Gegen die Mythen vom Hinterzimmer – Für ein starkes Verfassungsgericht
Wenn Roland Tichy in einem Videobeitrag die Wahl zweier Richterinnen ans Bundesverfassungsgericht als „geplanten Staatsstreich“ bezeichnet, ist das nicht nur grotesk überzogen – es ist gefährlich. Es handelt sich um den Versuch, demokratische Verfahren zu delegitimieren und unabhängige Juristinnen zu diffamieren. Diese polemische Entgleisung verdient eine entschlossene und nüchterne Entgegnung.
Demokratie ist kein Theatersaal – sondern ein Prozess
Tichy sagt in einem Video:
„Die Demokratie wurde viel mehr verteidigt gegen die Parteipolitisierung und gegen die Hinterzimmerpolitik.“
Doch was ist eigentlich undemokratisch daran, wenn Parlamentarier – also demokratisch gewählte Volksvertreter – Richterinnen und Richter vorschlagen und wählen? Das ist kein Schattenreich, kein „verräuchertes Hinterzimmer“, sondern gelebter Parlamentarismus. Hinterzimmer – das sind Deals ohne Öffentlichkeit. Die Wahl von Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichterinnen hingegen erfolgt nach klaren Regeln: mit Zweidrittelmehrheit, in einem transparenten parlamentarischen Verfahren.
Was Tichy hier als Skandal aufbläst, ist in Wahrheit Ausdruck eines verfassungsrechtlich abgesicherten, bewusst auf Konsens angelegten Prozesses. Denn gerade die hohe Hürde der Zweidrittelmehrheit zwingt zu Ausgleich, nicht zu Willkür.
Warum Parteien an der Auswahl beteiligt sind – und das auch gut so ist
Parteien sind keine Fremdkörper im politischen System – sie sind seine Lebensadern. Sie sorgen für politische Willensbildung und bündeln gesellschaftliche Interessen. Wer von „Parteipolitisierung“ bei der Richterwahl spricht, verkennt das Grundprinzip der repräsentativen Demokratie: Entscheidungen werden von Repräsentanten getroffen. Es sind nicht die Personen, sondern das Verfahren, das zählt.
Natürlich bringen Parteien Vorschläge ein. Natürlich werden Namen intern diskutiert. Aber am Ende steht die Wahl durch den Bundestag oder den Bundesrat. Wer das als „Staatsstreich“ bezeichnet, stellt die gesamte demokratische Architektur infrage.
Kein „Putsch durch die Hintertür“, sondern Schutz vor Willkür
Tichy fabuliert:
„Sie zu berufen wäre ein stiller Staatsstreich, ein Putsch durch die Hintertür …“
Das ist rhetorischer Sprengstoff, aber argumentativ blind. Denn was ist die Alternative? Eine Volkswahl der Verfassungsrichtern? Das mag in manchem populistischen Ohr süß klingen – wäre aber verfassungsrechtlich fatal. Juristische Qualität, Ausgewogenheit, Unabhängigkeit – all das lässt sich in keiner Talkshow debattieren und keinem Twitter-Poll ermitteln.
Gerade der Blick über den Atlantik zeigt, wohin das führen kann:
Der Supreme Court der USA – eine Mahnung, kein Vorbild
Die Vereinigten Staaten erleben derzeit, was geschieht, wenn Richterwahlen zum Instrument parteipolitischer Machtergreifung verkommen. Der Supreme Court ist – bei lebenslangen Amtszeiten – inzwischen in eine ideologische Schieflage geraten, die ganze Gesellschaften spaltet. Die Berufung erfolgt dort durch den Präsidenten, bestätigt vom Senat – in Wahlkampfzeiten oft ein reines Machtspiel. Es ist ein System, das Justiz als politische Beute versteht.
Ergebnis? Roe v. Wade wurde gekippt (1973 – Schwangerschaftsabbruch), das Waffenrecht ausgeweitet, Minderheitenrechte beschnitten – nicht durch gewachsene Verfassungsentwicklung, sondern durch strategische Postenbesetzungen. Das ist genau das, wovor unsere deutsche Lösung schützt. Wenn Rechtsextreme und Konservative die Wende bei der Rechtsprechung von Schwangerschaftsabbrüchen auch in Deutschland wollen, sind die Fronten jetzt ja geklärt. Also Bürger: Wehrt euch — und zwar jetzt!
Gibt es bessere Alternativen?
Natürlich ist das bestehende Wahlverfahren nicht sakrosankt. Mehr Transparenz wäre möglich. Eine öffentliche Anhörung wie in den USA – aber ohne deren theatralische Auswüchse – könnte helfen, Positionen besser einzuordnen. Auch eine stärkere Beteiligung unabhängiger Juristenvereinigungen wäre denkbar. Doch eines ist klar: Der aktuelle Konsensmechanismus ist kein Problem, sondern eine tragende Säule der Balance zwischen Demokratie und Rechtsstaat.
Die “Feinde” der Demokratie reißen sich die Masken vom Gesicht. Sie machen die Demokratie verächtlich
Tichy gibt dem AfD-Wähler, die einen großen Teil seiner Leserschaft ausmachen und anderen rechten Zeitgenossen Zucker:
„An die Stelle des Grundgesetzes treten die Feinde an in der roten Robe der Richter, um unsere Freiheit zu zerstören.“
… dann offenbart sich ein weiterer, beunruhigender Zungenschlag. Wer so spricht, verlässt den Raum demokratischer Debatte. Wer Wissenschaftlerinnen als „furchtbare Juristinnen“ diffamiert, weil sie unbequeme Auffassungen vertreten, schürt Ressentiments und fördert eine Gesinnungsjustiz – nur eben mit umgekehrtem Vorzeichen.
Es gehört zur intellektuellen Redlichkeit einer offenen Gesellschaft, auch Positionen zuzulassen, die streitbar sind. Genau dafür ist das Verfassungsgericht da: um den Rahmen des Sagbaren, Gesetzlichen und Verfassungsmäßigen abzustecken – nicht, um parteipolitisch zu gefallen.
Demokratie lebt vom Verfahren – nicht vom Gebrüll
Die „Tür zum Hinterzimmer“ wurde nicht geschlossen. Manchmal denken viele von uns, dass es sie gibt. Aber in diesem Fall sollten wir diese Bemerkung identifizieren als brutalen und natürlich völlig untauglichen Versuch, der Demokratie zu schaden. Wer, wie Tichy, unverantwortlich von Staatsstreich, linksextremen Richterinnen und einemTor zur Hölle redet, um einer anderen Republik das Tor zu öffnen, will keine Diskussion – er betreibt wie seine rechte Peergroup Dämonisierung politisch Andersdenkender. Darin ist er gut. Er ist für mich kein seriöser Journalist. Er war es vermutlich nie.
Der deutsche Weg der Richterwahlen ist kein Irrweg. Er ist ein mühsamer, oft unbequemer Balanceakt – aber er bewahrt Würde und Ernst der Demokratie.
Wer Richterwahlen als Theater inszeniert, zeigt vor allem eines: eine tiefe Verachtung gegenüber den Regeln, die uns tragen. Er bekämpft die Demokratie und öffnet so die Pforten zu einem Regime, das keiner wollen kann.
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