicht meine.

Eigentlich hat mich an den Debatten zwi­schen den ver­schie­de­nen Lagern weni­ger die Widersprüchlichkeit gestört als viel­mehr die unge­eig­ne­te Form des öffent­li­chen Umgangs mit den bis dahin gewon­nen Erkenntnissen. Dafür jedoch war nicht die Wissenschaft, son­dern die Medien ver­ant­wort­lich. Die medi­al auf­be­rei­te­ten «Schlachten» ent­hiel­ten Elemente, die ich als unan­ge­mes­sen, vor allem aber als stö­rend emp­fand. Ich habe nun mal ein schlich­tes Gemüt und bin selbst mit 67 arg harmoniesüchtig.

Wenn 20.000 Wissenschaftler (S4F) sich in der Klimadebatte so klar auf eine Seite stel­len, ist das schon rein zah­len­mä­ßig über­zeu­gend. Wenn die­se Wissenschaftler mit gut gemach­ten und über­zeu­gen­den Beiträgen (YouTube Videos, Zeitungs- und Blogartikeln) ihre Positionen erklä­ren, spie­len die­se im Vergleich zu der Zahl von zwan­zig­tau­send «weni­gen» aber sehr sub­stan­zi­el­len Auftritten eine viel grö­ße­re Rolle. 

Im ver­gan­ge­nen Jahr gab es unter dem Hashtag «95vsWissZeitVG» ein Thesenpapier. Unter Punkt 27 ist zu lesen: 

Wissenschaft als Beruf hat auf­grund des WissZeitVG extrem an Attraktivität ein­ge­büßt. Nach her­vor­ra­gen­den Examensprüfungen win­ken vie­le müde ab auf die Frage, ob sie eine Promotion anstre­ben. In eini­gen Fachbereichen herrscht bereits Fachkräftemangel und die Universitäten sind in Bezug auf die dort ange­bo­te­nen Arbeitsverhältnisse im Vergleich mit der Privatwirtschaft nicht mehr konkurrenzfähig. 

Wer beruf­li­che Sicherheit/​Perspektive braucht (sub­jek­tiv oder exis­ten­zi­ell), ver­lässt frü­her oder spä­ter die Wissenschaft – egal wie gut er/​sie ist.

Aus dem erwähn­ten Thesenpapier

Für mich passt die­se Aussage des­halb nicht zu mei­nem Eindruck unse­rer Wissenschaft. Aber was weiß ich schon?

Ein Blick auf die vom Statistischen Bundesamt gemel­de­ten aktu­el­le­ren Zahlen bestä­tigt den behaup­te­ten Rückgang, von dem im Thesenpapier die Rede ist, nicht. Dabei ist dar­in nur die Rede von «eini­gen Fachbereichen». Es gibt in der Aufteilung des Bundesamtes kei­nen Bereich (Geisteswissenschaften viel­leicht. aus­ge­nom­men) mit Rückgängen.

Nach Daten der Konrad-Adenauer-Stiftung sind 480.000 Menschen in Deutschland in der Forschung tätig. Auf der Welt gibt es ledig­lich 2 Nationen, in denen die­ser Anteil höher ist. Vor uns ran­gie­ren die USA und Japan. 

Was bedeu­tet es für den Standort Deutschland, wenn «die aus­ge­präg­te außer­uni­ver­si­tä­re Forschungslandschaft», in denen die in der Pandemie auch der Allgemeinheit ins Bewusstsein gehol­ten Institute Helmholtz-Gemeinschaft, die Fraunhofer-Gesellschaft, die Max-Planck-Gesellschaft und die Leibnitz-Gemeinschaft die domi­nie­ren­de Rolle spielen? 

Deutschlands Stärken sind die Einheit von Forschung und Lehre, die Freiheit von Wissenschaft und Forschung, die Vielfalt an Hochschulen, außer­uni­ver­si­tä­ren Forschungseinrichtungen und Unternehmen.

Konrad-Adenauer-Stiftung – Europa

Wie wer­den unse­re Wissenschaftler behan­delt, wenn es um die Fragen geht, die nun ein­mal auch in der frei­en Wirtschaft zu den Elementen mit über­ra­gen­der Bedeutung zäh­len? Wir lamen­tier­ten jah­re­lang über die «Generation Praktikum». Hat sich an den Missständen etwas geän­dert? Welche poli­ti­schen Maßnahmen waren wirk­sam, wel­che nicht? 

Wieso wur­den etwa­ige Maßnahmen in staat­lich geför­der­ten Einrichtungen nicht zual­ler­erst wirk­sam? Blieben sie etwa von ihnen unbe­rührt? Reicht eine jähr­li­che Erhöhung der Budgets von 3 bis 5 % aus, um die beklag­ten Mechanismen, die den Frust der dort täti­gen Menschen zu ver­än­dern? Wie kann es sein, dass wir jetzt per erwähn­tem Twitter-Hashtag von die­sen erbärm­li­chen Voraussetzungen erfahren?

Das BMBF bleibt ein zuver­läs­si­ger Partner der Forschung: Mit dem Pakt für Forschung und Innovation wird die insti­tu­tio­nel­le Förderung der Wissenschafts- und Forschungsorganisationen jähr­lich um drei Prozent gestei­gert; ein Aufwuchs, den der Bund im aktu­el­len Pakt allein über­nimmt. Insgesamt wer­den in die insti­tu­tio­nel­le Forschungsförderung im Jahr 2020 mehr als 6,7 Milliarden Euro inves­tiert. In die­sem Jahr haben Bund und Länder zudem den Pakt für Forschung und Innovation IV beschlos­sen, mit dem den Forschungseinrichtungen Planungssicherheit bis ins Jahr 2030 gege­ben wird.

Der Haushalt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung – BMBF

Die Vorwürfe der WissenschaftlerInnen sind an das Bundesministerium für Bildung und Forschung adres­siert. Welche finan­zi­el­len Mittel und Rahmenbedingungen, die Politik schaf­fen müss­te und was die­se Maßnahmen kos­ten wür­den, wird nir­gends gesagt. Welche Mittel aus den diver­sen Haushaltstöpfen akti­viert wer­den könn­ten oder müss­ten, ist auch von der Beantwortung der Frage abhän­gig, ob es sich ein Staat mit sei­nen nun ein­mal eher begrenz­ten Mitteln über­haupt leis­ten kann, die Forschung auf Dauer zu finan­zie­ren, ohne dass pri­vat­wirt­schaft­li­che Quellen in nen­nens­wer­tem Umfang ange­zapft wer­den. Wie bekom­men die USA und Japan das hin? Dort ist der pri­va­te Anteil an der Finanzierung ver­mut­lich wesent­lich größer. 


Link: Wozu dient das Wissenschaftszeitvertragsgesetz? – BMBF
Link: Keine Zukunft mit Wissenschaftszeitvertragsgesetz? Keine Zukunft fürs Wissenschaftszeitvertragsgesetz! – Jan-Martin Wiarda

Wie passt eigent­lich die Aussage, dass in eini­gen Bereichen ein Nachfragerückgang in eini­gen Bereichen fest­zu­stel­len sei zu der Aussage, dass seit 2007 die Zahl des wis­sen­schaft­li­chen Personals von 173.000 auf 256.000, gestie­gen ist? Also um nicht weni­ger als die Hälfte. Ob die­se Entwicklung in der Personalstärke womög­lich ein Grund für die sich ver­schlech­tern­den Bedingungen sein könnte?

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2 Gedanken zu „Prekäre Arbeitsverhältnisse in der Wissenschaft“

  1. Habe vor­ges­tern eine super­tol­le Vorlesung von Lesch gehört:

    Wir irren uns empor
    https://www.youtube.com/watch?v=u29–YNGMyg

    Ansonsten: Die pre­kä­re Situation der Nachwuchswissenschaftler/​innen an deut­schen Unis wird seit Jahr und Tag beklagt: Wer eine Familie grün­den will, muss davon Abstand neh­men und sich einen Job außer­halb suchen. Es gibt nichts Vernünftiges zwi­schen dem befris­te­ten Hiwi-Job und dem «Ruf», der jedoch nur weni­ge Ende 30 erreicht, die dann Prof wer­den zu dürfen. 

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