Realitätsverweigerung? Verheugen, die USA und der Ukrainekrieg: Eine irritierende Verkürzung


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HORST SCHULTE

Günter Verheugen, langjähriger EU-Kommissar und SPD-Mitglied, zeichnet in seinem Vortrag ein düsteres Bild der aktuellen geopolitischen Lage. Er kritisiert die westliche Russlandpolitik seit dem Ende des Kalten Krieges scharf, warnt vor nuklearer Eskalation und fordert eine Rückkehr zu einer kooperativen europäischen Friedensordnung. Im Zentrum seiner Argumentation steht die These, dass der Krieg in der Ukraine Ausdruck eines „geopolitischen Stellvertreterkriegs“ sei – und die USA ein strategisches Interesse an der Schwächung Russlands hätten. Wennschon, dann müsste es wohl „hatten“ bzw. gehabt haben heißen. In der Ära Trump ist Verheugens altlinke Beschreibung einfach nur grotesk.

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Er spricht, wie viele das heute noch immer tun, die angebliche, nur leider nicht verbriefte Zusage der USA an Russland von Anfang der 1990er Jahre an, dass die NATO keine Anstalten zur Ost-Erweiterung machen werde. Statt auf Beweise greift er auf Anekdotisches zurück:

„Es ist richtig und in dem letzten Gespräch, das ich mit Hans-Dietrich Genscher hatte, ein Jahr bevor er starb, hat er mir es noch einmal bestätigt: Es ist so gewesen, dass im Zusammenhang mit der deutschen Einigung Gorbatschow die Zusage gemacht worden ist, dass die NATO sich nicht nach Osten ausdehnen würde. Es ist richtig, dass das nicht vertraglich fixiert worden ist. Wenn darin ein Vorwurf liegt, dann ist es der Vorwurf, dass Gorbatschow uns geglaubt hat.

Verheugen im YouTube-Vortrag

Gemeinsam mit dem US-Außenminister verkündet er, dass der Westen bei allen anstehenden Verhandlungen und Gesprächen selbstverständlich Rücksicht auf die strategischen Interessen der Sowjetunion nehmen wird. „Wir waren uns einig, dass nicht die Absicht besteht, das NATO-Verteidigungsgebiet auszudehnen nach Osten“, erinnert sich Genscher später. „Das gilt übrigens nicht nur in Bezug auf die DDR, die wir nicht einverleiben wollen, sondern das gilt ganz generell.“ Tage später beim Besuch in Moskau wird James Baker noch einmal auf diese Zusicherung zurückkommen. Er und seine Mitarbeiter wissen: Nur so wird sich eine Tür für Verhandlungen überhaupt erst öffnen. Und ihre Strategie geht auf.

Jack Matlock, 1990, US-Botschafter in Moskau: „Ich erinnere mich an Bakers Worte: „Sie müssen nicht gleich antworten, aber denken Sie darüber nach. Angenommen, die NATO dehnt sich nicht weiter nach Osten aus, keinen Zentimeter: Wäre es dann nicht besser für die zukünftige Stabilität der Welt, wenn Deutschland in die NATO eingebunden wäre und Amerika wäre weiterhin militärisch in Europa präsent? Gorbatschow antwortete: „Jede NATO-Erweiterung nach Osten wäre selbstverständlich inakzeptabel. Aber ich verstehe, was Sie meinen. Und ich will gründlich darüber nachdenken.“

Quelle

Das Problem: Verheugens Vortrag ist in sich nicht stimmig. Verheugen blendet zentrale Aspekte aus – allen voran die Tatsache, dass die Ukraine kein bloßes Objekt ist, sondern Subjekt. Sie wurde überfallen. Sie wehrt sich. Und sie tut das nicht auf Geheiß aus Washington, sondern aus dem existenziellen Zwang heraus, sich zu verteidigen. Der Zusammenbruch des Warschauer Paktes eröffnete den USA alle Möglichkeiten, ihre imperialistische Politik zu betreiben. Dass dies im geschichtlichen Kontext überraschenderweise ohne kriegerische Auswirkungen vonstattenging, war ein echter Glücksfall für unsere Welt.

Dieses ebenfalls überlieferte Zitat aus der Vergangenheit wird gern verschwiegen:

Ich erinnere mich an die Diskussion im Konferenzraum des Weißen Hauses. Wir stellen Gorbatschow die Frage: Glauben Sie, dass jedes Land wählen darf, welchem Sicherheitsbündnis es sich anschließen will? Und er sagte: Ja, natürlich.

James Baker

Irritierend ist Verheugens Analyse, wenn man Elemente davon mit der aktuellen Politik Donald Trumps vergleicht. Der US-Präsident hat wiederholt signalisiert, er wolle die US-Unterstützung für die Ukraine drastisch kürzen oder gar beenden. Er versprach sogar, den Krieg „in 24 Stunden zu beenden“ – freilich ohne zu erklären, wie. Trump steht für eine isolationistische Agenda. „America First“ heißt eben nicht „Europa sichern“. Wenn Verheugen recht hätte mit seiner geopolitischen Lesart, dann müsste Trump der größte Befürworter dieses Krieges sein. Das ist er aber nicht, wie wir inzwischen sicher wissen.

Verheugen ist ein Veteran europäischer Politik. Sein Ruf verdient Respekt. Aber seine Sicht auf den Ukrainekrieg ist eine unzulässige Vereinfachung. Sie stützt sich auf eine Alt-Linke Lesart des Imperialismus, die die Komplexität der Gegenwart nicht mehr erfasst. Putin wird darin zum Getriebenen, zum Reagierenden. Die NATO zur Provokateurin. Und die USA zum Strippenzieher, dem alles in die Hände spielt.

Das ist bequem, aber falsch. Es ist ein Krieg mit Opfern, kein Schachspiel mit Figuren. Und wer das nicht mehr erkennt, hat sich vom Geist der Aufklärung verabschiedet, den er so gerne beschwört. Verheugen plädiert für eine gesamteuropäische Friedensordnung unter Einbeziehung Russlands – nicht als Vasall der USA, sondern als souveräner Akteur mit gleichberechtigtem Status. Dann sollte ihm die Politik Trumps doch zupasskommen.

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Horst Schulte
Rentner, Blogger & Hobbyfotograf
Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 71 Jahre alt und lebe seit meiner Geburt (auch aus Überzeugung) auf dem Land.

Schlagworte: Russland Ukraine USA Verheugen

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2 Gedanken zu „Realitätsverweigerung? Verheugen, die USA und der Ukrainekrieg: Eine irritierende Verkürzung“

  1. Bis vor kurzem habe ich Verheugens Meinung noch voll und ganz unterstützt, inzwischen sehe ich das auch etwas differenzierter. Unerträglich finde ich allerdings zum einen die Kriegsgeilheit, insbesondere der Grünen, und den Versuch einiger Politiker (Baerbock, Hofreiter, Strack-Zimmermann und einigen anderen), die Bevölkerung mit ihrem Russenhass zu infiltrieren.

    Nicht „die Russen“, haben den Krieg begonnen, sondern der imperiale Machthaber Putin mit seinen Schergen Lawrow und Co. Ich bin auch der Meinung, dass wir, zumindest in der Nach-Putin-Ära, wieder versuchen sollten Beziehungen zu Russland aufzubauen und das nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen.

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