Schuld, Sühne, Verzeihen. Funktioniert das auch im Internet?

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Erfundene Szenerie: Du giltst seit Jahren als siche­rer Autofahrer. Du fährst täg­lich und heu­te Nachmittag, einem Sonntag, an dem wenig los ist, ver­ur­sachst du einen Unfall. Du hast ein Kind ange­fah­ren. Es ist schwer ver­letzt. Weil du nicht auf­ge­passt hast. Du bist nicht gerast und warst mög­li­cher­wei­se nur den Bruchteil einer Sekunde unauf­merk­sam. Bis heu­te warst du 40 Jahre lang unfallfrei. 

Die Nachricht inter­es­siert nur die direkt Betroffenen. Die Folgen musst du vor allem mit dir abma­chen. Deiner Familie hält zu dir. Bei dei­nen Freunden, die dir in die­ser Lage bei­ste­hen, fin­dest du Trost. 

Wenn du aller­dings pro­mi­nent bist, sieht es anders aus. Die ers­ten Websites berich­ten bald nach dem Unglück über dich und es wird gemut­maßt, ob Alkohol im Spiel gewe­sen ist. Verfügst du über einen Account bei einem aso­zia­len Netzwerk, hast du gute Chancen, dei­nen sozia­len Ruin live mit­zu­er­le­ben. Ein Shitstorm mit aller­lei fie­sen Vorwürfen bahnt sich an. Du reagierst sen­si­bel und löschst dei­ne Accounts. Das musst du dir nicht geben!

Jeder wird sich die­se Situation vor­stel­len kön­nen. Keiner wird behaup­ten, ihm kön­ne das nicht passieren.

Plötzlich bist du in einer Ausnahmesituation, in der bis­her immer nur ande­re gera­ten sind. Du kannst es nicht unge­sche­hen machen. Du hoffst, dass du dem Kind kei­ne blei­ben­den Schäden zuge­fügt hast. 

Keine Entschuldigung, kei­ne Buße; auch kein Gefängnis macht die­ses eine Versehen, die­sen Unfall ungeschehen. 

Du konn­test dir bis dahin nicht vor­stel­len, was eine Sekunde, ein Fehler für dein Leben und dein Ansehen in die­ser Gesellschaft bedeu­ten kann. Ist die­ser Gedanke nicht beängstigend?

Vielleicht kennt ihr sol­che Beispiele von Freunden oder aus der Familie? Ein Ex-​Kollege war in eine Situation gera­ten, von der er mir vor über 40 Jahren erzähl­te. Das Kind war nur leicht ver­letzt. Er fuhr sei­nen Porsche in mäßi­gem Tempo (noch etwas weni­ger als die vor­ge­schrie­be­nen 30 km h) durch ein Wohngebiet in Bergisch Gladbach. Zwischen den par­ken­den Autos rann­te plötz­lich ein Junge auf die Fahrbahn. Den Fußball hat­te er in der glei­chen Sekunde wahr­ge­nom­men wie den ihm fol­gen­den Jungen. Die Berührung des Jungen mit dem Auto und sein Stillstand schie­nen im Bruchteil einer Sekunde abge­lau­fen zu sein. Das Kind war geschockt, der Arm tat weh. Der her­bei­ge­ru­fe­ne Notarzt stell­te fest, dass außer dem Schock und einer leich­ten Prellung nichts pas­siert war. 

Trotzdem hat­te sich schnell eine Ansammlung von Leuten erge­ben, die, ohne zu wis­sen, was eigent­lich pas­siert war, mei­nem Kollegen aggres­siv und vol­ler Vorwürfe gegen­über tra­ten. Er war froh, dass die Polizei schnell vor Ort war, weil ein kör­per­li­cher Angriff zu befürch­ten war.

Ein Mann von über 70 Jahren war mit sei­nem Auto früh mor­gens in Aachen unter­wegs. Er war stolz dar­auf, fast 50 Jahre unfall­frei gewe­sen zu sein. An die­sem Tag krach­te es gewal­tig. Es gab Verletzte. Er war schuld. Bis zu sei­nem Tod, sechs Jahre spä­ter, hat ihn die­se Erfahrung beschäf­tigt. Er sag­te immer wie­der in dem Zusammenhang, dass er doch 50 Jahre völ­lig unfall­frei gewe­sen sei…

Meine bei­den Beispiele wirk­ten im Privaten, im Familienkreis oder im Freundeskreis, weil sie in einer ande­ren Zeit statt­fan­den. Heute kannst du mit jedem sin­gu­lä­ren Fehlverhalten ins Zielkreuz einer Internetöffentlichkeit gera­ten, die aus mei­ner Sicht Existenzen zer­stö­ren kön­nen. Gott sei Dank nicht in jedem Einzelfall. Aber die Dynamik, die etwa Twitter-​Shitstorms ent­wi­ckeln kön­nen, ist wahr­lich beängs­ti­gend und gefähr­lich für unse­re Gesellschaft.

Link: Überleben im Shitstorm: Wie du als Opfer eines Online-​Angriffes dein Seelenheil bewahrst: Ein Notfallkoffer für Betroffene (und ihre Freunde). : Wimmer, Martin: Amazon​.de: Bücher

Menschen bre­chen über ande­re Menschen die Lanze. Sie ken­nen nicht ihre Geschichte, schon gar nicht ihre Persönlichkeit. Sie wis­sen nichts über den Charakter des im Fokus ste­hen­den Delinquenten, nichts dar­über, ob er die­sen Grad an sozia­ler Vernichtung ver­dient hat oder nicht. Jedes dum­me Arschloch kann sich über jeden erhe­ben und ihn mit den schlimms­ten (auch unbe­wie­se­nen) Vorwürfen über­zie­hen. Das ist nicht nur unfair, es ist eine Entwicklung, die sich nach und nach in unse­re Gesellschaft hin­ein­zieht. Wen wir auf einen „Lerneffekt” ver­zich­ten soll­ten, dann sicher auf diesen. 

Ich höre oft, dass die Verrohung unse­rer Gesellschaft vor­an­schrei­tet. Das Internet, sagen vie­le, tra­ge dafür nicht die Verantwortung. Mit ande­ren Worten, die mul­ti­me­dia­le Verbreitung von Hass und Hetze im vir­tu­el­len Raum soll kei­ne Wirkung auf unser Leben außer­halb der vir­tu­el­len Welt haben. Bestenfalls wird ein­ge­räumt, dass das Internet eine Art Brandbeschleuniger wäre. 

Link: Shitstorm: So geht es den Opfern · Dlf Nova

Die moderne Form der Ehrenstrafe, der virtuelle Pranger

Hoffentlich wird uns noch recht­zei­tig klar, wohin die moder­ne Form des Prangers füh­ren wird. Wir brau­chen wirk­sa­me Instrumente, die das Mobbing, die gan­zen Vorverurteilungen und über­schie­ßen­de Vorwürfe gegen Einzelpersonen ver­hin­dern oder wenigs­tens ein­däm­men. Die Konsequenzen dürf­ten aus mei­ner Sicht weit­rei­chen­der sein als im Mittelalter am Pranger gestan­den zu haben. 

P.S.: Ein wenig habe ich beim Schreiben an die Moderne Fünfkämpferin, Annika Schleu, gedacht.


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10 Gedanken zu „Schuld, Sühne, Verzeihen. Funktioniert das auch im Internet?“

  1. Ich las zuletzt
    Mishra „Zeitalter des Zorns ”
    das mir glaub­wür­dig auf­zeig­te, wo die Wurzeln lie­gen. Die Moderne schaff­te viel Unzufriedenheit.

  2. Da aber eine gan­ze Reihe Internetpranger, die hat es im übri­gen schon 1996 gege­ben, nur wur­den sie zum Glück kaum beach­tet, von Vereinen, Verbänden und Parteien selbst betrie­ben wer­den, sehe ich da kaum Möglichkeiten. Im Falle der SPD heißt das Medium dann Volksverpetzer. Ursprünglich mal als Investigativplattform mit Dialogschnittstelle gestar­tet, lang­weilt das Medium inzwi­schen auch hier mit dem Üblichen: „Der hat aber Blödmann zu wem auch immer gesagt!” Da kommt man sich vor, wie auf einem aktu­el­len Elternabend. Offenbar muss da also ein Spiegel der Gesellschaft vor­lie­gen. Dann wäre es doch hier an der Politik einen Rahmen zu zie­hen und den Dialog neu zu gestalten.

  3. Wünschen wür­de ich mir das auch. Als Testballon kann man ja in eine belie­bi­ge Kneipe gehen und ver­su­chen, ein ent­spre­chen­des Gespräch anzu­zet­teln. Zu 50 % funk­tio­niert kein Gespräch, es sei denn es wird über Fußball schwa­dro­niert und was die Queen so macht und beim Rest ent­brennt Streit genau nach o. a. Beispiel. Wohl dem, der als ers­tes eine per­fek­te Sündenböckin für das Thema prä­sen­tie­ren kann. Damit wird das dann abgehakt.

  4. Mishra erwähn­te z.b. das alte Zarenrussland. Es woll­te unbe­dingt an den erfolg­rei­chen Westen (das indus­tri­el­le England/​Frankreich) anschlies­sen, ein 2tes Paris in sei­ner Mitte.
    Das ent­wur­zel­te ein alte, gewach­se­ne und tra­di­tio­nel­le Gesellschaft.
    In „Dämonen” von Dostojewski wur­de das Milieu beschrie­ben. Die Agierenden in Dämonen waren ja mei­ner Erinnerung nach Söhne von Privilegierten.
    Das Internet beschleu­nigt m.e. Entwicklungen, sonst hies­se es nicht Internet.

  5. Verständlich. Leider brin­gen aber nur kon­struk­ti­ve (und ab und an auch ein paar destruk­ti­ve) Dispute einen wei­ter. Erstaunlich, dass sowas vor ein paar Jahren noch mög­lich war. Wie will man Klimalösungen errei­chen, wenn es schon beim eige­nen Klärwerk hängt?

🌻 Freundlichkeit kostet nichts – bringt aber viel.

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