Egal, welche Politiker oder Wissenschaftler sich zu den Krisen in Deutschland äußern – sie können sicher sein, immer denselben Vorwürfen und „Gegenargumenten“ zu begegnen. Die linke Presse trägt selten dazu bei, die Dinge ins Lot zu rücken, sondern springt den Kritikern reflexhaft zur Seite. Mein Eindruck ist: Aussagen von Wissenschaftlern überzeugen in grün-linken Kreisen nur dann, wenn sie die eigene Meinung bestätigen.
Natürlich gibt es – wenn man es sich einfach machen will – linke und rechte Wissenschaftler. Doch vor allem gibt es jene, die sich um evidenzbasierte Aussagen bemühen. Dass dabei unterschiedliche Thesen in den öffentlichen Raum gelangen, sollte eine aufgeklärte Gesellschaft weniger überraschen, als es in Deutschland der Fall ist. Wir scheinen nichts dazulernen zu wollen. Die Reaktionen jedenfalls lassen kaum erkennen, dass man Einsichten wissenschaftlicher Debatten ernsthaft aufnimmt.
Cancel Culture statt Auseinandersetzung
Linke Akteure arbeiten sich auf immer gleiche Weise an denen ab, die Kritik am Mindestlohn oder an der Überforderung der Gesellschaft durch Massenmigration äußern. Am liebsten würden sie diese unliebsamen Stimmen aussortieren – so mein Eindruck. Genau das bezeichnet man als Cancel Culture. Links-Grün will davon jedoch nichts wissen. Stattdessen versuchen ihre Vertreter, diese undemokratischen Mechanismen zu verbergen oder zumindest zu verniedlichen.
Das geschieht etwa mit dem Argument, Rechte seien überempfindlich und würden bloßen Widerspruch mit Einschnitten in die Meinungsfreiheit verwechseln. Wenn es doch so einfach wäre. Doch neue Einsichten entstehen auf dieser Basis nicht.
Was wollte Fratzscher eigentlich erreichen?
Sein Vorschlag zielte in erster Linie nicht auf direkte staatliche Einsparungen, sondern auf:
- Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts: Ältere sollten ihr Wissen, ihre Erfahrung und ihre Zeit stärker in die Gesellschaft einbringen.
- Entlastung von Pflege, sozialen Diensten und Ehrenamt: Gerade dort, wo Fachkräfte fehlen (Kitas, Pflegeheime, Vereine, Nachbarschaftshilfe).
- Signalcharakter: Ein „Generationenvertrag“ in neuer Form, also das Prinzip: Junge finanzieren die Renten – und Ältere geben durch Engagement etwas zurück.
Kurz: Es war ein sozialpolitischer Appell mit ökonomischem Unterton, weniger ein fiskalischer Sparplan.
Bringt das dem Staat finanzielle Vorteile?
- Direkt: Nein, weil es sich nicht um Einsparungen im klassischen Sinn handelt (z. B. geringere Rentenzahlungen oder niedrigere Sozialausgaben). Rentner würden ihre Rente ja weiter erhalten.
- Indirekt: Ja, weil unbezahlte Arbeit von Rentnern staatliche Ausgaben in Bereichen wie Pflege oder sozialer Infrastruktur teilweise ersetzen könnte. Man könnte also von einer Art „implizitem Sparvolumen“ sprechen.
Wie hoch wären mögliche Einsparungen?
Das ist schwer zu beziffern, aber man kann grob schätzen:
- In Deutschland gibt es ca. 21 Millionen Rentnerinnen und Rentner.
- Nähme man auch nur 20 % davon für ein verpflichtendes soziales Jahr (also ca. 4 Mio. Menschen), entspräche das – selbst bei Teilzeiteinsätzen – Milliarden Euro an Arbeitswert, wenn man es mit Mindestlohn oder Fachkräftegehältern gegenrechnet.
- Beispiel: 4 Mio. Menschen × 20 Wochenstunden × 12 Monate × 12 € Mindestlohn ≈ 46 Mrd. Euro Arbeitswert pro Jahr. Natürlich wäre das rein theoretisch, weil man niemanden bezahlen würde – aber das ist genau der Punkt, warum es als „Ersatz für staatliche Ausgaben“ interpretiert werden kann.
Was würde die Maßnahme bringen?
Gefahr, dass staatliche Strukturen noch stärker auf billige Ehrenamtler setzen, statt Fachkräfte auszubilden oder zu bezahlenn content
Potenzielle Vorteile:
Entlastung von Sozialsystemen und Fachkräften
mehr Begegnungen zwischen Generationen
stärkere Einbindung älterer Menschen ins gesellschaftliche Leben
Probleme/Kritik:
massive Eingriffe in die persönliche Freiheit Älterer („Zwangsdienst“ nach einem langen Arbeitsleben)
real kaum durchsetzbar (logistisch und politisch)
Grimm, Fratzscher und der deutsche Reformstau
Man erkennt ein Muster: Wissenschaftler, die Reformvorschläge machen, riskieren heute vor allem Empörung. Ob es Fratzschers Generationenvertrag für Rentner war oder Monika Grimms Forderung nach Lockerung des Kündigungsschutzes und moderaterem Mindestlohn – jeder Ansatz wird reflexhaft abgewehrt.
Fratzscher wollte Generationengerechtigkeit, konnte aber nicht erklären, wie sein Modell praktisch wirken würde. Grimm wollte mehr Flexibilität für Unternehmen und setzte auf die Hoffnung, dass so die wirtschaftliche Misere beendet werden könnte. Ihre Gegner hingegen scheinen nur ein Ziel zu haben: dass alles weiterläuft wie bisher. Doch die Rechnung ohne die Wirtschaft geht selten auf.
Was, wenn die Arbeitslosigkeit steigt?
Unternehmen kündigen weiteren Stellenabbau an. Wir haben 3 Mio. Arbeitslose, die höchste Zahl seit 10 Jahren! Die konjunkturelle Lage bleibt schwach, aber die strukturellen Defizite sind viel gravierender. Dazu zähle ich persönlich auch das Mindset unserer Bevölkerung. Es gibt keinerlei Hinweise, dass sich die Situation von selbst bessern wird. Ohne Reformen bleibt die Lage verfahren.
Doch die große Koalition aus SPD und CDU/CSU wird sich im Herbst kaum zu echten Reformen durchringen. Über Reformen wird zwar ständig gesprochen, aber sobald es konkret wird, beginnt der Streit.
Deutschland kennt die Muster: Lobbygruppen, Gewerkschaften, politische Gräben, wissenschaftliche Profilierungssucht – ein Cocktail, den wir seit fünfzig Jahren beobachten. Nur: Heute geht es nicht mehr um einen „Klassenfeind“. Der Gegner ist die eigene Trägheit.
Und deshalb werden wir uns schwerlich auf die richtigen Reformen einigen. Stattdessen gaukeln wir uns vor, weitermachen zu können wie immer. Ein gefährlicher Selbstbetrug. Außerdem scheint die letzte Patrone, wie Söder meinte, schon den Lauf verlassen haben. Zuversicht ist fehl am Platze.
Genauso „reflexhaft“ werden Vorschläge der SPD, Grünen und Linken, die Steuern für Superreiche und die Erbschaftssteuer zu erhöhen, zurückgewiesen. Gestern Dobrindt bei Miosga: „Wir wollen Deutschland nach vorne bringen, Steuererhöhungen kommen da nicht vor.“ Da war sogar der stockkonservative Robin Alexander von der „Welt“ differenzierter und zeigte einen Weg auf, wie man sich einigen könnte.
Dobrindt war ansonsten nicht schlecht: Zeigte er doch nachvollziehbar auf, dass sowohl Merz als auch Klingbeil zum einen „ihre Parteibasis mitnehmen“ müssen, während sie zum anderen in der Koalition regieren und Kompromisse finden müssen. Und er forderte ein, bzw. stellte sogar in Aussicht, dass die ungleichen Partner in Zukunft mehr „die Zwänge des Gegenübers (Parteibasis) mitdenken müssten. Manche auf Streit gerichteten Fragen von Miosga hat er gut pariert, etwa nach seinem unterschiedlichen Ton in der Opposition verglichen mit jetzt. Dennoch titelt die Süddeutsch „Die zwei Gesichter des Herrn Dobrindt“ – als wäre das wirklich etwas Skandalöses.
Überhaupt geht mir das Skandalisieren völlig nachvollziehbarer Vorgänge gehörig auf die Nerven! Alle Medien wetteifern darum, möglichst jeden Dissens und jede öffentliche Auseinandersetzung zum großen Streit und Untergangsszenario der Koalition aufzubauschen. Sollte das mal wirklich eintreten, werden sie daran großen Anteil gehabt haben!
Was stellen die sich eigentlich als Optimum vor? Ruhe im Karton, Schweigen der jeweiligen Parteibasis und ihrer Funktionäre zu allem, was Regierende verlautbaren? Im Gleichschritt Marsch? Sooooo deutsch!
@ClaudiaBerlin: Mir fehlt die Vorstellungskraft, wie diese viel zu alte Gesellschaft die zweifelsohne nötigen Veränderungen (Reformen auf staatlicher Ebene) erreichen könnte. Eben erst las ich Stefan Sasse. Er bringt das Dilemma auf den Punkt. So ist das wohl
Wir sind so unbeweglich und haben ein Unverständnis dafür entwickelt, dass gar nichts so bleiben kann, wie es ist, wenn wir so krass gegen Veränderung agitieren.
Ich muss zugeben, Dobrindt hat mich gestern ebenfalls überrascht. Das passte so gar nicht zu meinen Eindrücken, die ich von ihm aus früheren Zeiten hatte. Ich habe zuletzt häufiger über ihn gelesen, er sei einer der klügsten Köpfe. Nun, ich habs Gesicht verzogen und mir meinen Teil gedacht. Da zeigt sich wieder, wie stark Indoktrination wirkt. Wir können uns über die Leistungsfähigkeit unserer Politiker kaum ein rundes Bild machen, üben aber an allem und jedem die härteste Kritik. Bis irgendwann keiner mehr Bock hat, sich politisch zu engagieren. Die Sorge muss man haben.
Du hast schon recht. Wie wünschen wir uns über gesellschaftliche Veränderungen auseinanderzusetzen, wenn nicht engagiert, hart und eben manchmal auch laut? Dass das vielen (mich eingeschlossen) nicht gefällt, gehört wohl auch dazu.
@ClaudiaBerlin: Ich vergass, dich zu fragen: Wie fandest du Frau Dröge in dieser Diskussion?
@Horst Schulte: langweilig, vorhersehbar, dröge! Aber halt auch verständlich im Sinne, wie Politiker/innen in Funktionen agieren: Als Opposition der Regierung ihre Fehler und ihr Versagen werfen, auch wenn die Themen längs durch sind und man doch eigentlich „nach vorne schauen“ müsste.
Zu deiner Hauptanwort und dem Link: es sind wie gesagt nicht allein Linke und Grüne, die sich echten Reformen verschließen. Der Sozialstaat inkl. des Steuerstaats muss AUSGEWOGEN reformiert werden! Dabei ist m.E. auch eine Menge durch Vereinfachungen, Zusammenlegungen, Bürokratieabbau und Digitalisierung einzusparen, nicht allein durch Streichung/Minderung von Leistungen, aber auch. Ich find jetzt die Quelle nicht, hab aber mal gelesen, dass eine Familie mit 2 unterschiedlich alten Kindern und einem pflegebedürftigen Angehörigen über 400 Leistungen beantragen könnten… wobei das eigene „Einkommen“ häufig jeweils anders berechnet wird.
Ich bin ja gespannt, wie die „Lücke“ von 30 Milliarden im Haushalt 2027 planerisch geschlossen werden wird. Mit kommt allein schon das Vorhaben, das zum jetzigen Zeitpunkt planen zu wollen, zu sollen, zu müssen recht vermessen vor angesichts all der Veränderungen, die auf uns zu kommen.
@ClaudiaBerlin: Ich bin da neutraler. Auch als meine Frau. Die mag Frau Dröger überhaupt nicht. Wohl aus den Gründen, die auch du genannt hast. ❤️
Die Intransparenz kommt mir bei vielen Diskussionen über den Sozialstaat zu kurz. Das Bürgergeld beträgt 563 EUR. Wahrlich nicht viel. Aber welche Leistungen kommen hinzu und was kommt alles hinzu? Das Ganze ist so zerklüftet, dass eine faire Betrachtung der Gesamtleistungen fast unmöglich geworden ist. Es ist angekündigt, das zu ändern. Wenn man jedoch dieses Gewirr auseinandernimmt, werden wohl viele Nachteile haben und schlechter dastehen. Das wiederum könnten dann erfahrungsgemäß diejenigen sein, die schon jetzt am schlechtesten aufgestellt sind.