Was ich schon lange mal über Schröders hochgelobte Agenda schreiben wollte:
Ja, es war die Zeit der Reformen, der Modernisierung, der angeblich bitter nötigen Einschnitte: Mit der Agenda 2010 krempelte die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder Anfang der 2000er Jahre das deutsche Sozialsystem um. Der Applaus der Wirtschaftseliten war ihr gewiss, der Dank der späteren Rentnergeneration jedoch bleibt aus – und das aus gutem Grund. Es ist schon ein wenig so wie heute. Allerdings hat die Rezession andere Gründe als „nur” eine konjunkturelle Schwäche. Insofern sind die Voraussetzungen heute deutlich schlechter als Ende der 1990er Jahre. Für mich ist weit und breit kein Grund für Optimismus erkennbar. Ich hoffe für uns alle, mein Pessimismus ist meiner ganz persönlichen Sicht der Dinge geschuldet.
Arbeit für alle – aber zu welchem Preis?
Die große Erzählung der Agenda lautete: Wer Arbeit sucht, soll sie finden. Und das klappte – auf dem Papier. In der Realität bedeutete das für Millionen: Minijobs, Leiharbeit, befristete Verträge, Teilzeit statt Tariflohn. Wie das von Gewerkschaften, SPD, Grünen und Linken geforderte Tariftreuegesetz im Land beäugt wird, scheint im aktuellen Klima unvermeidlich. Ein linkes Projekt halt. Teufelszeug und gegen den Trend bzw. den Schlachtrufen nach Bürokratieabbau. Wieder scheint die neutralste Beschreibung ein Wort wie „Bürokratiemonster” zu sein.
Der Niedriglohnsektor wuchs durch die Agenda-Politik Schröders rasant. Deutschland entwickelte sich zu einem der größten Niedriglohnländer Europas. Aber sie war doch so wertvoll (für die Wirtschaft!) und deshalb kann keiner verstehen, weshalb sich die SPD mit diesem Mühlstein um ihren Hals so herumquält. Man könnte fast glauben, die angebliche Abkehr von der Arbeitnehmerschaft sei in Teilen der Partei immer noch unvollendet.
Ein Blick in die Statistik bestätigt das Unbehagen: Zwischen 2000 und 2010 sanken die Reallöhne in Deutschland – während sie in den meisten EU-Ländern stiegen. Der Anteil der Beschäftigten im Niedriglohnbereich stieg laut Hans-Böckler-Stiftung zeitweise auf über 20 Prozent.
Die letzten Jahre vor der Rente – eine verlorene Zeit?
Für das Rentenniveau sind nicht alle Jahre gleich wichtig. Wer am Ende seiner Erwerbsbiografie in den Niedriglohn oder gar in die Erwerbslosigkeit gedrängt wird, hat kaum Chancen, seine Rentenansprüche zu stabilisieren.
Die gesetzliche Rente bemisst sich an sogenannten Entgeltpunkten – und wer in den letzten 10 bis 15 Jahren vor Rentenbeginn deutlich unterdurchschnittlich verdient hat, verliert nicht nur Einkommen, sondern Rentenansprüche in empfindlicher Größenordnung.
Gerade diese Lebensphase wurde durch die Agenda 2010 und die Hartz-Reformen für viele zur wirtschaftlichen Rutschbahn. Menschen über 50 verloren ihren angestammten Arbeitsplatz und landeten in Minijobs, Maßnahmen oder sogenannten Ich-AGs. Rentenversicherungsbeiträge?
Kein Aufstieg mehr möglich – und keine Rente, die reicht
Einmal im System der prekären Beschäftigung angekommen, war der Weg zurück in eine sozialversicherungspflichtige Vollzeitstelle oft verbaut. Die Spätfolgen zeigen sich heute in harten Zahlen:
Von den mehr als 5,5 Mio. Rentner:innen mit mind. 45 Versicherungsjahren beziehen über 25 % weniger als 1 300 € im Monat – bundesweit gerechnet. Quelle
Im Westen liegt der Durchschnitt nach 45 Beitragsjahren bei 1 729 €, im Osten bei 1 527 €
Frauen erhalten durchschnittlich 1 449 €, Männer 1 778 € bei 45 Beitragsjahren. In Westdeutschland erhalten Frauen im Schnitt weniger als 1 000 € Rente pro Monat, im Osten deutlich mehr. Der Unterschied liegt bei rund 300–400 € im Vergleich. Quelle
Die Rente reicht oft nicht zum Leben – und das, obwohl viele ihr Leben lang gearbeitet haben. Das ist kein individuelles Versagen, sondern ein Systemfehler. Ein Ergebnis politischer Entscheidungen.
Das Versprechen von damals – und die Realität von heute
„Fördern und Fordern“ hieß es damals. Gefördert wurde vor allem die Flexibilität der Unternehmen, gefordert wurde von den Menschen, dass sie mit weniger Lohn und Sicherheit zufrieden sind – und mit der Aussicht auf eine Rente, die oft zur Demütigung gerät.
War das alternativlos? Natürlich nicht. Andere Länder haben soziale Reformen moderner gestaltet, mit flankierenden Mindestlöhnen und Rentenpolstern. In Deutschland aber wurde über Jahre hinweg der Boden für Altersarmut bereitet – mit Ansage und Applaus.
Ein Echo, das nachhallt
Die Agenda 2010 mag ökonomisch kurzfristig erfolgreich gewesen sein. Doch die soziale Bilanz fällt ernüchternd aus. Sie hat ein Heer von Rentnerinnen und Rentnern hervorgebracht, das mit Würde leben möchte – und dabei oft zwischen Tafelbesuch und Heizkostenzuschuss balancieren muss.
Der gesellschaftliche Preis für die gefeierte Wettbewerbsfähigkeit war hoch. Und er wird noch Generationen nachhallen.
Vielleicht lassen sich die Renten durch künftige Systeme (Flexrente) auch für die etwas verbessern, die durch die Agenda 2010 viel verloren haben. Schlechte Renten wirken auf die Gesellschaft insgesamt negativ und führen zu wenig hilfreichen, ja frustrierenden Vergleichen mit anderen Ländern (s. Österreich).
Links zum Weiterlesen:
- Hans-Böckler-Stiftung zum Niedriglohnsektor
- IAQ-Report zur Entwicklung des Niedriglohnsektors
- Erfahren, aber oft abgehängt: Die Realität älterer Arbeitnehmer – StefanPfeiffer.Blog
Oha. Was ist los? Bist Du etwa knapp bei Kasse?
Go fund me is an established solution.
@Juri Nello: Ich habe Glück gehabt. Wäre meine Berufstätigkeit unter ähnlichen Bedingungen verlaufen wie für so viele andere, wäre es anders.