Sie befinden sich hier: Home / Blog / Gesellschaft / Fräulein oder die gute alte Zeit

Gesellschaft

Fräulein oder die gute alte Zeit

Avatar von Horst Schulte

von Horst Schulte

4 Min. Lesezeit

featuredimage

Die Zeiten ändern sich.

Die­ser Bei­trag scheint älter als 3 Jah­re zu sein – eine lan­ge Zeit im Inter­net. Der Inhalt ist viel­leicht veraltet.

Vor 50 Jah­ren, am 16. Janu­ar 1972, sorg­te ein Erlass des ehe­ma­li­gen Innen­mi­nis­ters, Hans-Diet­rich Gen­scher, dafür, dass das Wort Fräu­lein in Behör­den ver­schwand. Ich hat­te es gut. Mei­ne Schul­zeit war schon vor­bei. Es bestand nicht mehr die Gefahr, das Fräu­lein Leh­re­rin zu brüs­kie­ren, weil ich mich nicht schnell genug auf die Neue­rung ein­ge­stellt hat­te. Die woke Com­mu­ni­ty (Sprach­po­li­zei) gabs noch nicht, so dass kein Stress auf­kam, nur wenn jemand sich mal im Ton vergriff. 

War­um benut­zen die Bri­ten eigent­lich immer noch Miss und Mis­ses? Sind die ein­fach rück­stän­dig oder haben wir deut­schen schlicht nen Knall? Im Busi­ness wird die Anre­de Miss angeb­lich nicht mehr ver­wen­det, wäh­rend er im pri­va­ten Bereich immer noch nor­mal ist. Wor­an erin­nert die­se schon so lan­ge zurück­lie­gen­de Maß­nah­me mich bloß?

Fräulein Agnes

Einer der wich­tigs­ten Men­schen in mei­nem Leben war Fräu­lein Agnes. Als mei­ne Eltern und ich (mei­ne Schwes­ter war noch nicht gebo­ren) 1957 auf den Son­nen­hof umge­zo­gen sind, war ich noch kei­ne vier Jah­re alt. Den Tausch der klei­nen Miet­woh­nung gegen den zur Gärt­ne­rei gehö­ren­den Bun­ga­lows nahm ich höchs­tens als den Bestand­teil eines Gesamt­pa­kets wahr, das unse­re Lebens­um­stän­de aus­mach­te. Ich lern­te neue Men­schen in unmit­tel­ba­rer Umge­bung ken­nen. Da waren die drei Gehil­fen mei­nes Vaters, die unter sei­ner Lei­tung das rie­si­ge Grund­stück und die gro­ßen Gär­ten in Schuss hiel­ten und eine Rei­he ande­rer Per­so­nen, die mit uns auf dem Son­nen­hof lebten. 

Fräu­lein Agnes war die Köchin der Unter­neh­mer­fa­mi­lie, denen der Son­nen­hof gehör­te. Sie stamm­te aus Schle­si­en und war mit ihrer Fami­lie nach dem Krieg unter schwie­rigs­ten Bedin­gun­gen in den Wes­ten Deutsch­lands geflo­hen. Mei­ne Groß­el­tern leb­ten nicht mehr. Als ich Fräu­lein Agnes zum ers­ten Mal begeg­net bin, war sie erst 50 Jah­re alt. Ihr Haar war bereits schloh­weiß. Ich hat­te ab die­sem Zeit­punkt uner­war­tet doch so etwas eine Oma. Mei­ne Eltern und sie haben sich recht schnell ange­freun­det. Sie war oft bei uns. Ich besuch­te sie häu­fig in ihrer Küche im Haupt­haus. Ein legen­dä­rer Spruch, den ich kaum je ver­ges­sen wer­de, lau­te­te: »Wirsch­te wohl aus mene Kiche gehn«. Das hör­te ich sel­ten, aber wenn der Satz fiel, war Vor­sicht gebo­ten. Sie hat­te das Regi­ment – und nicht nur in ihrer Küche! 

Die Eigen­tü­mer des Son­nen­hofs hat­ten anfangs zwei Hun­de. Einen Boxer und einen Dackel. Dackel Moritz war schon etwas älter. Der Boxer taps­te aus einer gro­ßen Trans­port­schach­tel. Unser ers­tes Zusam­men­tref­fen fand in Agnes’ Küche statt. Moritz und Arco waren ab die­sem Zeit­punkt unse­re treu­en Beglei­ter und selbst die engs­ten Freun­de, die man sich nur den­ken könn­te. Die wich­tigs­te Bezugs­per­son für bei­de Hun­de war den­noch immer sie. 

Wenn Fräu­lein Agnes koch­te, durf­te ich zuse­hen. Eine Wei­le woll­te ich Koch wer­den, weil ich von ihrer Vir­tuo­si­tät in der Küche so abso­lut begeis­tert war. Ich schwö­re, es lag nicht bloß dar­an, dass ich hin und wie­der pro­bie­ren durf­te! Wenn die Vor­be­rei­tun­gen in ihre hei­ße Pha­se gin­gen, weil eine grö­ße­re Grup­pe von Gäs­ten zu Besuch kam und es dann in der Küche rich­tig rund ging, wur­de ich mit den bekann­ten Wor­ten hinauskomplimentiert. 

Ein­mal wur­den eini­ge Kis­ten mit Fluss­kreb­sen aus Por­tu­gal ange­lie­fert. Ich mag nicht beschrei­ben, wie die Zube­rei­tung der Tie­re ablief, es war gru­se­lig. Das hielt mich aber über­haupt nicht davon ab, zu kos­ten. Leu­te, es schme­cke groß­ar­tig. Zu jener Zeit war ich noch nicht ein­ge­schult. Vom Kochen bin ich dann spä­ter abgekommen.

Mein Vater und Fräu­lein Agnes hat­ten am glei­chen Tag Geburts­tag. Die Geburts­tags­fei­ern am 1. August gehö­ren zu mei­nen schöns­ten Erinnerungen. 

Fräu­lein Agnes starb 1999 im Alter von 93 Jah­ren in einem Alters­heim. Sie blieb ihr Leben lang unver­hei­ra­tet. Sie war sehr bele­sen, ich moch­te die Dis­kus­sio­nen mit ihr über alle mög­li­chen ver­schie­de­nen The­men des Lebens. Sie war immer auf der Höhe der poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen The­men unse­rer Zeit. Mir ist es aller­dings nie gelun­gen, ihre poli­ti­schen Prä­fe­ren­zen ein­deu­tig zu klä­ren. Dafür war sie zu diplo­ma­tisch. Ich glau­be nicht, dass sie, wie mei­ne Fami­lie und ich, je SPD gewählt hat. Jeden­falls war sie im bes­ten Sin­ne libe­ral und welt­of­fen. Sie gehört zu den Men­schen, von denen ich sage, dass ich sie auch nach so lan­ger Zeit sehr ver­mis­se. Für mich war sie bis zu ihrem Tod Fräu­lein Agnes. Das mag für man­chen ange­sichts ihres Alters etwas despek­tier­lich oder sogar wür­de­los klin­gen. Aber für mich und alle in der Fami­lie war es nor­mal und kein biss­chen komisch. Sie hat es nie gestört und sie hat nie auf eine Ände­rung gedrängt. Wir blei­ben bis zu ihrem Tod beim Sie. 

IMG 2084

Ich bin Horst Schulte

Herausgeber, Blogger, Amateurfotograf

alleiniger Autor dieses Blogs

Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe seit meiner Geburt (auch aus Überzeugung) auf dem Land.

Ich kann die Leute nicht ändern, aber meinen Blick auf sie.

Artikelinformationen:

Gesellschaft

Familie, Freunde

Quelle Featured-Image: HorstSchulte.com...

Letztes Update:

31 Views
Anzahl Worte im Beitrag: 782

Schreibe einen Kommentar


Hier im Blog werden bei Abgabe von Kommentaren keine IP-Adressen gespeichert! Ihre E-Mail-Adresse wird NIE veröffentlicht! Sie können anonym kommentieren. Ihr Name und Ihre E-Mail-Adresse müssen nicht eingegeben werden.


Your Mastodon Instance
Share to...