Verhandlungskunst oder Selbstbetrug? Eine Republik im Wartestand

Die stockenden Koalitionsverhandlungen befeuern Zweifel an der Demokratie – und stärken gefährliche Alternativen.

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HORST SCHULTE

Aus den Koalitionsverhandlungen hört man wenig. Dafür wird in den Medien viel darüber geredet und geschrieben. Es stellt sich das Gefühl ein, dass alles so weitergehen könnte wie bisher. Kein gutes Omen.

Beide designierten Koalitionspartner bekommen ihr Fett weg. Es wird dabei auch gern persönlich. Eskens (SPD), Klingbeil (SPD), aber auch Merz (CDU) und sein Generalsekretär Linnemann (CDU) bekommen ordentlich etwas ab.

Die Springerpresse ist bei der Hetze schon wieder ganz vorn dabei. Manchmal verstehe ich das sogar, weil die wenigen Aussagen, die öffentlich werden (z. B. Lars Klingbeil), sind wahrhaft nicht dazu angetan, Vertrauen zu fassen. Soll wirklich alles so weitergehen wie bisher? Und was bedeutet es eigentlich, wenn diese Vermutung angestellt wird?

Die »letzte Patrone der Demokratie«?

In einer der letzten Umfragen, die ich gesehen habe, lagen CDU und AfD nur noch fünf Prozent auseinander. Das wird weniger: Das INSA-Institut am 24.03. für die AfD inzwischen sogar 23,5 %, für die Union 27 %. Wenn also die Koalitionsverhandlungen scheitern sollten, könnte die AfD schneller als stärkste Kraft aus etwaigen Neuwahlen hervorgehen, als man sich das vor wenigen Wochen noch vorstellen konnte. Da ging man davon aus, dass die »letzte Patrone der Demokratie« erst in der kommenden Legislatur abgeschossen würde.

Ich habe das Gefühl, dass die meisten Kritiker Anstoß an der erwarteten(?) nicht devoten Haltung der SPD nehmen. Wie kann sich die 16,4-%-Partei bloß herausnehmen, die viel stärkere Union derart über den Tisch zu ziehen — oder wie man das sonst ausdrückt?

Politik wie immer?

Die Verhandlungen scheinen tatsächlich so zu laufen, wie das in den vergangenen Jahrzehnten gelernt ist. Die Koalitionspartner versuchen, das Beste für ihre Partei herauszuholen. Dabei sollte doch inzwischen wirklich klar sein, dass es endlich mal zuerst ums Land und dann erst um die Partei oder ihr Führungspersonal gehen müsste. So kann man verkürzt wohl die Erwartungshaltung vieler an diesen erneuten Reformversuch (nach der Fortschrittskoalition) zusammenfassen, nicht wahr?

Wie hätte man sich das vorzustellen, frage ich mich. Wären Klingbeil und seine Leute in die Verhandlungen eingetreten und hätten ihre Parteiprogrammatik vor der Tür lassen sollen? Was würde entstehen, wenn die SPD, deren Orientierung sich ja angeblich nur an kleinen speziellen linken Zirkeln innerhalb der Partei und nicht mehr an den großen Linien der Sozialdemokratie ausrichten soll, ihre Positionen zugunsten der Konservativen aufgäbe?

Es handelt sich um zwei Parteien mit stark unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Ansätzen. Das haben sogar die festgestellt, die gern davon redeten, dass die Parteien sich programmatisch kaum mehr voneinander unterscheiden würden. Es gibt Unterschiede und das sollte in einer Demokratie wohl auch so sein!

Streit statt stiller Einigung

Was erwarten wir von Verhandlern bei Koalitionsgesprächen anderes, als dass die Verantwortlichen sich rundum für die Überzeugungen einsetzen, die ihnen zu eigen sind? Wäre nicht alles andere Verrat — auch an den Wählern? Man könnte aufgrund der merkwürdigen Einlassungen vieler Journalisten des konservativen Spektrums auf den Gedanken kommen, dass sie einer unionsgeführten Regierung angesichts der großen Herausforderungen unserer Zeit raten möchten, lieber einmal still durchzuregieren. Merkel lässt grüßen. Leider sind die Spielräume trotz gewaltiger Schuldenaufnahme, vor allem jedoch aufgrund der unzweifelhaft gegebenen Reformbedarfe, verdammt klein.

Personaldebatten statt Inhalte

Da maulen die Springer-Leute, dass etwa der Arbeitsgruppe Migration zwei SPD-Verhandler sitzen, die dort aufgrund ihrer konträren Haltung zur Unionsposition überhaupt nicht sein sollten. Es wird also der Eindruck erweckt, dass diese beiden Personen die Verhandlungsergebnisse in dieser Arbeitsgruppe gewissermaßen gegen die Interessen der Union und der SPD negativ beeinflussen. Linke Sektierer, die nicht am Puls der Zeit sind und deshalb nicht der eigenen Mitgliederschaft Rechnung zu tragen bereit sind, sondern nur dem ewig linksextremen Genöle von der Gleichheit der Menschen.

Die SPD als überheblicher Zwerg?

Es wird behauptet, die SPD würde sich trotz ihres desaströsen Wahlergebnisses unangemessen (»wie der große Sieger«) aufführen. Gut, Springer als Hauspost der Union gibt gern Schwachsinn zum Besten. Aber wir lesen Ähnliches auch bei Focus oder anderen konservativen Medien. Ja, es ist vieles anders und die Menschen machen sich große Sorgen um die Zukunft. Bedeutet die Kritik solcher konservativen Journalisten, dass wir bereits an dem Punkt angelangt sind, demokratische Spielregeln (Verhandlungen) lieber zugunsten autokratischer Strukturen aufgeben wollen?

Klingbeil und seine Leute versuchen für ihre Partei das Beste herauszuverhandeln, ohne dabei das Wohl des Landes zu ignorieren. Die Grundüberzeugungen sind nun einmal andere als die der Konservativen.

Neue Ufer – oder gefährliches Fahrwasser?

Die neusten Umfragen in Deutschland zeigen den Trend zu »neuen Ufern«. Das klingt positiv, ist es aber natürlich kein bisschen.

Vertrauen und Hoffnung dürfen nicht enttäuscht werden.

Die Leute wollen offensichtlich diese Art von Diskussionen und Taktiererei unserer politischen Eliten nicht mehr akzeptieren. Deshalb steht die AfD kurz davor, deutschlandweit stärkste Partei zu werden. Scheitern die Koalitionsverhandlungen oder arbeitet die Koalition nach ihrem Zustandekommen weiter so wie bisher so erfolglos, so werden die Rechtsextremen das Sagen bekommen.

Österreich, Niederlande – Vorbilder?

Möglicherweise retten uns solche politischen Konstrukte wie in Österreich oder den Niederlanden kurzfristig noch davor, dass die Rechten übernehmen. Die Tendenz ist jedenfalls so entmutigend, weil der Kampf gegen die weltweiten faschistischen Bewegungen nicht mehr auf die Unterstützung einer Mehrheit in der Bevölkerung hoffen kann. Dass dies an einer wenig überzeugenden, kohärenten Politik liegt, muss man nicht extra betonen.

Ein letzter Funke Hoffnung

Einstweilen bleibt nur die Hoffnung darauf, dass weißer Rauch aufsteigt und die Koalitionäre den Verhältnissen im Land angemessene Ergebnisse vorzeigen. Aber auch (vielleicht sogar vor allem!) das Urteil der inflationär existierenden Kritiker, Fachleute und Maulhelden nicht ganz so schlecht ausfällt, wie es im Moment zu erwarten ist.

Horst Schulte

Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe seit meiner Geburt (auch aus Überzeugung) auf dem Land.

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Koalitionsverhandlungen, Medienkritik, Rechtsruck

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2 Gedanken zu „Verhandlungskunst oder Selbstbetrug? Eine Republik im Wartestand“

  1. Ich frage mich, warum nicht „nach Proporz“ entschieden wird: Man macht eine Liste der zu entscheidenden Sachthemen und vergibt dann Machtpunkte entsprechend der unterschiedlichen Prozente bei der Wahl. Und dann schaut man drüber und verhandelt über das nochmal, was zu widersprüchlich in der Umsetzung wäre.
    So wenig ich mit den CDU-Positionen sympatisiere, so sehe ich doch ein, dass das Ergebnis insgesamt nicht zu sozialdemokratisch aussehen sollte – eben aus dem Grund, dass der Frust der CDUler dann zu noch mehr Stimmen für die AFD führen würde.

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